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Das inkrementelle Scheitern der G20 in Cannes

Artikel-Nr.: DE20111107-Art.57-2011

Das inkrementelle Scheitern der G20 in Cannes

Magere Ergebnisse - ungewisse Perspektiven

Web-Langfassung – Da sind sich wieder einmal alle einig: Das war ein Gipfel der Enttäuschungen, der verpassten Chancen und letztlich des Scheiterns. Dabei ist das Versagen nicht einmal darauf zurückzuführen, dass die erneute Zuspitzung der Eurokrise die eigentliche Agenda in den Hintergrund gedrängt hätte. Auch ohne Eurokrise wären die Ergebnisse des G20-Gipfels kaum besser ausgefallen. Es ist ein inkrementelles Scheitern – Schritt für Schritt, schreibt Rainer Falk in einer ausführlichen Auswertung von Cannes.

Gewiss – es war ein Novum, dass Europa so sehr ins Zentrum dieses „ersten Forums unserer internationalen wirtschaftspolitischen Koordinierung“ (so die G20 in Pittsburgh über sich selbst) gerückt ist. Richtig ist auch, dass dieses Europa eher eine Belastung als eine Inspirationsquelle für diese G20 ist, die sich ihrerseits als „eine aufgeblasene Variante der nutzlosen G8“ erweist, so ein Schweizer Ökonom in der letzten Woche. Das offizielle Motto der Tagung forderte „neue Ideen für eine neue Welt“ („Nouveau monde – nouvelles idées“). Doch beherrschend waren die alten Querelen und das alte Schneckentempo, in dem sich – wenn überhaupt – Veränderungen Bahn brechen.

* Was aus der neuen internationalen Währungsordnung wurde

Beginnen wir mit dem ehrgeizigsten Ziel, das die französische Präsidentschaft auf die Tagesordnung gesetzt hatte, der Reform des internationalen Währungssystems. Wer bislang an eine neue Währungsordnung dachte, dem kam als erstes ein neuer Wechselkursmechanismus in den Sinn, um das Chaos der Währungsmärkte nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und die damit einher gehende Volatilität der Wechselkurse zu beenden. Die Modelle reichen hier von einem System mehr oder weniger gemanagter flexibler Kurse bis hin zu einer Rückkehr zu einem Modell fester, aber anpassungsfähiger Austauschverhältnisse.

Nichts von alledem findet sich in den voluminösen ???042ae69f8b0ea9102???. Unter der Rubrik „Reform des internationalen Währungssystems“ firmieren jetzt lediglich noch drei Punkte: die Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber volatilen Kapitalflüssen, die Einbeziehung neuer Währungen in den Korb der Sonderziehungsrechte beim IWF und die Stärkung der Surveillance- und Reaktionskapazität des IWF selbst:

* Der erste Punkt bezieht sich auf einen Referenzrahmen zum besseren Management der Kapitalflüsse, wobei anerkannt wird, dass solche Maßnahmen des Monitorings und der Intervention, darunter Kapitalverkehrsregulierungen und –kontrollen, im Falle besonders hoher Kapitalvolatilität (wie jüngst in diversen Schwellenländern) legitim sein können. Sie müssen jedoch mit einer „vernünftigen Wirtschaftspolitik“ einher gehen und dürfen nicht eingesetzt werden, um notwendige Anpassungsmaßnahmen hinauszuschieben.

* Bis 2015 sollen neue Währungen in den SZR-Korb aufgenommen werden, wobei in erster Linie an den chinesischen Yuan gedacht wird, damit dieser besser das sich wandelnde Gewicht der verschiedenen Währungen widerspiegelt. Allerdings müssen im IWF erst noch die Zugangskriterien für neue Währungen geklärt werden, also die Frage, welcher Grad an Konvertibilität gegeben sein muss.

* Schließlich geht es um die künftige Rolle des IWF bei der Bekämpfung von Finanzkrisen. Dazu zählt die Stärkung der globalen finanziellen Sicherheitsnetze. Grünes Licht gaben die G20 für eine neue „Precautionary and Liquidity Line“ (PLL) und die Schaffung einer IWF-Notfall-Fazilität, die bei Naturkatastrophen oder in politischen Umbrüchen (z.B. Arabischer Frühling) genutzt werden kann. Dazu kommen die Stärkung der Surveillance-Funktionen des Fonds auch in multilateraler Hinsicht und natürlich die Sicherung der finanziellen Ressourcen des IWF.

