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Die Globalisierung des Protests

Artikel-Nr.: DE20111112-Art.58-2011

Die Globalisierung des Protests

Es stimmt etwas nicht mit dem System

Nur im Web - Die Protestbewegung, die im Januar in Tunesien begann und sich anschließend nach Ägypten und dann nach Spanien ausbreitete, hat mittlerweile globale Ausmaße erreicht. Auch in Deutschland sind die Proteste angekommen. 18.000 Menschen haben am Wochenende das Banken- und Regierungsviertel in Frankfurt und Berlin umzingelt. Dank Globalisierung und moderner Technologie können gesellschaftliche Bewegungen heute Grenzen genauso schnell überspringen wie Ideen das tun, schreibt Joseph E. Stiglitz.

Der gesellschaftliche Protest fällt überall auf fruchtbaren Boden, bedingt durch ein Gefühl, dass das „System“ gescheitert ist, und die Überzeugung, dass selbst in einer Demokratie Wahlen die Dinge nicht zum Guten wenden – zumindest nicht ohne starken Druck der Straße.

* Wir sind die 99%

Im Mai besuchte ich den Standort der tunesischen Proteste; im Juli sprach ich mit spanischen Indignados; von dort aus machte ich mich auf, um die jungen ägyptischen Revolutionäre auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu treffen; und vor ein paar Wochen sprach ich mit den Demonstranten von Occupy Wall Street (OWS) in New York. Sie alle verbindet ein gemeinsames Thema, das die OWS-Bewegung in eine eingängige Formulierung gegossen hat: „Wir sind die 99%.“

In diesem Slogan hallt der Titel eines Artikels wider, den ich vor einiger Zeit veröffentlicht habe: „Of the 1%, for the 1%, and by the 1%“. Er beschreibt die enorme Zunahme der Ungleichheit in den USA: Ein Prozent der Bevölkerung kontrollieren mehr als 40% des Vermögens und erzielen mehr als 20% des Einkommens. Und wer dieser exklusiven Schicht angehört, wird häufig nicht deshalb so reich belohnt, weil er mehr für unsere Gesellschaft getan hat – Boni und Bailouts haben diese Rechtfertigung für Ungleichheit fein säuberlich zerlegt –, sondern weil er, um es deutlich zu sagen, ein erfolgreicher (und manchmal korrupter) Coupon-Schneider ist.

Damit will ich die großen Leistungen einiger Angehöriger dieses einen Prozents nicht bestreiten. Tatsächlich übersteigen die gesellschaftlichen Vorteile vieler realer Innovationen (im Gegensatz zu neuartigen Finanzprodukten, die letztlich ein Chaos in der Weltwirtschaft angerichtet haben) in der Regel den Betrag, den ihre Innovatoren erhalten, deutlich.

Weltweit jedoch sind politischer Einfluss und wettbewerbsfeindliche Praktiken (die häufig durch die Politik am Leben erhalten werden) für die Zunahme wirtschaftlicher Ungleichheit zentral. Und Steuersysteme, in denen ein Milliardär wie Warren Buffett weniger (als Prozentsatz vom Einkommen) Steuern zahlt als seine Sekretärin, oder die Spekulanten, die mitgewirkt haben, die Weltwirtschaft in die Knie zu zwingen, niedriger besteuern als jene, die sich ihr Einkommen erarbeiten, haben den Trend verstärkt.

* Die Demonstranten haben Recht

Viele Untersuchungen haben in den letzten Jahren gezeigt, wie wichtig und tief verwurzelt Vorstellungen von Fairness sind. Die spanischen Demonstranten – und jene in anderen Ländern – sind zu Recht entrüstet: Hier ist ein System, in dem die Banker gerettet wurden, während man jene, die von ihnen ausgenutzt wurden, ihrem Schicksal überließ. Schlimmer noch: Die Banker sitzen inzwischen wieder an ihren Schreibtischen und verdienen Boni, die höher sind als das, was die meisten Arbeitnehmer hoffen können, im Laufe ihres Lebens zu verdienen, während junge Leute, die fleißig studierten und sich an die Regeln hielten, keine Aussicht auf eine befriedigende Anstellung haben.

