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Das lange Ende der Doha-Entwicklungsrunde

Artikel-Nr.: DE20110508-Art.27-2011

Das lange Ende der Doha-Entwicklungsrunde

Zwischen Siechtum und Plan B

Vorab im Web - Der letzte Countdown hätte es werden sollen. Doch auch der jüngste Versuch, die seit Jahren festgefahrene Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) zum Abschluss zu bringen, ist gescheitert. Ein Abbruch ohne Ergebnis wird nun immer wahrscheinlicher. Welche Rolle nach dem Scheitern der Doha-Runde für die WTO selbst bleibt, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt aber nur schwer abschätzen, meint Tobias Reichert.

Ende letzten Jahres glaubten die Regierungen der führenden Mitgliedsstaaten der WTO, eine neue Chance für den Abschluss der seit 2008 auf Eis liegenden Doha-Runde erkannt zu haben. Ein anderer Grund als der 2012 anstehende Präsidentschaftswahlkampf in den USA, der eine Einigung praktisch unmöglich machen würde, war schon damals kaum zu erkennen. Seit Anfang des Jahres wurden die Verhandlungen intensiviert, und vor Ostern sollten die Vorsitzenden der Verhandlungsgruppen die Fortschritte in neuen Abkommensentwürfen festschreiben. Auf dieser Grundlage sollte vor der Sommerpause eine Einigung über die wichtigsten Streitfragen erfolgen, die dann Ende des Jahres zum formellen Abschluss führen sollte.

* Streit um Industriezölle als Auslöser

Dieser Plan ist schon an der ersten Hürde gescheitert - in den drei wichtigsten Verhandlungsfeldern, dem Marktzugang für Industriegüter (im WTO-Jargon: NAMA für Non-agricultural market access), Dienstleistungen und Landwirtschaft, gab es keine Annäherung, so dass die Vorsitzenden der Verhandlungsgruppen nur über die bestehenden Konflikte berichteten und im Anhang die Entwürfe von 2008 verteilten. Vor Ostern hatte sich WTO-Generaldirektor Pascal Lamy persönlich in die Verhandlungen eingeschaltet, um die Kompromissbereitschaft auszuloten und anzuregen. Am Ende konnte er nur feststellen, dass die Differenzen vor allem bei Industriegütern derzeit nicht überbrückt werden können.

Gemäß dem Mandat der Doha-Runde und den während der Verhandlungen erzielten Zwischenergebnissen sollen die Zölle für Industriegüter nach einer sog. "Schweizer Formel" reduziert werden. Sie führt dazu, dass hohe Zölle stärker sinken als bereits niedrige und praktisch eine Höchstgrenze für alle Zollsätze eingeführt wird. Fast alle kleineren Entwicklungsländer konnten im Laufe der Runde unterschiedliche Ausnahmeregelungen heraushandeln, die zu einer deutlich moderateren Marktöffnung führen würden.

Voll von der Zollsenkungsformel betroffen wären neben den Industrie- nur etwa 20 größere Entwicklungs- und Schwellenländer, wie China, Indien, Brasilien, Südafrika, Argentinien und Indonesien. Sie würde dort für die meisten Produkte eine zulässige Obergrenze für Zölle von weniger als 20% bedeuten. Heute liegt diese "gebundene" Obergrenze bei den meisten dieser Länder oft noch zwischen 80 und 100%. Die meisten Schwellenländer nutzen diesen Spielraum bei weitem nicht aus, sondern wenden nur Zölle zwischen 5 und 20% an. Sie müssten daher ihre tatsächlich angewandten Zölle für viele Produkte nicht oder nur wenig senken - könnten sie aber nicht mehr anheben.

* Schwellenländer widerstehen dem Druck

Der EU und vor allem den USA reicht dies nicht aus. Sie sehen Länder wie China, Indien und Brasilien als direkte Konkurrenten, auf die die Rhetorik der "Entwicklungsagenda" nicht mehr anzuwenden sei. Sie müssten einen "echten" Beitrag zur globalen Handelsliberalisierung leisten. Dass die Durchschnittseinkommen dort noch deutlich niedriger liegen als in Industrieländern und hunderte Millionen Menschen in Armut leben, spielt bei diesen Überlegungen keine Rolle.

Die Industriestaaten befürchten zudem ein Ungleichgewicht in zukünftigen bi- oder multilateralen Verhandlungen. Sie selbst müssten ihre ohnehin schon niedrigen Zölle für die meisten Industriegüter als Ergebnis der Schweizer Formel auf weniger als 3% senken. Damit hätten sie kaum noch Verhandlungsmasse, um den Entwicklungs- und Schwellenländern später weitere Zollsenkungen abzuhandeln.

