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Der gestörte Zyklus der Weltwirtschaft

Artikel-Nr.: DE20120401-Art.16-2012

Der gestörte Zyklus der Weltwirtschaft

Zwischen Krise und Aufschwung

Vorab im Web – Seit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise im Jahre 2007 hängen die ungelösten Probleme der Finanzmärkte wie ein Damoklesschwert über der Weltwirtschaft. Der dadurch ausgelöste bzw. verschärfte Einbruch der Produktion vor allem in den entwickelten Industrieländern 2008/2009 konnte zwar vergleichsweise rasch aufgefangen werden, seither aber geht die Angst vor erneuten Rückschlägen um. Der Zyklus von Krise und Aufschwung erscheint gestört, schreibt Jörg Goldberg.

Die Wirtschaftspolitik reagiert kopflos: Während versucht wird, die Finanzmärkte durch immer neue und größere Geldspritzen ruhig zu stellen, folgt die Fiskalpolitik dem Spardiktat. Geldpolitische Beschleunigung und fiskalpolitisches Bremsen – das kann auf die Dauer kaum gut gehen. Notwendige Strukturreformen der Finanzmärkte kommen nicht voran. Die Staatsverschuldung, eine Folge der Finanzmarktkrise, wurde zur Krisenursache umdefiniert.

Im Frühjahr 2012 sind die Risiken für die Weltwirtschaft nicht geringer geworden. Einer Besserung in Nordamerika stehen zunehmende Probleme in Europa gegenüber. Die Wachstumsdynamik in den Schwellenländern und die Expansion des Welthandels schwächen sich ab.

* Industrieländer unter Spardiktat

Die Angst in den USA vor einem „double dip“ der Konjunktur, also einem erneuten Einbruch, ist zwar nicht völlig geschwunden, derzeit wird aber mit einem „moderaten“ (Ben Bernanke) Wachstum gerechnet. Vor allem die private Nachfrage hat sich stabilisiert. Andererseits aber bleibt die Situation an den Immobilienmärkten, welche 2007/2008 die Krise ausgelöst hatten, angespannt – so lange hier keine Ruhe eingekehrt ist, kann schwerlich mit einem kräftigen Aufschwung und damit einer nachhaltigen Besserung am Arbeitsmarkt gerechnet werden. Die US-amerikanische Geldpolitik bleibt noch längere Zeit expansiv ausgerichtet, was zwar die Banken und Finanzmärkte stützt, der Realwirtschaft aber kaum hilft. Für eine expansive Haushaltspolitik auf der Ausgabenseite fehlen angesichts der hohen öffentlichen Verschuldung die Spielräume, während einer stärkeren Besteuerung von Spitzeneinkommen und vor allem der Finanztransaktionen die politischen Machtverhältnisse entgegenstehen. Von der Fiskalpolitik werden weiter Bremswirkungen ausgehen.

Japans Wirtschaft laboriert noch immer an den Folgen der Erdbebenkatastrophe und des atomaren Zusammenbruchs von 2011. Gestützt durch milliardenschwere Wiederaufbauprogramme hat die Wirtschaft wieder aufgeholt, der schwächere Yen begünstigt die Exportwirtschaft. Japan ist wohl das einzige größere Industrieland, das trotz eines extrem hohen öffentlichen Schuldenstands fiskalpolitisch weiter einen expansiven Kurs fährt – tatsächlich handelt es sich bei den Schulden fast ausschließlich um Inlandskredite, die zudem zu sehr niedrigen Zinsen vergeben werden. Trotzdem bleibt die Wachstumsdynamik gedämpft, die Industrie erholt sich nur wenig.

Unsicherer als zum Jahresende sind dagegen die Aussichten in Europa. Technisch befindet sich die EU seit Herbst 2011 in einer Rezession, das Bruttoinlandsprodukt ist zwei Quartale hintereinander zurückgegangen. Die OECD erwartet allerdings in ihrem jüngsten Konjunkturausblick (von Ende März), dass sich die Situation in den großen EU-Ländern (vor allem Deutschland und Frankreich) zur Jahresmitte wieder bessern wird. Ursache der EU-Schwäche ist vor allem die von der europäischen Führungsmacht Deutschland verordnete Austeritätspolitik, die inzwischen nicht nur Griechenland, sondern auch Portugal, Spanien, Irland und Italien in einen hartnäckigen Abschwung getrieben hat.

