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Eine industriepolitische Agenda für Afrika

Artikel-Nr.: DE20110717-W&E08-2011

Eine industriepolitische Agenda für Afrika

Keine Angst vor dem Familienkrach in der UNO!

Vorab im Web – Seit fast zehn Jahren verzeichnet Afrika hohe gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten. Internationale Investoren erkennen zunehmende Chancen, selbst die deutsche Bundeskanzlerin opferte drei Tage ihrer kostbaren Arbeitszeit, um der deutschen Wirtschaft den Rohstoffkontinent schmackhaft zu machen. Doch trotz anhaltender Expansion fällt ausgerechnet jener Bereich, der für die Entstehung von Arbeitsplätzen zentral ist, nämlich die verarbeitende Wirtschaft, immer weiter zurück, schreibt Jörg Goldberg.

Während Bergbau, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen boomen, stagniert die Industrie. Ein gemeinsamer Bericht der UN-Organisation für Industrielle Entwicklung (UNIDO) und der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) empfiehlt den Regierungen eine umfassende Industriepolitik, sieht aber die globalen Spielräume dafür schrumpfen. Ausgangspunkt des Berichts ist die weitgehend unbestrittene Feststellung, dass Entwicklung historisch immer mit strukturellem Wandel zugunsten der verarbeitenden Wirtschaft verbunden war. Nur hier können jene produktiven Arbeitsplätze entstehen, die zu einer eigenständigen und dauerhaften Überwindung von chronischer Armut unabdingbar sind: „Industrielle Entwicklung ist eine entscheidende Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum und Armutsreduzierung“ (S. 110), resümieren UNIDO und UNCTAD.

* Relative De-Industrialisierung seit 1990

Vor diesem Hintergrund ist die im ersten Teil des Berichts präsentierte Bilanz der Industrialisierung in Afrika niederschmetternd: Begünstigt durch eine – gleichwohl als verfehlt dargestellte – Importsubstitutionspolitik stieg der Anteil der verarbeitenden Industrie am Inlandsprodukt des Kontinents zwischen 1970 und 1990 deutlich von 6,3 auf 15,3%. Seither aber sinkt er ununterbrochen auf 10,5% im Jahre 2008. Der Boom der 2000er Jahre geht an der Industrie vollständig vorbei.

Besonders deprimierend ist die Situation im ehemals relativ hoch industrialisierten südlichen Afrika, wo die verarbeitende Industrie seit 1970 kontinuierlich an Bedeutung verloren hat. Nur im östlichen Afrika, wo es noch 1970 praktisch keine Industrie gegeben hatte, hat die Verarbeitung heute (2008) ein größeres Gewicht als 1970. In allen anderen Regionen, besonders stark im westlichen Afrika, vollzieht sich ein Prozess der relativen De-Industrialisierung.

Noch ungünstiger wird das Bild, wenn man sich die Struktur der afrikanischen Industrie ansieht. Die Hälfte der verarbeitenden Industrie (gemessen an der industriellen Wertschöpfung) ist „ressourcenbasiert“: Dazu gehören z.B. Raffinerien, Metallschmelzen, Holzverarbeitung, Bereiche also, die eigentlich eher zur Rohstoffwirtschaft als zur Verarbeitung zu zählen sind. Weniger als ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung – mit sinkender Tendenz – entfällt auf arbeitsintensive, technologisch weniger anspruchsvolle Sektoren. Dramatisch ist dabei der Bedeutungsverlust der ehemals wichtigen Textil- und Bekleidungsindustrien, die noch im Jahre 2000 für 11,5% der gesamten Industrie standen: Bis 2008 sank ihr Anteil auf nur noch 9%. „Im Bereich arbeitsintensiver Verarbeitungsindustrien verliert Afrika immer weiter an Boden“, konstatiert der Bericht (S. 105).

* Fehlende Ursachenanalyse

Die Autoren halten sich nicht lange damit auf, den Ursachen dieses vor allem in den 1990er und 2000er Jahren konstatierten De-Industrialisierungsprozesses nachzugehen. Noch vergleichsweise ausführlich schildern sie die unbestreitbaren Schwächen der ersten Periode der Importsubstituierung (1960er und 1970er), obwohl diese doch auch einige Erfolge vorzuweisen hatte. Die Perioden der Strukturanpassungspolitik (1980er und 1990er) und der Armutsbekämpfung/PRSP (ab 2000) dagegen werden lediglich als industriepolitisch unfruchtbar erwähnt.

