Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Afrika als globaler Wachstumspol?

Artikel-Nr.: DE20120410-Art.17-2012

Afrika als globaler Wachstumspol?

ERA 2012: Überdurchschnittlich interessant

Vorab im Web – Das aktuell hohe Wachstum vieler afrikanischer Länder und der Reichtum an natürlichen Ressourcen hat den ‚vergessenen Kontinent‘ wieder ins Blickfeld gerückt: Afrika sei ein neuer Wachstumspol, der großartige Zukunftschancen böte, liest man in vielen Wirtschaftsmagazinen. Der „Economic Report on Africa 2012“ (ERA; s. Hinweis) der UN-Wirtschaftskommission für Afrika (ECA) und der Afrikanischen Union (AU) nimmt diese Einschätzungen beim Wort. Von Jörg Goldberg.

Es ist ein überdurchschnittlich interessanter Bericht. Während die Autoren das Wirtschaftspotential des Kontinents hervorheben, kommen sie wirtschaftspolitisch allerdings zu ganz anderen Schlussfolgerungen als die marktradikalen Investoren. In fünf Kapiteln gehen sie auf die aktuelle weltwirtschaftliche Situation ein und skizzieren dann die Aussichten für Afrika. Im dritten und wichtigsten Teil geben sie einen kurzen historischen Rückblick und entwickeln die Bedingungen, unter denen Afrika ein Wachstumspol werden könnte. Es folgt ein Überblick über die wichtigsten Politikfelder und schließlich eine Darstellung neuer Möglichkeiten der Ressourcenmobilisierung.

* Afrika und die globale Wirtschaftskrise

Bekanntlich verzeichnet der afrikanische Kontinent seit 2002 jährliche Wachstumsraten von gut 5%, die auch durch die Wirtschaftskrise 2008/2009 nur kurz unterbrochen wurden. Auch 2012 und 2013 soll sich dieser positive Trend weiter fortsetzen – wobei die Krise in der EU einen erheblichen Risikofaktor darstellt. Denn Europa ist noch immer – trotz zunehmender Bedeutung der Süd-Süd-Beziehungen – Afrikas wichtigster Wirtschaftspartner.

Nach wie vor werden die guten Wachstumsergebnisse überwiegend vom Rohstoffsektor und damit von den Exporten bestimmt, auch wenn dies mit anderen günstigen Momenten verknüpft ist: Der Wachstumsschub werde angetrieben „vom Primärsektor und von den Exporten, obwohl auch gutes wirtschaftspolitisches Management, Wirtschaftsreformen, gute Regierungsführung, der Rückgang bewaffneter Konflikte und marktfreundliche Politiken eine Rolle spielen“ (66).

Die Abhängigkeit vom kapitalintensivem Bergbau, der als gesamtwirtschaftliche Enklave kaum Arbeitsplätze schafft und wenig Verbindungen zu anderen Wirtschaftssektoren besitzt (39), erklärt die wachsende Ungleichheit und geringe soziale Wirksamkeit der Expansion: Afrika ist heute nach Lateinamerika der Kontinent mit der größten sozialen Ungleichheit. Die Armutsquote (Anteil der Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar Tagesverdienst) sank von 1990 bis 2005 nur geringfügig von 58 auf 51 %. Die Chancen, die das rasche Wachstum bietet, können bis jetzt wenig in produktive Arbeitsplätze und soziale Verbesserungen umgesetzt werden.

* Was ist ein globaler Wachstumspol?

Die Autoren machen deutlich, dass Afrika nur unter bestimmten Voraussetzungen die Rolle einer weltwirtschaftlichen Triebkraft spielen kann. Kriterien sind neben dem Wachstum auch das quantitative Gewicht in der Weltwirtschaft und die Struktur der afrikanischen Wirtschaft. Was das wirtschaftliche Gewicht angeht, so ist die Analyse des ERA ernüchternd: Das derzeitige Wachstumstempo müsste bis 2034 anhalten, wenn der Kontinent das relative Gewicht Chinas im Jahre 2005 (5% der Weltproduktion) erreichen soll.

Im Rahmen eines kurzen historischen Rückblicks wird daran erinnert, dass Afrika in den 1950er und 1960er Jahren schon einmal als weltwirtschaftlicher Hoffnungsträger galt, im Gegensatz zum armen Asien. Diese Periode kam vor allem wegen der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und der ansteigenden Auslandsverschuldung an ihr Ende und wurde durch eine langanhaltende, von der marktradikalen Strukturanpassungspolitik verschärfte Stagnation abgelöst, die bis Ende der 1990er Jahre andauerte (62).

