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Kreativwirtschaft: Wachstumselixier in der Krise

Artikel-Nr.: DE20110201-Art.08-2011

Kreativwirtschaft: Wachstumselixier in der Krise

Der neue "Creative Economy Report"

Nur im Web - Die frohe Botschaft des „Creative Economy Report 2010“, des zweiten dieser Art, den die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) unter Leitung von Edna dos Santos-Duisenberg, der Direktorin des „UNCTAD Creative Economy and Industries Programme“ herausbringen, lautet: Auch während der Weltwirtschaftskrise ist der Handel mit Kreativ-Gütern und -Dienstleistungen weiter rasant gestiegen. Von Konrad Melchers.

Während die gesamten Weltexporte 2008 um 12% absackten, wuchsen die Kreativexporte (Güter und Dienstleistungen), so der Bericht, zusammen um 10%. Zwischen 2003 und 2008 hatten sie sogar jährlich im Durchschnitt 14% zugelegt und erreichten 2008 die stolze Summe von 592 Mrd. US-Dollar.

* Der Süden holt auf

Deutlich stärker als im Norden wuchsen 2008 wieder die Kreativgüterexporte der Entwicklungsländer: 11% (alle Ziffern aus dem Bericht), aus Afrika sogar um 46%, allerdings von einem sehr niedrigen Ausgangswert (0,6% Anteil an den Welt-Kreativgüterexporten). Die entsprechenden Exporte der Industrieländer nahmen um 7% zu. Überdurchschnittlich entwickelten sich die Süd-Süd-Kreativgüterexporte. Sie wuchsen zwischen 2003 und 2008 jährlich um rund 20% und erreichten 2008 mit knapp 60 Mrd. US-Dollar einen Anteil an den Weltexporten von über 10%. Beachtlich ist weiter, dass die Entwicklungsländer mehr als doppelt so viele Güter und Dienstleitungen der Kreativindustrien exportieren als sie importieren – ganz im Gegensatz zu Industriegütern und Dienstleistungen insgesamt. Diese Entwicklung bestätigt, dass in der Kreativwirtschaft der Graben zwischen Entwicklungs- und Industrieländern bald verschwinden wird. Der Anteil aller Entwicklungsländer an den Welt-Kreativexporten erreichte 2008 schon 43%, einschließlich Hong Kong sogar über die Hälfte.

Allerdings ist auch hier Entwicklungsland nicht mehr gleich Entwicklungsland. Allein auf China einschließlich Hong Kong und Macao entfallen zwei Drittel, d.h. 29% der gesamten Weltexporte. Demgegenüber liegt der Anteil der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) verschwindend gering im Promillebereich. China ist mit Abstand der weltweit größte Exporteur von Kreativgütern.

Weitere Indikatoren für das Aufholen der Entwicklungsländer sind die Verbreitung der Mobiltelefone und die Internetnutzung. 2009 waren über 4 Mrd. Handys registriert, davon 75% im Süden. 20% der Weltbevölkerung nutzten das Internet. Dabei wuchs die Internetnutzung im Süden fünfmal rascher als in den Industrieländern. Allerdings ist der Zugang in den Entwicklungsländern zur Breitband-Übermittlungstechnik noch gering und entsprechend eingeschränkt die Nutzung des Internets für wissenschaftliche und wirtschaftliche Zwecke.

* Enormes Entwicklungspotenzial

Gleichwohl wird das enorme Potenzial der Kreativwirtschaft für die Entwicklung deutlich. Der Bericht plädiert deshalb erneut, dieses Potenzial stärker zu nutzen, sich von den traditionellen Entwicklungskonzepten zu lösen, die sich auf die Sektoren Landwirtschaft, Industrie, Dienstleistungen und Investitionen beschränken und ein umfassenderes Konzept zu entwickeln.

Was ist Kreativwirtschaft?