* Der IWF erneut als Sieger

Von all diesen Punkten ist vielleicht der wichtigste, dass in Cannes eine weitere Stärkung der finanziellen „Feuerkraft“ des IWF auf den Weg gebracht wurde, zwar nicht in Form einer konkreten Zahl, aber in Form einer nach oben gleichsam unbegrenzten Finanzgarantie der G20 für den IWF, so dass sich sagen lässt: Zwischen der Dominanz der Eurokrise und der entgleisten französischen Agenda erweist sich wieder einmal der IWF als der lachende Dritte. Sichtlich gut gelaunt erläuterte jedenfalls IWF-Chefin Christine Lagarde auf dem Gipfel, dass die G20 künftig für unbegrenzte finanzielle Ressourcen des Fonds gerade stehen werde, damit dieser seine „systemischen Aufgaben“ wahrnehmen könne, „whatever it costs“. Sie bezog sich dabei auf die folgende Passage im Gipfel-Kommuniqué:

„Wir werden sicherstellen, dass der IWF auch in Zukunft über die Ressourcen verfügen wird, um seine systemische Rolle zum Vorteil seiner gesamten Mitgliedschaft zu spielen, aufbauend auf den substanziellen Ressourcen, die wir bereits seit London 2009 mobilisiert haben. Wir stehen bereit, um sicherzustellen, dass zusätzliche Ressourcen rechtzeitig mobilisiert werden können und beauftragen unsere Finanzminister, bis zu ihrem nächsten Treffen eine Reihe verschiedener Aufbringungsoptionen auszuarbeiten, darunter bilaterale Beiträge zum IWF, Sonderziehungsrechte und freiwillige Beiträge zu einer IWF-Sonderstruktur, etwa ein Sonderkonto.“

Die Details müssen also noch ausgehandelt werden, aber die Weichen scheinen gestellt (s.w.u).

* Aufwertung des Rats für Finanzstabilität

Neben dem IWF schiebt sich mit Cannes der in Basel ansässige Rat für Finanzstabilität (FSB) weiter in den Vordergrund der internationalen Finanzarchitektur. Nach der Erweiterung um die Schwellenländer und der Aufwertung vom Forum zum Rat strebt die G20 jetzt die weitere Stärkung des FSB an: Er soll eine Rechtsform und größere finanzielle Unabhängigkeit erhalten, durch die Einbeziehung weiterer Länder (aus Afrika und dem Nahen Osten) und Institutionen repräsentativer werden, und seine Rolle als Koordinationsorgan für die Regulierung der Finanzmärkte und beim „international standard setting“ soll gestärkt werden. Erstmals wurde in Cannes dem FSB die Rolle eines „Vorläufers einer Internationalen Finanzorganisation“ zugebilligt.

Die Aufsichtsrolle des FSB bei der Umsetzung von G20-Entscheidungen ist nicht zu unterschätzen. Immerhin wissen wir durch seine einschlägigen Berichte, dass die bisherigen Beschlüsse der G20 zur Regulierung des Handels mit (außerbörslichen) Over-the-counter-Derivaten und zur Zähmung der Schattenbanken in nur wenigen Fällen wirklich vorangekommen sind und in anderen noch gar nicht begonnen haben. Der Gipfel konnte hier eigentlich nur versichern, die Umsetzung so zu beschleunigen, dass die einschlägigen Reformen tatsächlich wie geplant bis Ende 2012 abgeschlossen sein werden.

Für den G20-Gipfel hat der FSB erstmals eine Liste der 29 systemrelevanten internationalen Banken (SIFIs) vorbereitet, die dann auch veröffentlicht wurde (s. Box). Das sind jene Banken, die über die in Basel III geforderten 9% hinaus Kapitalpolster hinterlegen müssen, um im Falle des Zusammenbruchs nicht erneut die SteuerzahlerInnen in großem Stil belasten zu müssen. Vielleicht ist dies eine der wenigen harten ökonomischen Entscheidungen des Cannes-Gipfels; aber die Engführung des Denkens in der Too-big-to-fail-Problematik ist damit natürlich nicht überwunden.