Der Anstieg der Ungleichheit ist das Produkt eines Teufelskreises: Die reichen Coupon-Schneider nutzen ihr Vermögen, um die Gesetzgebung zu beeinflussen, so dass diese ihr Vermögen schützt und vermehrt – und damit ihren Einfluss. Der US Supreme Court hat in seiner berüchtigten Entscheidung im Fall Citizens United vs. Federal Election Commission den Großunternehmen freie Hand gegeben, ihr Geld zu nutzen, um die Ausrichtung der Politik zu beeinflussen. Doch während die Reichen ihr Geld nutzen können, um ihren Ansichten Gehör zu verschaffen, hat mir draußen auf der Straße die Polizei nicht einmal gestattet, durch ein Megafon zu den OWS-Demonstranten zu sprechen.

Dieser Kontrast zwischen überregulierter Demokratie und unregulierten Bankern blieb nicht unbemerkt. Doch die Demonstranten sind einfallsreich: Sie wiederholten, was ich sagte, innerhalb der Menge, so dass alle es hören konnten. Und um den „Dialog“ nicht durch Klatschen zu stören, verwendeten sie eindringliche Handzeichen, um ihrer Zustimmung Ausdruck zu verleihen.

Die Demonstranten haben Recht: Es stimmt etwas nicht mit unserem „System“. Überall auf der Welt haben wir nicht ausgelastete Ressourcen – arbeitswillige Menschen und Maschinen, die still und Gebäude, die leer stehen – und enorme unerfüllte Bedürfnisse: die Bekämpfung der Armut, die Förderung von Entwicklung und die Nachrüstung der Wirtschaft, um sie für die globale Erwärmung fit zu machen, um nur einige zu nennen. In Amerika haben wir nach mehr als sieben Millionen Eigenheim-Zwangsvollstreckungen in den letzten Jahren leer stehende Häuser und obdachlose Menschen.

Man hat die Demonstranten dafür kritisiert, dass sie kein Programm hätten. Aber wer dies tut, hat nicht begriffen, worum es bei Protestbewegungen geht. Sie sind Ausdruck der Frustration über den Wahlprozess. Sie sind eine Warnung.

* Einen fairere Gesellschaft

Die Proteste der Globalisierungsgegner in Seattle im Jahre 1999 gegen den Beginn einer neuen Runde von Handelsgesprächen machten auf die Versäumnisse der Globalisierung und der internationalen Organisationen und Verträge, die diese lenken, aufmerksam. Als die Presse die Vorwürfe der Demonstranten untersuchte, stellte sie fest, dass mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in ihnen steckte. Die Handelsverhandlungen, die darauf folgten, waren anders – zumindest vom Grundsatz her sollten sie eine Entwicklungsrunde sein, um einige der Mängel, die die Demonstranten aufgezeigt hatten, wiedergutzumachen –, und beim Internationalen Währungsfonds gab es in der Folge erhebliche Reformen.

Genauso war es in den 1960er Jahren, als die US-Bürgerrechtsproteste die Aufmerksamkeit auf den allgegenwärtigen institutionalisierten Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft lenkten. Diese Altlast ist noch immer nicht ganz bewältigt, doch die Wahl von Präsident Barack Obama zeigt, wie weit diese Proteste Amerika gebracht haben.

Auf der einen Ebene fordern die heutigen Demonstranten wenig: eine Chance, ihre Fertigkeiten einzusetzen, das Recht auf anständige Arbeit, die anständig bezahlt wird, eine fairere Wirtschaft und Gesellschaft. Sie hoffen auf Evolution, nicht Revolution. Doch auf einer anderen Ebene fordern sie sehr viel: eine Demokratie, in der die Menschen zählen und nicht das Geld, und eine Marktwirtschaft, die leistet, was man von ihr erwartet.

Beides ist miteinander verknüpft: Wie wir gesehen haben, führen entfesselte Märkte zu wirtschaftlichen und politischen Krisen. Die Märkte funktionieren nur dann so, wie sie es sollten, wenn sie innerhalb eines Rahmens angemessener staatlicher Regeln operieren; und dieser Rahmen lässt sich nur in einer Demokratie errichten, die das Interesse der Allgemeinheit widerspiegelt und nicht die Interessen des einen Prozents. Die beste Regierung, die man für Geld kaufen kann, ist heute nicht mehr gut genug.

Joseph E. Stiglitz ist Professor an der Columbia University, Nobelpreisträger für Ökonomie. Er ist Verfasser von Im freien Fall: Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. © Project Syndicate

Veröffentlicht: 12.11.2011

Empfohlene Zitierweise: Joseph E. Stiglitz, Die Globalisierung des Protests, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 12. November 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)