Ein europäisches Wirtschaftsforschungskonsortium aus deutschem IMK, französischem OFCE und österreichischem WIFO erwartet, dass die Produktion in diesen fünf Ländern zwischen 2010 und 2013 um etwa 10% (Irland/Italien), 14% (Spanien/Portugal) und 25% (Griechenland) zurückgegangen sein wird. Auch Großbritannien muss für 2012 mit Stagnation rechnen. Selbst die Niederlande, die sich wirtschaftspolitisch lange hinter dem Rücken des mächtigen Deutschland versteckt hatten, wurden in den letzten Monaten von einem Wachstumseinbruch überrascht. Mit Ausnahme von Deutschland befinden sich die europäischen Arbeitsmärkte in freiem Fall, in einigen EU-Ländern ist fast die Hälfte der Jugend arbeitslos. Vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt zu. Griechenland erlebt sein fünftes Krisenjahr, ohne dass Besserung in Sicht wäre.

* Geldschwemme und stagnierende Investitionen

Während die globalen Finanzvermögen, die dem IWF zufolge 2008 von gut 200 Billionen US-Dollar auf 175 Billionen gesunken waren, schon 2010 wieder 212 Billionen erreichten, bleibt die reale Investitionstätigkeit in den OECD-Ländern auffallend gedämpft. Zwar fahren die Unternehmen – und zwar nicht nur die großen – in den meisten Industrieländern wieder Rekordgewinne ein und sammeln teilweise gewaltige Finanzreserven an (Apples Barmittel von 100 Mrd. US-Dollar sind nur die Spitze des Eisbergs), trotzdem überschreitet das Niveau der Anlageinvestitionen den Krisenstand von 2009 nur wenig.

Vor allem im Euro-Raum und den USA, wo die Bruttoanlageinvestitionen 2009 um 12 bzw. mehr als 15% eingebrochen waren, geht die Erholung an den Investitionen (normalerweise Triebkraft von Konjunkturaufschwüngen) fast vollständig vorbei: Im Euroraum stiegen die Bruttoanlageinvestitionen 2010/2011 um knapp ein Prozent, in den USA um gut fünf Prozent. In den Industrieländern der G7, wo die Investitionsquote, der Anteil der Anlageinvestitionen am Inlandsprodukt, zwischen 2007 und 2009 von 20,5 auf 16,5% eingebrochen war, hat sie sich nur wenig auf etwa 18% (2011) erholt. In den USA, wo die Quote 2009 nur noch 14,7% betragen hatte, erreichte sie auch 2011 nur 15,8%. Das reicht gerade mal zur Erhaltung des Kapitalstocks aus (Daten nach IMF, World Economic Outlook).

Die von den Notenbanken in die Wirtschaft geschwemmten Geldmassen – allein die EZB flutete die Banken kurz nacheinander (Dezember 2011 und Februar 2012) im Rahmen ihrer „Long-Term-Refinancing-Operation“ mit dreijährigen Krediten im Umfang von mehr als einer Billion Euro zu Billigstzinsen von einem Prozent – dienen keineswegs der Realwirtschaft, sondern blähen erneut die Geldwirtschaft auf. Die „Hypertrophie der Finanzmärkte“, das Missverhältnis zwischen Finanz- und Realwirtschaft, ist heute größer als 2007.

Gegen die daraus folgende vergrößerte finanzielle Labilität errichten und vergrößern die Staaten „finanzielle Brandmauern“, welche der von ihnen selbst geförderten spekulativen Kraft der Banken eine wachsende finanzielle Gegenmacht der Regierungen entgegen stellen sollen. Eine erneute Aufstockung des Euro-Rettungsfonds EFSF bzw. EWS erscheint unabwendbar: Die OECD forderte Ende März die EU zur Errichtung der „Mutter aller Brandmauern“ in Höhe von einer Billion Euro auf. Eine erneute Aufstockung der Mittel des Internationalen Währungsfonds steht ebenfalls bevor, die G20 machen ihre Zustimmung aber von einem größeren Euro-Rettungsfonds abhängig.