Box 1: Die Liste der systemrelevanten Banken

Bank of America, Bank of China, Bank of New York Mellon, Banque Populaire CdE, Barclays, BNP Paribas, Citigroup, Commerzbank, Credit Suisse, Deutsche Bank, Dexia, Goldman Sachs, Group Crédit Agricole, HSBC, ING Bank, JP Morgan Chase, Lloyds Banking Group, Mitsubishi UFJ FG, Mizuho FG, Morgan Stanley, Nordea, Royal Bank of Scotland, Santander, Société Générale, State Street, Sumitomo Mitsui FG, UBS, Unicredit Group, Wells Fargo

Quelle: FSB

* Entwicklung: Zwischen Tonnenideologie und innovativer Finanzierung

An der Schnittstelle zwischen Finanzmarktregulierung und Entwicklung und Klimaschutz ist die Debatte um innovative Finanzierungsquellen angesiedelt, die in Cannes durch den Bill-Gates-Bericht, den die französische Präsidentschaft in Auftrag gegeben hatte, einen gewissen Schub bekommen hat. Die Finanztransaktionssteuer (FTT) wird als Instrument zur Beteiligung des Finanzsektors an der Finanzierung der Krise gesehen und zugleich als innovatives Instrument zur Aufbringung neuer Finanzmittel zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung.

Der Gates-Report hat sich erfreulich klar für die Einführung und Machbarkeit der FTT ausgesprochen, zugleich aber noch weitere innovative Finanzierungsinstrumente in die Debatte geworfen: etwa eine Besteuerung des Schiff- und Luftverkehrs oder eine Tabak-Solidaritätssteuer. Und er hat – wie die französische Präsidentschaft – überraschend deutlich dafür plädiert, dass die neu aufgebrachten Finanzmittel für Zwecke der Entwicklung und des Klimaschutzes verwendet werden müssen und nicht etwa in der Finanzierung des Managements der Eurokrise verschwinden dürfen. Positiv in dieser Richtung ist auch, dass sich in Cannes mit Argentinien, Brasilien, Südafrika, der Afrikanischen Union (AU), Äthiopien und dem UN-Generalsekretär weitere außereuropäische Kräfte der „Tobin-Front“ angeschlossen haben und US-Präsident Obama zumindest stärker darüber nachdenken will. Es bleibt freilich unbefriedigend, dass von 20 G20-Staaten immer noch lediglich sechs (Frankreich, Deutschland, Spanien, Südafrika, Argentinien und Brasilien) definitiv für die Steuer eintreten.

Ebenso unbefriedigend ist auch, dass das Entwicklungsthema strategisch innerhalb der G20 vor allem als Infrastrukturentwicklung in Entwicklungsländern abgehandelt wird. So beschloss der Gipfel, elf Großprojekte in Subsahara-Afrika, der Mittelmeerregion, in Asien und Lateinamerika voranzutreiben. Nicht dass nicht einzusehen wäre, dass es großen Nachholbedarf bei der Infrastrukturentwicklung in diesen Ländern gäbe. Aber auch in Cannes hat es die G20 nicht geschafft, die wirtschafts- und entwicklungsstrategischen Erfahrungen ihrer erfolgreichen Schwellenländer so zu verallgemeinern, dass mehr als Pilotprojekte möglich wären.

Ähnliches gilt auch für den Kampf gegen Steueroasen, den sich die G20 einmal prominent auf die Fahnen geschrieben hatte. In Cannes musste sie eingestehen, dass immer noch elf Jurisdiktionen (s. Box) nicht den Forderungen des OECD-Standards genügen. Und dieser Standard sieht ja bekanntlich lediglich den Informationsaustausch auf Anfrage vor, bei dem die Rechercheure schon genau wissen müssen, wonach sie eigentlich suchen.

Box 2: Liste der laut OECD noch existierenden Steueroasen

Antigua und Barbuda, Barbados, Botswana, Brunei, Panama, Seychellen, Trinidad und Tobago, Uruguay, Vanuatu sowie die Schweiz und Lichtenstein

Quelle: Global Forum in Tax Transparency

Unbefriedigend sind auch die Ergebnisse, die der Cannes-Gipfel im Kampf gegen die Preisinstabilität bei Lebensmitteln und für mehr Transparenz auf den Rohstoffmärkten verzeichnet hat. Zwar gibt es jetzt einige Instrumente, die die Markttransparenz verbessern könnten, etwa das „Agriculture Market Information System“ (AMIS). Über die wichtige Frage der Festlegung von Positionslimits beim Rohstoffhandel wurde in der G20 zwar diskutiert, doch die Zuständigkeit dafür an die jeweiligen nationalen Aufsichtsgremien weiter gereicht. Dergleichen gilt auch für das Verbot besonders gefährlicher Spekulationsformen. Der Beitrag der G20 zur Schließung des globalen Kasinos lässt somit weiter auch sich warten.

* Erfolg für Wachstum und Beschäftigung?

