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G20-Gipfel in Cannes: Der Lack ist ab

Artikel-Nr.: DE20111030-Art.55-2011

G20-Gipfel in Cannes: Der Lack ist ab

Eine Zwischenbilanz am Vorabend

Nur im Web - Seit ihrer Selbstkonstituierung auf Gipfelebene vor drei Jahren hat die G20 viel von ihrem ursprünglichen Glanz verloren. Die Agenda der französischen Präsidentschaft, die im Kern auf ein neues Währungs- und Finanzsystem zielt, ist zwar fulminant in ihrer Reichweite. Doch während die Re-Regulierung der Finanzmärkte immerhin kleine Lichtblicke aufweist, liegt die notwendige Umstrukturierung des Finanzsystems immer noch in weiter Ferne. Ein Überblick von Rainer Falk.

Die Entwicklung der G20 ist nicht ohne Brüche verlaufen. Nach einem erfolgreichen Krisenmanagement am Anfang, das einen Absturz der Weltwirtschaft in eine Große Depression wie in den 30er Jahren verhinderte, ist der Impetus zu wirtschaftspolitischer Koordinierung und Kooperation sowie zur Reform des globalen Finanzsystems deutlich schwächer geworden. Etwas salopp formuliert, könnte man sagen: Die G20 ist auf dem Weg, der alten G7/G8 immer ähnlicher zu werden.

* Wie die G20 der alten G8 immer ähnlicher wird

Unübersehbar ist zunächst eine mehrfache inhaltlich-politische Wende. Der vielleicht wichtigste Einschnitt betrifft den sich seit dem Pittsburgh-Gipfel andeutenden und auf dem Toronto-Gipfel besiegelten Übergang vom Konjunkturstimulus zur fiskalischen Konsolidierung. Der verfrühte Rückzug aus der aktiven und antizyklischen Konjunkturpolitik birgt im Verein mit der Tendenz zur geldpolitischen Straffung die Gefahr, einen Rückfall in die Rezession oder eine längere Phase niedrigen Wachstums zu provozieren.

Hinzu kommt, dass der ursprüngliche Fokus auf die Regulierung und Reform der Finanzmärkte tendenziell einer gewissen thematischen Beliebigkeit gewichen ist. Prominentes Beispiel ist hier der Versuch der G20, auch in der Entwicklungspolitik („Seoul Consensus“) mitzureden. Insgesamt geht die Tendenz von einem anfangs recht erfolgreichen Kooperationsmodell hin zu einer Art Selbstblockade aufgrund wachsender Interessengegensätze: Dies zeigt sich etwa daran, wie umstritten die Einführung einer Finanztransaktionssteuer innerhalb der G20 ist. Daran dürfte auch der für Cannes angekündigte Bericht von Bill Gates nichts ändern.

Die Relativierung der Gründungsagenda und die zunehmenden Interessengegensätze sind die Hauptgründe dafür, dass die G20 inzwischen schnurstracks auf eine Irrelevanzfalle zusteuern könnte. Die ursprünglichen Kommuniqués, etwa der Gipfel von London oder Pittsburgh, waren umfangreiche und detaillierte Arbeitsprogramme. Die jüngsten Deklarationen der G20-Finanzminister werden, gemessen an ihrer inhaltlichen Substanzlosigkeit, den Erklärungen der G7/G8 immer ähnlicher. Im Übrigen zielen sie nur noch auf die Beeindruckung der Finanzmärkte bzw. die Wiedergewinnung von deren „Vertrauen“, tragen aber gerade deshalb zur weiteren Artikulation und Verschärfung der diversen Krisentendenzen bei.

Auch strukturell hat die G20 ihr Versprechen, einem neuen Global-Governance-Modell zu Durchbruch zu verhelfen, nicht eingelöst. Innerhalb der G20 steht eine zwar verarmte, aber immer noch mächtige G8-Aristokratie der Durchsetzung neuer Ideen oft im Wege. Auch auf globaler Ebene sind die Legitimationsprobleme der G20 (als neuer exklusiver Klub) nicht gelöst. Und insgesamt bremsen, verwässern und behindern die G8 die Umsetzung der Finanzmarktreformen erheblich.