Die Ursachen der finanzpolitischen Instabilität aber werden durch immer höhere „Brandmauern“ nur überdeckt: Die 2008 angekündigten Vorhaben, Finanzmärkte und Banken stärker zu regulieren und eine neue Finanzarchitektur zu schaffen, kommen nicht voran. Selbst die Hoffnung auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer schwindet wieder: Es wird wohl bestenfalls eine Börsenumsatzsteuer oder Stempelsteuer nach britischem bzw. schweizerischem Muster werden.

* Schwellenländer im „Währungskrieg“

Der Wachstumseinbruch der Industrieländer von 2008/2009 konnte auch deshalb relativ rasch überwunden werden, weil sich die Expansion der Entwicklungs- und Schwellenländer, auf die inzwischen fast die Hälfte der Weltproduktion entfällt, fast ungebremst fortgesetzt hatte. Diese Dynamik aber scheint sich nun abzuschwächen. Schon im Januar hatte der IWF seine Prognosen für die Entwicklungs- und Schwellenländer deutlich nach unten korrigiert. In China und Indien wurden aber für 2012/2013 immer noch Zuwächse von jährlich deutlich über 8 bzw. 7% erwartet. Inzwischen hat die chinesische Regierung das Wachstumsziel 2012 auf 7,5% gesenkt, in Indien wird derzeit noch mit einem Zuwachs von 6% gerechnet. Dies sind immer noch ansehnliche Wachstumsziffern, die aber nicht ausreichen dürften, der lahmenden Konjunktur des Nordens Beine zu machen.

Eine deutliche Abschwächung des Welthandels spiegelt die nur noch langsam zunehmende Absorptionskraft der Märkte der Schwellenländer wider. Wichtige lateinamerikanische Länder wie Brasilien leiden unter der Aufwertung ihrer Währungen, was die Exportwirtschaft belastet und inflationäre Gefahren mit sich bringt. Diese werden durch straffe nationale Geldpolitik beantwortet, was sich negativ auf die Binnenkonjunktur auswirkt. Der Aufwertungsdruck auf die Währungen der Schwellenländer ist ebenfalls eine Folge der Geldschwemme auf den Finanzmärkten: Spekulanten wollen sich angesichts niedriger Zinsen in den Industrieländern die Effekte des Zinsgefälles zu Nutze machen. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff machte unlängst den „monetären Tsunami“ für die zunehmenden Schwierigkeiten Lateinamerikas verantwortlich, der durch die expansive Geldpolitik der westlichen Industrieländer entfacht würde.

* Risikofaktor Ölpreise

Obwohl die meisten Analytiker kurzfristig mit der Fortsetzung einer moderaten Aufwärtsbewegung der Weltkonjunktur rechnen, gestützt vor allem auf eine Stabilisierung der US-Konjunktur, haben sich die Risiken mittelfristig eher vergrößert. Sorge bereiten Anfang April mal wieder die Rohölpreise, die trotz der zeitweiligen Wachstumsabschwächung neue Höchststände anpeilen. Kommt es im Gefolge steigender Energiepreise zu einem erhöhten inflationären Druck, dann würde die expansive Geldpolitik der Notenbanken zur Disposition stehen.

Die Flutung der Finanzmärkte mit Geld ist aber derzeit die einzige Maßnahme, mit der die Wirtschaftspolitik drohenden Krisen des Finanzsystems entgegen steuert. Ging es 2008 um mehr „Kontrolle“ der Finanzmärkte, so lautet das Schlagwort heute „Vertrauen“: Die Politik soll die Finanzmärkte nicht wirksamer regulieren, sondern ihnen vielmehr Vertrauen einflössen. Deutlicher kann man den Bankrott der Politik vor der Macht der Finanzwirtschaft kaum ausdrücken. Möglicherweise ist ja eine neue Finanzmarktkrise notwendig, damit endlich wirksame Schritte zur längst überfälligen Reform der internationalen Finanzarchitektur unternommen werden.

Veröffentlicht: 29.3.2012

Empfohlene Zitierweise: Jörg Goldberg, Der gestörte Zyklus der Weltwirtschaft. Zwischen Krise und Aufschwung, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 2. April 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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