Der Bericht analysiert – neben makroökonomischen Wachstumsziffern –besonders die strukturellen Voraussetzungen eines ‚globalen Wachstumspols‘. Dabei nimmt er die Strukturen Koreas des Jahres 2005 (für die fortgeschritteneren afrikanischen Länder) bzw. jene Chinas und Indiens (für die ärmeren Staaten) als „benchmark“ und untersucht, welche Strukturveränderungen die einzelnen Länder erreichen müssten: Relativer Rückgang der Landwirtschaft (auf BIP-Anteile zwischen 3,3 bis 15,5 %), Ausweitung der Industrie (auf 24 bis 28 %), Modernisierung des Dienstleistungssektors, Steigerung der Importe von industriellen Vorprodukten, Vergrößerung des Anteils von Industriegütern an den Ausfuhren.

In einer langen Tabelle (83/84) werden alle Länder daraufhin untersucht, wie groß die strukturellen Änderungen sein müssten, um die jeweiligen „benchmarks“ zu erreichen. Demnach müsste z.B. Nigeria den Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP um 828%, Ghana um 270% und Kenia um 213% steigern. Der Anteil verarbeiteter Gütern an den Ausfuhren müsste in Nigeria um 1119%, in Ghana um 294% und in Kenia um 135% ansteigen. Die Herausforderung ist klar: Wenn Afrika ein globaler Wachstumspol werden soll, dann ist nicht bloß starkes Wachstum notwendig, sondern vor allem eine radikale Strukturveränderung weg von der Rohstoffabhängigkeit. Diese Aussage ist nicht neu; indem der ERA aber die Ansprüche Land für Land an der Realität misst, legt er die bestehenden Rückstände in drastischer Form offen.

* Wirtschaftspolitische Herausforderungen und Rolle des Staates

Fortschritte auf diesem Wege erfordern nach Ansicht des ERA entschlossene Maßnahmen auf einer Vielzahl von Gebieten: Verbesserung der Regierungsführung, Investitionen vor allem in mittlere und höhere Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Ausbau der Infrastrukturen, Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität, Intensivierung der regionalen Integration. Das erfordert – und dies ist ein neuer Akzent im Vergleich zu anderen Berichten – die Herausbildung und Stärkung einer „endogenen Unternehmerklasse“ („indigenous entrepreneurial class“), die selbstbewusst mit ausländischen Partnern verhandeln kann: „Afrikanische Regierungen sollten entschlossen eine einheimische Unternehmerschicht unterstützen und fördern…“ (77).

Diese Forderung wird mehrfach aufgestellt, ohne allerdings näher zu beschreiben, wie diese „endogene“ Unternehmerklasse aussehen soll, ob es sie schon heute gibt, welche Rolle sie im Verhältnis zum Staat und zum Rest der Gesellschaft spielt und welche Fördermaßnahmen notwendig wären. Beschworen wird ein Gesellschaftsvertrag („social contract“), der Umverteilung und soziale Rechte beinhalten sollte; die Rolle der jeweiligen Akteure bleibt allerdings unklar – Umverteilung dürfte nicht jedermanns Sache sein. Klar ist nur (das ‚cetero censeo‘ in jedem ERA), dass die notwendigen strukturellen Veränderungen (einschließlich der Herausbildung der Unternehmerklasse) einen starken Entwicklungsstaat erfordern, dass „der Staat eine zentrale Rolle bei Förderung und Leitung erfolgreicher Strukturveränderungen“ zu übernehmen habe (108). Dies sei auch deshalb wichtig, weil die zunehmende Rolle der Süd-Süd-Beziehungen (u.a. zu China) zwar große Chancen biete, diese aber nur von starken und strategisch denkenden Regierungen genutzt werden könnten.

Man könnte es als Defizit des Berichts bezeichnen, dass er die institutionelle Ebene (Staat und Regierung, Zivilgesellschaft, Unternehmertum) nur sehr kursorisch behandelt. Indem er aber die oft recht oberflächlich geführte Debatte über den ‚Wachstumspol Afrika‘ auf ihren wirklichen Gehalt abklopft und auf notwendige Strukturveränderungen verweist, leistet er einen wichtigen inhaltlichen Beitrag zum notwendigen wirtschaftspolitischen Kurswechsel. Die angesprochenen institutionellen Veränderungen sollten in Zukunft vielleicht einmal genauer betrachtet werden.

Hinweis:
* United Nations Economic Commission for Africa/African Union, Economic Report on Africa 2012: Unleashing Africa’s Potential as a Pole of Global Growth, 186 pp, United Nations: Addis Ababa 2012. Bezug über: http://www.uneca.org/

Veröffentlicht: 10.4.2012

Empfohlene Zitierweise:
Jörg Goldberg, Afrika als globaler Wachstumspol? ERA 2012: Überdurchschnittlich interessant, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 10. April 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.