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Umdenken nach zwei verlorenen Jahrzehnten

Artikel-Nr.: DE20110427-Art.26-2011

Umdenken nach zwei verlorenen Jahrzehnten

Sechs Punkte für Rio+20

Nur im Web - 1992 hielten die Vereinten Nationen in Rio den Gipfel über Umwelt- und Entwicklung (UNCED) ab – auch als Erdgipfel bekannt. Als mehr als 100 führende Politiker die Rio-Prinzipien und den “Agenda 21” genannten Aktionsplan annahmen, kam eine nahezu euphorische Stimmung auf. Endlich versprachen Weltpolitiker, in größerem Maße umweltpolitische, wirtschaftliche und soziale Probleme in Angriff zu nehmen. Von Martin Khor.

Fast zwei Dekaden sind seither vergangen. Die meisten Umweltprobleme wie globale Erwärmung, Wasserknappheit, Verlust an Biodiversität und Entwaldung haben sich verschlimmert. Zusätzlich sind neue Herausforderungen aufgetaucht. Diese müssen auf dem neuen Gipfel über nachhaltige Entwicklung in Rio im nächsten Jahr, der den 20. Jahrestag des Erdgipfels markiert, thematisiert werden.

* Neoliberales Paradigma gegen nachhaltige Entwicklung

Die erste Kernproblematik seit 1992 war die Entstehung eines globalen politischen Umfelds, das gegen das kooperativ-nachhaltige Entwicklungsparadigma gerichtet ist. Das Paradigma von 1992 war ganzheitlich (mit den drei Säulen Ökonomie, soziale Entwicklung und Umwelt). Außerdem hatte es eine international kooperative Dimension, da die Geberländer zustimmten, die Entwicklungsländer mit Finanzmitteln, Technologie und weltwirtschaftlichen Reform zu unterstützen.

Aber Mitte der 1990er kam ein wettbewerbsorientiertes, marktgesteuertes Globalisierungsparadigma auf, in dessen Zentrum die Welthandelsorganisation (WTO) stand. Deren starker Durchsetzungsmechanismus gab ihr einen Vorteil gegenüber anderen internationalen Organisationen und Regelwerken und führte dazu, dass sie von Staaten höher priorisiert wurde als andere Strukturen. Auch die bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen haben diese starken Durchsetzungsmechanismen. Viele Bestimmungen dieser Handelsabkommen können eine nachhaltige Entwicklungspolitik verhindern. Zusätzlich steht die Politik des Washington Consensus – verknüpft mit IWF- und Weltbank-Krediten – im Gegensatz zu nachhaltiger Entwicklung.

Dennoch gibt es einen Silberschein der Hoffnung: Die Deregulierungs- und Liberalisierungsannahmen, die dieser Politik zugrunde lagen, wurden durch die Finanzkrise in Frage gestellt. Viele Industriestaaten re-regulieren nun ihren Finanzsektor und zögern bei der Liberalisierung ihres Handels (Abbau von Agrarsubventionen und Zöllen, Erleichterung des Zugangs ausländischer Arbeiter), obwohl sie die Entwicklungsländer zu diesen Maßnahmen drängen.

Es ist an der Zeit, sowohl die Handelsabkommen als auch die Politik nach IWF-Manier neu zu überdenken und sie an nachhaltigen Entwicklungszielen neu auszurichten. Ein neues und stärkeres Modell der nachhaltigen Entwicklung sollte geschaffen werden – von gleichem oder höherem Gewicht als das orthodoxe Globalisierungsmodell und seine Institutionen.

* Weltwirtschaftliche Reformen, Entwicklungshilfe, Technologietransfer

Die zweite Neuentwicklung war die globale Finanzkrise und der ökonomische Abschwung. Die Effekte beinhalten eine Reduzierung der Exporteinnahmen für viele Entwicklungsländer und eine Unsicherheit, was zukünftige Exportaussichten betrifft. Dies erschwert es, nachhaltige Entwicklungspolitik zu implementieren. Der Gipfel 2012 sollte eine Reform der weltwirtschaftlichen Systems in Gang bringen.