Der Verzicht auf die kritische Analyse von Fehlentwicklungen scheint bei Berichten von UN-Institutionen Programm zu sein: Zu sehr müsste man dabei Brüdern und Schwestern der eigenen UN-Familie ans Schienenbein treten. Ob diese Rücksichtnahme aber wirklich sachdienlich ist, darf bezweifelt werden. Denn viele der folgenden Politikempfehlungen werden von UNCTAD und UNIDO – mit Recht – schon seit Jahrzehnten vertreten, spielen aber in der Praxis nur eine geringe Rolle. Warum sollten diese heute von Regierungen und entwicklungspolitischen Organisationen beherzigt werden?

* Industriepolitische Strategien und globale Rahmenbedingungen

Auch wenn die meisten Vorschläge nicht neu sind, bieten die Autoren in ihrem Hauptteil ein akzentuiertes Plädoyer für eine industriepolitische Agenda, was den Bericht zu einem nützlichen Dokument macht. Ausgehend von der Definition von Industriepolitik als „wirtschaftspolitische Maßnahmen von Regierungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Kompetenzen heimischer Betriebe und zur Förderung von Strukturwandel“ (34), schlagen sie die schrittweise Ausarbeitung von nationalen industriepolitischen Strategien vor, wobei sie der Einbindung des privaten Sektors und der Identifizierung von länderspezifischen industriellen Schlüsselbereichen eine zentrale Bedeutung zumessen. Bei der Umsetzung legen sie die Akzente auf Maßnahmen zur Förderung der wissenschaftlichen und technologischen Innovation, zur Verknüpfung mit anderen Bereichen der Wirtschaft, insbesondere mit dem Agrarbereich, zur Förderung einheimischen Unternehmertums und zur Verbesserung der wirtschaftspolitischen Interventionsfähigkeit.

In einem weiteren Teil untersuchen die Autoren die globalen Rahmenbedingungen, die eine nationale industriepolitische Strategie heute in Rechnung zu stellen hat. Dabei müssen sie einräumen: „Bezogen auf Afrika ist offensichtlich, dass die politischen Spielräume für nationale Industriepolitik im Zusammenhang der existierenden und absehbaren internationalen Handelsregeln schrumpfen.“ (S. 86). Angefangen bei Zollregelungen über öffentliches Beschaffungswesen bis hin zu gezielten Subventionen werden die industriepolitischen Handlungsspielräume der Regierungen immer weiter eingeschränkt. Die gezielte Förderung nationaler Industrien, Auflagen hinsichtlich lokaler Beschaffung für Multinationale Konzerne, Förderung von Exporten usw. werden zunehmend über internationale Regelungen im Rahmen von WTO und Europäischen Partnerschaftsabkommen verboten.

Obwohl die Autoren sehen, dass ihrer industriepolitischen Agenda der globale Boden unter den Füssen schwindet – „Afrika muss gegen den Markt-Strom schwimmen“ (S.92) – , beschränken sie sich darauf, die noch existierenden Spielräume, Nischen und Ausnahmeregeln darzustellen. Kritik an der globalen wirtschaftspolitischen Entmündigung speziell Afrikas findet nur zwischen den Zeilen statt, etwa wenn beklagt wird, dass „industriepolitische Instrumente, die noch heute von entwickelten und aufstrebenden Ökonomien eingesetzt werden, den nicht-industrialisierten Ländern nunmehr verboten sind.“ (S.89).

Die industriepolitische Agenda für nationale Regierungen müsste ergänzt werden durch eine internationale Agenda, die deutlich macht, wie supranationale Regelungen auszusehen haben, die die Industrialisierung Afrikas nicht nur nicht behindern, sondern aktiv fördern. Die im Titel beschworene „neue globale Umwelt“ darf nicht einfach hingenommen werden wie ein Naturereignis – sie muss aktiv gestaltet werden, sollen in Afrika die für nachhaltige Armutsminderung unabdingbaren produktiven Arbeitsplätze entstehen. Dazu muss man eben auch mal einen Familienkrach in der UN-Familie riskieren.

Hinweis:
United Nations Industrial Development Organization (UNIDO)/United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD): Economic Development in Africa, Report 2011, Fostering Industrial Development in Africa in the New Global Environment, 135 pp, United Nations: New York-Geneva 2011. Bezug: über www.unctad.org

Veröffentlicht: 17.7.2011

Empfohlene Zitierweise: Jörg Goldberg, Eine industriepolitische Agenda für Afrika, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 17. Juli 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)