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Vom Exportmodell zur Binnennachfrage

Artikel-Nr.: DE20110227-Art.10-2011

Vom Exportmodell zur Binnennachfrage

Wie China umsteuert

Nur im Web – Seit Monaten nun wird China kritisiert, weil es sich über die Stützung seines Wechselkurses Konkurrenzvorteile im internationalen Handel verschaffe und mit seinen hohen Dollarreserven maßgeblich zur Verstärkung globaler Ungleichgewichte beitrage. Doch längst ist die Volksrepublik dabei umzusteuern, und die Auswirkungen dieser Umorientierung können für die Weltwirtschaft nur positiv sein, schreibt Steven S. Roach in einer Vorausschau auf den nächsten Fünfjahresplan Pekings.

Anfang März wird Chinas Nationaler Volkskongress seinen 12. Fünfjahresplan genehmigen. Dieser Plan wird wahrscheinlich als eine der kühnsten strategischen Initiativen Chinas in die Geschichte eingehen. Im Wesentlichen wird er den Charakter des chinesischen Wirtschaftsmodells verändern – von der export- und investitionsinduzierten Struktur der letzten 30 Jahre hin zu einem Wachstumsmuster, das immer stärker von den chinesischen Konsumenten angetrieben wird. Diese Veränderung wird tiefgreifende Auswirkungen auf China, den Rest Asiens und die Weltwirtschaft allgemein haben.

* Drei große Initiativen zur Stärkung des Binnenmarkts

Wie der fünfte Fünfjahresplan, der die Voraussetzungen für die „Reformen und die Öffnung“ der späten 1970er Jahre schuf, und der neunte Fünfjahresplan, der die Vermarktlichung von staatseigenen Unternehmen Mitte der 1990er Jahre auslöste, wird der bevorstehende Plan China dazu zwingen, die grundlegenden Prämissen seiner Wirtschaft neu zu überdenken. Ministerpräsident Wen Jiabao hat vor vier Jahren das Fundament hierfür gelegt, als er als Erster das Paradox der „vier Un‘s“ formulierte – eine Wirtschaft, unter deren oberflächlicher Stärke sich eine Struktur verbarg, die immer „unstabiler, unausgewogener, unkoordinierter und letztlich untragbar“ war.

Die Große Rezession von 2008/2009 deutet darauf hin, dass China es sich nicht mehr leisten kann, die Vier Un‘s als theoretische Vermutung zu behandeln. Die Ära nach der Krise wird in den Industrieländern wahrscheinlich von anhaltenden Nachbeben geprägt sein – die die Auslandsnachfrage schwächen, auf die China seit langem angewiesen ist. Daher hat China kaum eine andere Wahl, als sich der internen Nachfrage zuzuwenden und die vier Un‘s direkt anzugehen.

Genau das wird der 12. Fünfjahresplan tun und sich dabei auf drei große Initiativen zur Ankurbelung des Konsums konzentrieren. Erstens wird China anfangen, sich von dem Produktionsmodell zu entwöhnen, welches das export- und investitionsinduzierte Wachstum gefördert hat. Obwohl der Produktionsansatz China 30 Jahre lang gute Dienste geleistet hat, ist das Land durch seine Abhängigkeit von der kapitalintensiven, arbeitssparenden Verbesserung seiner Produktivität unfähig, seinen massiven Überschuss an Arbeitskräften zu absorbieren.

Stattdessen wird China mit seinem neuen Plan ein arbeitsintensiveres Dienstleistungsmodell einführen. Es wird, so hofft man, einen detaillierten Entwurf für die Entwicklung von transaktionsintensiven Großindustrien vorlegen, darunter z. B. der Groß- und Einzelhandel, die inländische Transport- und Lieferkettenlogistik, die Gesundheitsfürsorge sowie der Freizeitbereich und die Gastronomie.

Ein solcher Wandel würde China ein wesentlich größeres Potenzial zur Schaffung von Arbeitsplätzen bieten. Da der Beschäftigungsanteil für eine chinesische Produktionseinheit im Dienstleistungsbereich über 35 % höher ist als in der Produktion oder im Baugewerbe, könnte China sein Beschäftigungsziel sogar mit einem langsameren BIP-Wachstum erreichen. Zudem sind Dienstleistungen wesentlich weniger ressourcenintensiv als die Produktion – was China den zusätzlichen Vorteil eines leichteren, saubereren und grüneren Wachstumsmodells bietet.

* Anhebung des Lohnniveaus

Die zweite Initiative zur Ankurbelung des Konsums im neuen Plan strebt eine Erhöhung der Löhne an. Hauptsächlicher Schwerpunkt sind die hinterherhinkenden Löhne für Landarbeiter, deren Pro-Kopf-Einkommen derzeit bei nur 30 % der in städtischen Gebieten gezahlten Löhne liegen – das genaue Gegenteil von Chinas angestrebtem Ziel einer „harmonischeren Gesellschaft“. Zu den Reformen werden Steuerbeschlüsse zählen, die darauf abzielen, die ländliche Kaufkraft zu steigern, ferner Maßnahmen, um den Landbesitz in ländlichen Gegenden auszuweiten und technologieorientierte Programme, um die landwirtschaftliche Produktivität zu erhöhen.