Eine umfangreiche und vielfältige Diskussion über Kreativität begleitet die Entstehung des neuen Konzepts. Kreativität wird unterschieden zum einen in künstlerische Kreativität, die Phantasie und die Fähigkeit umfasst, originäre Ideen zu entwickeln und neue Wege zu gehen, die Welt zu interpretieren mit Texten, Klängen und Bildern; zum anderen in wissenschaftliche Kreativität. Sie wird geprägt von der Neugier und dem Willen zum Experimentieren und neue Ansätze für Problemlösungen zu entdecken. Wirtschaftliche Kreativität hingegen ist ein dynamischer Prozess, der zu Innovationen bei Technologien, Geschäftspraktiken und Marketing führt. Sie ist eng mit dem Ziel verknüpft, Konkurrenzvorteile in der Wirtschaft zu erlangen. Soziale Kreativität schließlich ist eng mit der Lösung sozialer Probleme verknüpft.

Diese Kreativbegriffe führen zwangsläufig auch zu neuen wirtschaftlichen Kategorien wie "Kreativkapital", kreative Güter und Dienstleistungen und zur Kreativindustrie, dem Kernbereich der Kreativwirtschaft.

Die Kreativwirtschaft wird in vier große Subsektoren unterteilt. Der Bereich kulturelles Erbe umfasst traditionelle kulturelle Ausdrucksformen in Kunst, Kunstgewerbe, Festen und Feiern. Weiter gehören dazu archäologische Anlagen, Museen, Bibliotheken, Ausstellungen, Galerien usw. Der zweite große Bereich ist die Kunst, die sich unterteilt in Bildende Kunst (Malerei, Skulpturen, Fotografie und Antiquitäten) und Darstellende Kunst (Live Musik, Theater, Tanz, Oper, Zirkus, Marionettentheater usw.). Der dritte Sektor sind die traditionellen im Unterschied zu den neuen Medien. Sie unterteilen sich in zwei Subsektoren: die verlegten und gedruckten Medien (Bücher, Presse usw.) und die audiovisuellen Medien (Film, Fernsehen, Radio und anderer Rundfunk). Zum vierten Sektor der Kreativwirtschat werden die "funktionalen Kreationen" gezählt. Hier werden Güter und Dienstleistungen erstellt, die eine bestimmte Funktion erfüllen. Dazu gehören Design (Inneneinrichtung, Grafik, Mode, Schmuck und Spielzeug), Neue Medien (Software, Videospiele, und digitalisierte Güter mit kreativem Gehalt) und kreative Dienstleistungen wie Architektur, Werbung, Kultur- und Erholungsbetrieb, kreative Forschung und Entwicklung sowie digitale Dienstleistungen. Umstritten ist, ob angewandte und Grundlagenforschung zum Bereich der Kreativwirtschaft gezählt werden können.

Eine weitere Besonderheit ist, dass die Haupttreiber der Kreativwirtschaft aus der Unterhaltungs- und Freizeitwirtschaft kommen: insbesondere Tourismus. Technische Neuerungen befruchten weniger die Schwer-, Investitions- und traditionelle Konsumgüterindustrie, als z.B. "Video on Demand", TV über Kabel, Satellit und das Internet.

Quelle: UNCTAD/UNDP

Der Bericht versucht einige neue Themen zu integrieren, darunter die „Grüne Ökonomie“, insbesondere Biodiversität. Zwischen Kreativindustrien und nachhaltiger Wirtschaft werden „Win-Win-Situationen gesehen. Viele kreative Industrien würden auf dem Schutz der Bidiversität aufbauen, wie z.B. die Öko-Mode oder der Öko-Tourismus.

Überraschend ist die Beachtung der Entwicklung alternativer Währungen von sozialen Netzwerken auf der Basis von lokalem Tauschhandel. Die dargebotenen Informationen zu dem interessanten Thema beschränken sich aber im Wesentlichen auf die Aufzählung von Initiativen und Projekten in einzelnen Ländern. Ein Pionier des Sektors ist besonders erwähnenswert: das in Kapstadt 2003 gegründete „Community Exchange Systems“, das sich das Internet zunutze macht. Es breitete sich rasch in der Welt aus. Anfang 2010 gab es 180 solcher Netzwerke in 20 Ländern, darunter in Australien, Großbritannien, Neuseeland, Neuseeland, USA und Vanatu.