Das dritte Problem liegt darin, dass die Industrieländer versäumten, ihre Versprechungen über Finanz- und Technologietransfers in die Entwicklungsländer einzuhalten. Während das Hilfe-Ziel von 0,7% des BIP nicht eingehalten wurde, gibt es bedrohliche Signale, dass einige Industriestaaten vor Budgetkürzungen stehen und deshalb auch ihre Entwicklungshilfe-Etats reduzieren werden. Darüber hinaus gab es wenig Technologietransfer, weil ein neues globales Regime für geistige Eigentumsrechte, das nach Rio 1992 durchgesetzt wurde, es den Entwicklungsländern erschwert, Zugang zu Technologie zu erschwinglichen Kosten zu erlangen.

Der neue Rio-Gipfel sollte das 0,7%-Entwicklungshilfe-Ziel erneuern, und die Industrieländer sollten eine Erklärung abgeben, mit der sie einer Aufrechterhaltung und einer Erhöhung ihrer Entwicklungshilfe-Budgets zustimmen – auch wenn ihr Gesamtbudget reduziert wird. Es sollte ein neuer Fonds für nachhaltige Entwicklung und eine Agentur für Technologietransfer errichtet werden.

Ein viertes Problem ist der gewaltige Anstieg der weltweiten Nahrungsmittelpreise. Viele Entwicklungsländer waren in der Lage, sich mit Nahrungsmitteln selbst zu versorgen oder sie sogar zusätzlich noch zu exportieren. Aber ein Rückzug des Staates aus der Landwirtschaft und drastische Lockerungen von Zöllen verursachten ansteigende Nahrungsmittelimporte und zerstörten die lokale Produktion. Das Vordringen von Spekulanten auf die Rohstoffmärkte trug ebenso seinen Teil zu Preisspitzen bei Nahrungsmitteln bei.

Deshalb bedarf es eines Handelns, das die lokale Nahrungsmittelproduktion in Entwicklungsländern ermöglicht und außerdem die Spekulation auf den Rohstoffmärkten eindämmt.

* Umweltgerechtigkeit und Katastrophenhilfe

Eine fünfte Herausforderung ist die rapide Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Treibhausgas-Emissionen. Deshalb wird der faire Zugang der Entwicklungsländer zu den verbleibenden und ständig abnehmenden natürlichen Ressourcen und zu Technologien für die schonende Nutzung dieser zu einem Hauptproblem werden. So ist die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit im Umwelt- und Entwicklungsbereich zu einer sehr akuten Herausforderung geworden. Um ihr auf faire Weise gerecht zu werden, muss es einen einschneidenden Einstellungswandel und einen Wandel in der Umsetzung von Gleichheits- und Entwicklungsprinzipien geben.

Die sechste neue Herausforderung besteht darin, dass sowohl die Zahl als auch die Intensität von Naturkatastrophen signifikant angestiegen ist und ihre Auswirkungen gefährlicher werden. Wenn 2010 das schlimmste Jahr in der jüngeren Geschichte ist, dann wird 2011 wegen des japanischen Tsunamis noch schlimmer werden. In der Zukunft wird sich das Problem genauso wie die Effekte des Klimawandels intensivieren. Derzeit können von Überschwemmungen, Erdbeben, Waldbränden etc. betroffene Länder hauptsächlich nur auf der Basis von Fall-zu-Fall-Entscheidungen um Hilfe anrufen. Zu wenig Geld steht zur Verfügung, und es kommt mit Verspätung an.

Deshalb sollten die UN-Organisationen, die mit Naturkatastrophen zu tun haben, gestärkt werden. Zusätzlich sollte ein neuer Mechanismus geschaffen werden, der Schäden und Verluste durch Naturkatastrophen behandelt. Entwicklungsländer sollten Fonds erhalten, damit sie diese Desaster verkraften und ihre zerstörte Infrastruktur wieder aufbauen können.

Martin Khor ist Direktor des South Centre, Genf. Er kommentiert an dieser Stelle regelmäßig aktuelle Probleme aus der Sicht des Südens.

Veröffentlicht: 27.4.2011

Empfohlene Zitierweise: Martin Khor, Umdenken nach zwei verlorenen Jahrzehnten: Sechs Punkte für Rio+20, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27. April 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).