Die größte Wirkung wird jedoch zweifellos von politischen Maßnahmen ausgehen, die eine anhaltende und schnelle Abwanderung vom Land in die Städte fördern. Seit dem Jahr 2000 liegt die jährliche Migration vom Land in die Stadt konstant bei 15 bis 20 Millionen Menschen. Damit die Migration in diesem Tempo weitergeht, muss China die seit langem etablierten Vorgaben seines Hukou (System der Haushaltsregistrierung) lockern, das die Arbeitsmarktflexibilität begrenzt, indem es Arbeiter und ihre Leistungen an ihren Geburtsort bindet.

Die Beschäftigung durch Dienstleistungen anzukurbeln und die Löhne durch mehr Unterstützung für Landarbeiter zu erhöhen wird das persönliche Einkommen in China erheblich steigern, das sich derzeit auf lediglich 42% des BIP beläuft – die Hälfte des US-Niveaus. Doch um den privaten Konsum in China anzukurbeln, wird ein stärkeres Wachstum der Arbeitseinkommen nicht ausreichen. Es werden zudem große Anstrengungen notwendig sein, um vom Sparen zum Ausgeben überzugehen.

* Aufbau und Stärkung sozialer Netze

Dieser Punkt umreißt die dritte große Komponente zur Konsumankurbelung im neuen Plan – es muss ein soziales Netz aufgebaut werden, um das durch Angst bedingte, vorbeugende Sparen zu verringern. Das bedeutet insbesondere Sozialversicherungen, private Renten sowie Kranken- und Arbeitslosenversicherungen – Pläne, die auf dem Papier existieren, jedoch völlig unterfinanziert sind.

Im Jahr 2009 z. B. kam das Gesamtvermögen des chinesischen Rentensystems – die nationale Sozialversicherung, lokale staatliche Rentenversicherungen und private Renten – auf nur 2,4 Billionen renminbi (364 Mrd. US-Dollar). Für den durchschnittlichen chinesischen Arbeiter ergibt dies lediglich etwa 470 Dollar an lebenslangen Rentenleistungen. Da überrascht es kaum, dass Familien aus Angst vor der Zukunft sparen. Chinas neuer Plan muss diesen Missstand sofort korrigieren.

Der 12. Fünfjahresplan wird wesentlich mehr beinhalten als diese drei Säulen zur Ankurbelung des Konsums. Beachtenswert ist auch, dass im Zentrum des Plans die beschleunigte Entwicklung mehrerer aufstrebender strategischer Industrien steht – beispielsweise der Biotechnologiebranche, alternativer Energien, neuer Materialen und der Informationstechnologie der nächsten Generation.

Doch ist die Betonung des chinesischen Verbrauchers wahrscheinlich das prägende Merkmal des neuen Plans – meiner Meinung nach reicht dies aus, um den privaten Konsum als Anteil des BIP von seinem aktuellen Tief von etwa 36% bis 2015 auf etwa 42-45% anzuheben. Obwohl dieser Wert nach internationalen Standards immer noch niedrig ist, würde ein solcher Anstieg für China trotzdem einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem neuen Gleichgewicht darstellen.

* Die größte Konsumwelle der modernen Geschichte

Außerdem würde es Chinas wichtigsten Handelspartnern ungeheuren Auftrieb geben – nicht nur denen in Ostasien, sondern auch der europäischen und US-Wirtschaft mit ihrem begrenzten Wachstum. So wird der 12. Fünfjahresplan wahrscheinlich die größte Konsumwelle in der modernen Geschichte in Bewegung setzen. In ihrer aktuellen Situation nach der Krise könnte die Welt kaum mehr verlangen.

Aber es gibt einen Haken: Indem China zu einer stärker konsumorientierten Dynamik überwechselt, wird es seine überschüssigen Ersparnisse reduzieren und weniger übrig haben, um die anhaltenden Spardefizite von Ländern wie den USA zu finanzieren. Die Möglichkeit eines solchen asymmetrischen neuen globalen Gleichgewichts – bei dem China die Führung übernimmt und die Industrieländer zögern – könnte die wichtigste unbeabsichtigte Folge von Chinas 12. Fünfjahresplan sein.

Stephen S. Roach ist Fakultätsmitglied der Yale University sowie nicht-geschäftsführender Vorsitzender von Morgan Stanley Asia und Autor von Das neue Asien. Aus dem Englischen von Anke Püttmann

© Project Syndicate

Veröffentlicht: 27.2.2011

Empfohlene Zitierweise: Stephen S. Roach, Vom Exportmodell zur Binnennachfrage, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27. Februar 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).