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Die nationalistische Variante des Neoliberalismus

Artikel-Nr.: DE20110103-Art.02-2011

Die nationalistische Variante des Neoliberalismus

Umstrittenes EU-Vorsitzland Ungarn

Vorab im Web - Am 1. Januar 2011 hat Ungarn turnusmäßig die Präsidentschaft der Europäischen Union (EU) übernommen. Allerdings hat es in den letzten Monaten einige Entscheidungen der Regierung Orbán gegeben, die in der EU auf deutliche Kritik gestoßen sind. Die stärkste Publizität hat das umstrittene Mediengesetz erfahren. Doch gibt es auch Konflikte um die ungarische Wirtschaftspolitik, vor allem um die Besteuerung westeuropäischer Konzerne, berichtet Joachim Becker.

Wirtschaftspolitisch präsentiert sich die Fidesz-Regierung Ungarns in mancher Beziehung wie ein neoliberaler Musterschüler. Sie führte einen einheitlichen Steuersatz von 16% bei der Einkommensteuer ein und senkte die Steuern für Klein- und Mittelbetriebe auf nur noch 10%. Hierfür würde sie normalerweise großen Beifall bekommen.

* Düpierte westliche Konzerne

Allerdings passen Steuersenkungen nicht wirklich zur prekären budgetären Situation des Landes. Am deutlichsten stoßen sich westeuropäische Konzerne jedoch an der Gegenfinanzierung der Steuersenkungen. Großunternehmen in bestimmten Branchen – Banken, Versicherungen, Telekommunikation, Energie und Handel – werden zeitweilig mit Sondersteuern belegt. Diese Steuern betreffen fast ausschließlich westeuropäische Konzerne, vor allem aus Deutschland und Österreich.

Im Fall des Bankensektors kann eine Verbindung zwischen der Steuer und den Krisenkosten hergestellt werden. Die weitgehend im westeuropäischen Eigentum befindlichen Banken hatten zur ungarischen Finanzkrise dadurch maßgeblich beigetragen, dass sie enorme Fremdwährungskredite an die Mittelschicht zwecks Hauskauf und Konsumfinanzierung vergeben hatten. Dies machte die SchuldnerInnen gegenüber einer Abwertung des Forint, zu der es gleich zu Beginn der Zuspitzung der internationalen Finanzkrise auch kam, äußerst verwundbar. Die Ungarische Zentralbank hatte diese Kreditgeschäfte nicht gebremst. Insoweit spielte auch die Regulierung eine Rolle. Dennoch lässt sich diese Maßnahme gut damit legitimieren, dass Krisenverantwortliche auch für die Krise zahlen sollen.

Außerdem hat die ungarische Regierung in das teilprivatisierte Pensionssystem eingegriffen. 1997 war eine obligatorische Privatversicherung in Ergänzung zum öffentlichen Pensionssystem eingeführt worden. 8% des Bruttolohns wurden seitdem in private Pensionsfonds kanalisiert. Für die nächsten 14 Monate sollen diese Beiträge an das staatliche System gehen. Wer im privaten System bleiben will, verliert den Anspruch auf die öffentliche Pension. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte der Staatssekretär im Ministerium für Nationale Wirtschaft, Zoltán Cséfalvay, die private Säule „verursacht mehr Kosten als Nutzen, vor allem für den Staatshaushalt und damit den Steuerzahler“. Die Beiträge für die private Säule fehlten im öffentlichen System. Zudem habe sich gezeigt, dass die privaten Rentenkassen in Krisensituationen großen Risiken ausgesetzt seien. Dies ist eine Grundsatzkritik des privatisierten Pensionssystems. Würde sie ernst genommen, würden diese Argumente eine dauerhafte Rückkehr zu einem öffentlichen System nahelegen.