Hier kommen die ebenfalls im Doha-Mandat vorgesehenen Initiativen ins Spiel, nach denen in bestimmten Sektoren die Zölle noch stärker gesenkt werden sollten. Die Beteiligung daran sollte allerdings freiwillig sein. Die USA machen es aber zur Bedingung für einen Abschluss der Runde, dass die großen Schwellenländer sich an sektoralen Initiativen beteiligen. Diese betonen dagegen, dass freiwillige Initiativen eben das sein sollten: freiwillig - und damit eben nicht Voraussetzung für eine Einigung.

Auch der noch nach Ostern präsentierte neue Vorschlag der EU für die sektorale Marktöffnung stieß auf wenig Gegenliebe. Danach sollten sich die großen Entwicklungs- und Schwellenländer ebenso wie die Industriestaaten dazu verpflichten, ihre Zölle auf Maschinen, Chemikalien und Elektronik besonders stark zu senken oder ganz abzuschaffen. China wies sofort darauf hin, dass der Vorschlag keinen Kompromiss, sondern nur eine Variation alter EU-Forderungen darstelle. Der US-amerikanische Botschafter Punke stimmt mit Lamy überein, dass es beim Marktzugang für Industriegüter "nicht zu überbrückende politische Differenzen" gebe. Allerdings seien die Gegensätze bei Landwirtschaft und Dienstleistungen genauso groß.

* Noch kein Plan B in Sicht

Angesichts dieser Situation fordert Lamy die WTO-Mitglieder auf, scharf darüber nachzudenken, ob sie die Ergebnisse zehnjähriger Verhandlungen "wegwerfen" wollten. Ein Scheitern der Runde verhindere nicht nur die angestrebten Liberalisierungsschritte, sondern könne langfristig auch die WTO insgesamt schwächen, da sich die politische Aufmerksamkeit von der WTO ab und bilateralen und regionalen Handelsabkommen zuwenden werde. Damit drohe, so Lamy, der Multilateralismus zu erodieren und sich stattdessen das "Gesetz des Dschungels" auszubreiten.

Ähnlich argumentieren Ökonomen wie der Freihandelsguru Jagdish Bhagwati und Lamys Vorgänger Peter Sutherland. Die Financial Times findet dagegen, dass die Doha-Runde mittlerweile eine Belastung für die WTO darstelle. Sie müsse notfalls auch ohne Ergebnis beendet, und die Welthandelsregeln punktuell weiter entwickelt werden, statt mit themenübergreifenden Runden. Im Verhandlungsausschuss der WTO vertrat der brasilianische Botschafter Azevedo eine ähnliche Auffassung: Die Chancen auf eine Einigung in der Runde seien "deprimierend gering", ein Scheitern würde der WTO insgesamt aber keinen ernsthaften Schaden zufügen.

Unter den WTO-Mitgliedern gibt es noch keine offene Diskussion darüber, wie mit dem nun wohl unvermeidlichen Scheitern der Doha-Runde umzugehen ist. Hinter den Kulissen wird über einen Plan B nachgedacht - also einen Abschluss, der zwar die "großen Themen", wie Industriezölle, Landwirtschaft und Dienstleistungen ausspart, aber zumindest einige Regelwerke aktualisiert und verbessert. Als Beispiel werden häufig prozessuale Anpassungen im Streitschlichtungsverfahren und ein neues Abkommen zu administrativen Handelserleichterungen genannt. Einige Verhandler befürchten allerdings, dass es mindestens so schwierig würde zu entscheiden, welche Teile "gerettet" werden können und sollen, wie das ganze Paket zu verabschieden.

Ob die WTO weiterhin eine bedeutende Rolle in der (De-) Regulierung der Weltwirtschaft spielen wird, ist z.Zt. noch nicht absehbar. Ihr Einfluss wird, wenn überhaupt, nur schleichend zurückgehen, zumal derzeit auch keine bilateralen Handelsabkommen zwischen großen Wirtschaftsblöcken unterschriftsreif sind. Sie könnte zumindest ein wichtiges Forum der Auseinandersetzung zwischen Industrie- und Schwellenländern bleiben, wenn erstere lernen, mit dem Machzuwachs letzterer umzugehen. Dass sie zu einer Institution wird, die ökologisch und entwicklungspolitisch notwendige Regulierungen des Handels befördert statt behindert, scheint derzeit leider so wenig realistisch wie der Abschluss der Doha-Runde.

Tobias Reichert ist handelspolitischer Referent von Germanwatch.
Veröffentlicht: 8.5.2011

Empfohlene Zitierweise: Tobias Reichert, Das lange Ende der Doha-Entwicklungsrunde. Zwischen Siechtum und Plan B, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 5/Mai 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)