* Ungleiches Reformtempo in Finanzfragen

Ein Spezifikum der G20 besteht darin, dass sie – wie die alte G8 – keine verbindlichen Beschlüsse fassen kann, sondern nur Absichtserklärungen, dass alle künftig an einem bestimmten Strang ziehen wollen. Das bedeutet, dass gemeinsame Intentionen national und/oder regional umgesetzt werden müssen. Gerade in Bezug auf die Reform der Finanzmärkte ist so ein unterschiedliches Tempo vorgegeben. Während einige wenige G20-Orientierungen sehr schnell verwirklicht werden konnten, hat sich das Umsetzungstempo in den meisten Bereichen sehr verzögert. Vor allem die Europäische Union hat erst jetzt eine neue Finanzmarktdirektive vorgelegt, während die USA mit der Dodd-Frank-Gesetzgebung wesentlich schneller Veränderungen auf den Weg gebracht hat.

Recht rasch ist deutlich geworden, dass der IWF als der vielleicht größte Gewinner aus der Finanzkrise hervorgegangen ist. Maßgeblich dafür war die Verdreifachung seiner „Feuerkraft“ und die Aufstockung der Sonderziehungsrechte um 250 Mrd. Dollar im Gefolge des Londoner G20-Gipfels. Das hat dem Fonds eine neue Relevanz beschert, die viele schon dahin schwinden sahen, die sich aber im aktuellen Krisenmanagement als essentiell erwies. Gleichzeitig hat der IWF in der Krise seine Rhetorik verändert, so dass viele ihn bereits als Speerspitze eines neuen „Keynesianischen Moments“ sahen.

„On the ground“ (vor Ort) freilich lässt die eigene Reformagenda des IWF nach wie vor zu wünschen übrig. Seine eigene Governance-Struktur hat er bestenfalls leicht modifiziert: Einem geringfügig größeren Gewicht der Schwellenländer in Abstimmungsfragen werden Einbußen für andere Entwicklungsländer gegenüber stehen, wenn die gegenwärtig laufende Quotenüberprüfung Anfang 2012 abgeschlossen sein wird. An der Konditionalität seiner Kreditvergabe hat der Fonds am wenigsten verändert. Wie eine neue UNICEF-Studie nachweist, trifft die vom IWF über die Strukturanpassungsprogramme mittransportierte fiskalische Konsolidierung im Süden gerade arme Familien und deren Kinder auf besondere Weise. In Europa ist der Fonds neben der EU eine der tragenden Säulen obsessiver Austeritätsprogramme (s. Griechenland), auch wenn die Reden der neuen Chefin, Christine Lagarde, ein differenzierteres Verhältnis von Stimulus und Konsolidierung hochhalten.

* Das Kasino wurde nicht geschlossen

Die neue Runde der Bankenrettung, die gerade eingeläutet wird, ist nicht zuletzt ein Beleg für die Verzögerung der Re-Regulierung des Finanzsektors, wodurch Spekulationsräume offengelassen wurden und alle möglichen abenteuerlichen Geschäftsmodelle nach wie vor fröhliche Urstände feiern. Der einzige Unterschied zur Vor-Lehman-Epoche besteht vielleicht darin, dass sich Banken und Ratingagenturen in einer Art „Pas de deux“ darauf verlegt haben, auf Staatsbankrotte zu wetten. Ein kleiner Lichtblick ist es da schon, wenn die EU kurz vor dem Gipfel in Cannes angekündigt hat, künftig ungedeckte Leerverkäufe von Kreditausfallversicherungen (CDS) auf Staatsanleihen zu verbieten und den Ratingagenturen das Rating von Staaten während der Umsetzung von Rettungspaketen zu untersagen.

Insgesamt hinken die Finanzmarktreformen in der EU jedoch – auch nach der Ankündigung einer neuen Finanzmarktdirektive (MiFID) – nach wie vor hinter den USA hinterher. Zwar waren auch in den USA Verwässerungen im Zuge des Kampfes um die Dodd-Frank-Gesetze nicht zu verhindern. Aber mit Blick auf die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, insbesondere bei der Abtrennung des Eigenhandels, sind die USA wesentlich weiter als die EU, wo solche Maßnahmen noch nicht einmal ernsthaft diskutiert werden. Für die Rohstoff- und Lebensmittelmärkte verordnete die US-Aufsichtsbehörde kürzlich sogar verbindliche Positionslimits für Händler (die bei maximal 12% liegen sollen), während die EU-Richtline gerade mal eine Berichtspflicht vorsieht, in welchem Umfang Händler Futures zu bloßen Spekulationszwecken erwerben dürfen.