Ein großes Kapitel widmet der Bericht dem Copyright-Thema. Die vielfältigen wirtschaftlichen Wirkungen der „copyright industries“ werden dargelegt: die große Bedeutung des Sektors für die US-Wirtschaft (11% des Bruttosozialprodukt werden durch die Copyright-Wirtschaft erbracht) oder auch für Australien, die Probleme von Genpiraterie und der Aneignung von Wissen indigener Völker und der anschließenden Patentierung vor allem durch die Pharmaindustrie sowie die Verbreitung von schutzwürdigem geistigem Eigentum durch das Internet. Der Bericht plädiert für eine Revision des Copyrights zugunsten einer größeren Verbreitung und wirtschaftlichen Nutzung von geistigem Eigentum.

Der Bericht sieht auch einen Bedarf an Abbau von Zöllen, die vor allem den kreativwirtschaftlichen Süd-Süd-Handel behindern. Dementsprechend müsste das Allgemeine Handelspräferenzsystem (GSTP) der Entwicklungsländer novelliert werden.

* Zurücknahme der These vom Entwicklungsparadigma

Die These des ersten Berichts von der Kreativwirtschaft als neuem Entwicklungsparadigma findet sich im zweiten Bericht nicht wieder. Sie wird nur auf der Rückseite des Einbands nochmals zitiert. Im Untertitel spricht der Bericht jetzt von einer Entwicklungsoption (s. Hinweis). Und tatsächlich, bei aller Anerkennung der enormen Wachstumserfolge der Kreativwirtschaft und der dynamisierenden Beiträge von Teilbereichen wie der modernen Kommunikation, sind die intersektoralen Verflechtungen der Kreativwirtschaft nicht so weitgehend, dass ihr allein die Leitfunktion im Entwicklungsprozess zukommen könnte. Das gilt lediglich in Kombination mit anderen Sektoren wie Bildung, Forschung und Entwicklung, Finanzsektor und politischer Rahmenbedingungen wie „good governance“. Für die Zurücknahme der Paradigma-These findet sich im zweiten Bericht leider keine explizite Begründung oder gar Diskussion.

Das wäre aber angebracht. Denn die Erwartungen sind hoch. Immerhin hat Mitte der 90er Jahren nicht das britische Wirtschaftsministerium, sondern das Kultusministerium einen radikalen Schwenk der britischen Wirtschaftspolitik eingeleitet. Die Deindustrialisierung wurde zugunsten der Kreativwirtschaft hingenommen. Zu den überschwänglichsten Protagonisten der Kreativwirtschaft gehört der US-Ökonom Richard Florida. In seinem 2002 erschienenen Buch „Der Aufstieg der Kreativen Klasse“ (Basic Books) erklärte er: „Wir erleben gerade die größte ökonomische Umwälzung der Geschichte: den Übergang von der industriellen zur kreativen Wirtschaft“. Die Umwälzung ist nach Einschätzung des Bestseller-Autors „wesentlich größer, umfassender und faszinierender als die des Übergangs von der landwirtschaftlichen zur industriellen Gesellschaft.“

Diese Einschätzung kontrastiert radikal mit der Kritik am älteren Konzept der „Kulturindustrie“ nach dem Zweiten Weltkrieg durch Theodor Adorno, Max Horkheimer und in den USA Herbert Marcuse. Die Begründer der „Frankfurter Schule“ sahen durch die Kommerzialisierung der Kultur eine vertiefte Spaltung zwischen Eliten- und Massenkultur und zwischen Kunst versus kommerzielle Unterhaltung. Die heutige Debatte tendiert jedoch zu der pragmatischen Feststellung, dass Kreativindustrie einfach Kulturgüter produziert. Entsprechend wird Kreativität definiert als „die Formulierung neuer Ideen und die Anwendung dieser Ideen zur Herstellung originaler Kunstwerke und von kulturellen Produkten, von funktionalen Kreationen, von wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Neuerungen“.

Konrad Melchers, Publizist in Berlin, bis 2007 Chefredakteur der Zeitschrift „eins Entwicklungspolitik“, inzwischen „welt-sichten“. Kontakt: KMelchers@t-online.de.

Hinweis:
* UNCTAD/UNDP, Creative Economy Report 2010. Creative Economy: A Feasible Development Option, 423 pp, United Nations: New York-Geneva 2010. Bezug: über www.unctad.org

Veröffentlicht: 1.2.2011

Empfohlene Zitierweise: Konrad Melchers, Kreativwirtschaft: Wachstumselexier in der Krise, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E 02/Februar 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).