* Neues strategisches Projekt

Die Budgetpolitik zeichnete sich durch ein gewisses Maß an Improvisation aus. Auch ist nicht ganz klar, welche Maßnahmen wirklich nur temporär und welche dauerhaft sein werden. Dennoch zeichnet sich mit diesen Maßnahmen ein neues strategisches Projekt in der ungarischen Politik ab, das auch in anderen Ländern Schule machen könnte: Steuererleichterungen für die obere Mittelschicht und nationale Klein- und Mittelbetriebe, die zumindest teilweise durch höhere Steuern für Transnationale Konzerne finanziert werden. Dies könnte man als eine nationalistische Variante des Neoliberalismus bezeichnen. Sie begünstigt die Wählerbasis der regierenden Fidesz-Partei. Sie könnte durch Maßnahmen zur Minderung der finanziellen Verwundbarkeit ergänzt werden. Die Änderungen im Pensionssystem und eine deutlich restriktivere Regulierung der Kreditvergabe an private Haushalte deuten in diese Richtung. Dies könnte man als eine nationalkonservative Komponente der der Fidesz-Politik bezeichnen. All dies hat eine klare gesellschaftspolitische Rationalität. Es gibt klare Gewinner und Verlierer.

Allerdings werden die Politiken nur zum Teil den angekündigten wirtschaftlichen Effekt haben. Die Steuersenkungen werden die Wirtschaft nicht, wie angekündigt, deutlich beleben. Für eine konjunkturelle Stimulierung wäre die Verbindung progressiver Einkommenssteuern mit einer Stützung für niedrige Einkommensgruppen viel wirksamer. Dies entspricht aber nicht der gesellschaftspolitischen Ausrichtung der Regierung Orbán. Eine Minderung der finanziellen Verwundbarkeit könnte allerdings tatsächlich erreicht werden.

* Offener Konflikt mit der Kommission?

Potenzielle innenpolitische Hindernisse bei der Durchsetzung dieser Politik beseitigt die Regierung Viktor Orbáns systematisch. Dem Verfassungsgerichtshof wurden die Befugnisse empfindlich beschnitten. Ein Expertengremium zur Budgetpolitik wurde aufgelöst. Entlassungen von Beamten wurden stark erleichtert. Und gegen die Medien fuhr die Regierung ein äußerst restriktives Mediengesetz auf. Das kurz vor Weihnachten verabschiedete Mediengesetz ist auch bei liberal-konservativen Regierungen in der EU auf deutliche Kritik gestoßen. Dieses ist jedoch nur ein Element in der extremen Machtzentralisierung in den Händen der Fidesz-Regierung, die sich die autoritären Praktiken der Zwischenkriegszeit zum Vorbildung zu nehmen scheint. Die Kritik der westeuropäischen Konzerne setzt bei der Steuerpolitik an. Unternehmen aus westeuropäischen EU-Ländern, wie Allianz, Rewe, und die Deutsche Telekom, forderten die Europäische Kommission auf, wegen der branchenbezogenen Sondersteuern gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Damit droht der ungarischen Regierung ein offener Konflikt mit der Kommission.

Aber die ungarische Regierung ist auch durch das hohe Maß der Fremdwährungsverschuldung der Haushalte und die hohe Auslandsschuld sehr verwundbar. Jede Abwertung des Forint bringt die ungarischen FremdwährungsschuldnerInnen in große Bedrängnis. Das ist die eigentliche Achillesferse der Regierung Orbán.

Die EU-Präsidentschaft Ungarns wird mithin absehbar durch starke Spannungen zwischen der ungarischen Regierung und Schlüsselakteuren auf der EU-Ebene gekennzeichnet sein. Dies schränkt die Handlungsspielräume der Regierung Orbán auf EU-Ebene ein, gibt ihr aber gleichzeitig die Möglichkeit, sich als strikt nationalistische Kraft zu profilieren. Innenpolitisch kann sie damit punkten.

Joachim Becker ist A.o. Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Veröffentlicht: 3.1.2011

Empfohlene Zitierweise: Joachim Becker, Die nationalistische Variante des Neoliberalismus. Umstrittenes EU-Vorsitzland Ungarn, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 3.1.2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).