Besonders weit zurückgeblieben sind die Anstrengungen in Bezug auf die Regulierung von (außerbörslichen) OTC-Derivaten, wie der von den G20 aufgewertete Finanzstabilitätsrat (FSB) kürzlich in einem vernichtenden Bericht feststellte. Während die G20 in Pittsburgh die Regulierung aller standardisierten OTC-Derivate über Börsen und andere Handelsplattformen in Aussicht stellte, muss der FSB jetzt feststellen, dass nur die wenigsten G20-Länder ihre Hausaufgaben in diesem Bereich bis Ende 2012 gemacht haben werden. Die EU hat zwar jüngst die Einführung von OTFs („organised trading facilities“) angekündigt. Doch es bleibt abzuwarten, ob damit Schattenbanken und intransparente Handelsplätze („dark rooms“) von der Bildfläche verschwinden werden.

Schwer im Argen liegt schließlich auch die Lösung des Too-big-to-fail-Problems, das privaten Großbanken eine Art Erpressungsmacht gegenüber den Staaten gibt. Die bisherige Diskussion über dieses Problem (Stichwort „Basel III“) wird mindestens sehr verengt geführt, da es immer nur um die Höhe des zu unterlegenden Eigenkapitals geht (W&E 10/2011). Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass die Banken im Krisenfall auch ohne staatliche Rettungsgelder überlebensfähig werden. Doch weitgehend Tabu ist es, über die Verkleinerung/Schrumpfung der Institute, ihre Zerlegung oder ihre Verstaatlichung nachzudenken. Letzteres kommt nach offizieller Lesart ohnehin nur im Notfall in Betracht.

* Von der Re-Regulierung zur Umstrukturierung?

Das letzte Beispiel zeigt, wie dringend eigentlich grundlegendere Maßnahmen zur Umstrukturierung des Finanzsektors wären. Doch viel dürfen wir in dieser Hinsicht nicht erwarten. Nach Angaben aus französischen Sherpa-Kreisen hält die französische Präsidentschaft zwar am Ziel einer Reform des internationalen Währungssystems fest. Fragt man jedoch genauer nach, dann wird nach wie vor an einer neuen Formel für die Zusammensetzung der SDR „gearbeitet“; das Maximum, das erwartet werden kann, wäre die Schaffung eines SDR-„Schattenkorbs“.

Desweiteren rechnet die französische Präsidentschaft jetzt einen „Referenzrahmen“ für das Management internationaler Kapitalflüsse zu einem neuen Währungssystem. Dabei geht es um die Frage, ob Kapitalverkehrskontrollen nur unter besonderen Ausnahmesituationen zugelassen werden sollen (wie der IWF vorschlägt) oder als Normalfall der Regulierung der Außenwirtschaftsbeziehungen anerkannt werden (wie progressive Wissenschaftler wollen). Ansonsten firmieren unter „neuem Währungssystem“ ziemlich konventionelle Dinge, wie neue Kreditlinien für den IWF oder die Stärkung von dessen Surveillance- und Monitoring-Funktion gegenüber Überschuss- und Defizitländern.

Aus deutschen Sherpa-Kreisen kommen zusätzlich Hinweise, die darauf deuten, wie sehr die G20 inzwischen beim „Business as usual“ angekommen sind: So soll der Gipfel die neuen Basel-III-Richtlinien durchwinken und eine neue Liste von „systemisch wichtigen internationalen Finanzinstituten“ verabschieden. Als Hauptdokument ist ein Wachstums-Aktionsprogramm geplant. Arbeitstitel: "Framework for growth". Von der Notwendigkeit einer „Neuen Internationalen Finanzarchitektur“, die einmal in aller Munde war, spricht niemand mehr.

Veröffentlicht: 30.10.2011

Empfohlene Zitierweise: Rainer Falk, G20-Gipfel in Cannes: Der Lack ist ab. Eine Zwischenbilanz am Vorabend, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 30. Oktober 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)