Einiges an medialem Spektakel wurde um den in Cannes beschlossenen Aktionsplan für Wachstum und Beschäftigung gemacht. So lobte der internationale Dachverband der Gewerkschaften (ITUC), dass die G20 in Cannes die Bedeutung der globalen Beschäftigungskrise und ihrer Behebung entdeckt hätten. Und der französische Präsident Sarkozy stellte in seiner abschließenden Pressekonferenz heraus, dass die G20 eine differenzierte, auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Überschuss- und Defizitländer abgestimmte Konjunkturpolitik beschlossen hätten.

Doch bei genauerem Hinsehen variiert dieser Aktionsplan lediglich – vielleicht in etwas detaillierterer Form – die früheren Beschlüsse der G20, etwa das „Framework for Balanced and Sustainable Growth“ aus Pittsburgh und Toronto. Die Crux dieser Programme liegt im intentionalen Charakter der G20-Beschlüsse, die immer nur festlegen können, wohin die Reise gehen soll. Geht es dabei ans Eingemachte, etwa die Infragestellung des Exportmodells Deutschland, machen die meisten Mitgliedsregierungen hernach, was sie im nationalen Interesse selbst für richtig halten.

Immerhin ist in Cannes erstmals die soziale Dimension und Regulierung der Globalisierung dauerhaft auf die Agenda der G20 gehoben worden. Unter dieser Maßgabe wird es im nächsten Jahr unter der mexikanischen Präsidentschaft erneut ein Treffen der G20-Arbeitsminister geben; zusätzlich wurde eine Employment-Task-Force ins Leben gerufen, die internationale Finanzorganisationen und ILO sowie OECD zusammenbringen soll. Dabei geht es um durchaus wichtige Dinge: So soll das Beschäftigungsproblem stärker ins Zentrum der Wirtschaftspolitik gerückt werden. Gleichzeitig sollen in den G20-Ländern „Sockel sozialer Sicherung“ („Social protection floors“) geschaffen werden (den nationalen Bedingungen angepasst allerdings), und die effektive Umsetzung sozialer und gewerkschaftlicher Rechte soll gefördert werden. Letzteres ist etwas, worüber so manches Schwellenland im Süden bislang nicht so gerne mit sich reden ließ.

* Post-Cannes-Perspektiven

Wie geht es jetzt weiter nach Cannes? Die lange Liste von Einzelbeschlüssen des Cannes-Gipfels darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um inkrementelle Fortschritte handelt – Fortschritte in Trippelschritten, die immer aber auch inkrementelles Scheitern widerspiegeln, wenn die Herausforderungen eigentlich so etwas wie einen „großen Wurf“ erfordern. Dieser aber ist im Rahmen der G20 mehr und mehr verloren gegangen, seit der Ruf nach einem „neuen Bretton Woods“, der noch beim Londoner G20-Gipfel unüberhörbar war, im Business as Usual versunken ist. In Cannes ist auch der zweite Anlauf, der G20 mit dem Ruf nach einer neuen internationalen Währungsordnung eine weitreichendere Perspektive zu verschaffen, gescheitert. Dass die mexikanische Präsidentschaft im nächsten Jahr ein vergleichbar visionäres Projekt aus dem Hut zaubern wird, ist kaum vorstellbar.

Was bleibt ist die Klein-Klein-Perspektive eines permanenten Krisenmanagements, das von den Kapitalmärkten vor sich her getrieben wird. So vermeldet die Financial Times heute, am 7. November, drei Tage nach dem Gipfel, dass sich die G20-Finanzminister möglicherweise schon im November noch einmal treffen wollen, um einen Kompromiss zur Entscheidungsreife zu bringen, der in Cannes nur am deutschen Veto, genauer: am Veto der Deutschen Bundesbank, gescheitert ist: Es geht um zusätzliche Finanzmittel für den IWF, um die erneute Aufstockung der Sonderziehungsrechte um weitere 250 Mrd. Dollar und um ein „Pooling“ der europäischen SZR, damit eine Brandmauer gegen die europäischen Ansteckungsgefahren errichtet werden kann.

Aber das wird nicht reichen. Die Schaffung der G20 und die Expansion des IWF waren die pragmatische Antwort auf die globale Finanzkrise. Worum es jetzt gehen müsste, wären grundlegende Reformen am System, mit einem neuen institutionellen Rahmen für die Weltwirtschaft, mit neuen Regeln für die globalen Märkte und mit einer Rückgewinnung des Primats der Politik gegenüber der finanziellen Globalisierung.

Veröffentlicht: 7.11.2011

Empfohlene Zitierweise: Rainer Falk, Das inkrementelle Scheitern der G20 in Cannes, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 7.11.2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)