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Der Reichen-Bonus in der globalen Statistik

Artikel-Nr.: DE20120326-Art.14-2012

Der Reichen-Bonus in der globalen Statistik

Wer viel hat, ist mehr wert

Vorab im Web – Die aktuelle Wirtschaftskrise wird auch gerne als „globale Finanzkrise“ bezeichnet. Aber ist sie wirklich „global“? Nein, sagt Branko Milanovic. Seiner Meinung nach führt der statistische Fokus auf den Gesamtoutput einer Wirtschaft zu einer Verzerrung zugunsten der reichen Länder. Er plädiert dafür, den Blick stattdessen darauf zu richten, wie sich weltweit das Pro-Kopf-Einkommen entwickelt.

Man betrachte sich nur einmal, wie die vier Jahre seit der „globalen Krise“ aus dem Blickwinkel nicht westlicher Länder aussehen: In den Ländern südlich der Sahara betrug das reale Pro-Kopf-Wachstum 1,5% jährlich; in Südamerika lag der Wert fast genau so hoch, in Asien sogar bei 3%. Diese Wachstumsraten sind durchaus respektabel, im weiteren historischen Kontext sogar beeindruckend.

* Verzerrung zugunsten der reichen Welt

Zweifellos: In Europa, Nordamerika und Russland stotterte der Konjunkturmotor, und manche Länder verzeichneten (allerdings nicht in jedem Jahr) ein negatives Wachstum. Der weltweite Output sank 2009 um 2%, fing sich aber 2010 und zeigte ein Plus von 2,7%. Für 2011 geht man von einem mindestens genauso hohen Wachstum aus. Sind das Zahlen, die auf eine „globale“ Krise hinweisen?

Die Erholung des weltweiten Output hat sich in den beiden letzten Jahren verlangsamt, da die Krise den reichsten Teil der Welt erfasst hat – den Teil, der mehr Waren und Dienstleistungen produziert als die anderen Teile. Wenn dessen Output sinkt oder stagniert, zieht er das weltweite BIP mit nach unten.

Unsere globalen Wirtschaftsstatistiken sind stark zugunsten des Westens, der reichen Welt, verzerrt. Sie enthalten eine Gewichtung, die selten erkannt wird, die sog. „plutokratische“ Gewichtung, die insgesamt den reicheren Ländern mehr Bedeutung zumisst. Ein einfaches Beispiel zeigt, wie das funktioniert. Angenommen, es gibt zwei Länder A und B mit identischer Einwohnerzahl, aber Land A ist doppelt so reich wie Land B. Nehmen wir weiter an, der Output von Land A sinkt um 10% und der Output von Land B steigt um 10%. Die Gesamtwachstumsrate – die „plutokratische“ Wachstumsrate – läge dann bei -3,3%, das heißt, der Gesamtoutput an Waren und Dienstleistungen wäre um diesen Wert gesunken.

Wie stellt sich die Situation aber aus dem Blickwinkel der Menschen in den beiden Ländern dar? Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass alle Einwohner von Land A und auch alle Einwohner von Land B durch die Veränderung in der Wirtschaftsleistung ihres jeweiligen Landes in gleichem Maße betroffen sind. Das heißt, alle Einwohner in Land A verzeichnen einen Rückgang ihres realen Einkommens um 10%, während das reale Einkommen aller Einwohner von Land B um 10% steigt.

* „Plutokratische“ vs. „bevölkerungszentrierte“ Wachstumsrate

Kumulieren wir die Pro-Kopf-Werte (einschließlich der individuellen subjektiven Wahrnehmung der Verschlechterung oder Verbesserung), zeigt sich, dass die Anzahl der Menschen, die eine Verbesserung erfahren haben, identisch ist mit der Anzahl der Menschen, die eine Verschlechterung erlebt haben. Folglich ist die bevölkerungsgewichtete Wachstumsrate gleich Null – die positiven 10% gleichen die negativen 10% exakt aus.

Die „plutokratische“ Wachstumsrate, die wir normalerweise errechnen, misst exakt den Gesamtoutput einer Wirtschaft. Die „bevölkerungszentrierte“ Wachstumsrate dagegen vermittelt uns einen besseren Eindruck davon, wie das Wachstum oder das Schrumpfen einer Wirtschaft die einzelnen Menschen weltweit betrifft.

Bei der bevölkerungszentrierten Wachstumsrate zählt jeder Einzelne gleich viel. Bei der „plutokratischen“ Wachstumsrate zählt das, was mit dem Einkommen der Reichen passiert, genau so viel mehr wie ihr Einkommen das Einkommen der Armen übersteigt.

In der bevölkerungszentrierten Methode sind es also nicht die reichsten, sondern die bevölkerungsreichsten Länder, die am meisten zählen. Und genau diese bevölkerungsreichen Länder sind es, die in „der schlimmsten Krise seit der Depression“ positive und häufig hohe Wachstumsraten verzeichnet haben.

Zwischen 2007 und 2011 ist das Pro-Kopf-BIP in China um 43%, in Indien um 30%, in Brasilien um 14% und in Indonesien um 7% angestiegen. In diesen Ländern leben fast drei Milliarden Menschen – etwa 43% der Weltbevölkerung. Es überrascht also kaum, dass für den Zeitraum 2007 bis 2011 die bevölkerungszentrierte Pro-Kopf-Wachstumsrate weltweit bei 4% und damit leicht über dem Langzeitdurchschnitt von 1990 bis 2000 liegt.

* Einseitige (mediale) Aufmerksamkeit

Die westlichen Medien beschreiben die Krise als eine globale, und die Länder, die nicht in der Krise sind, spielen, wenn sie überhaupt erwähnt werden, nur eine Nebenrolle: Sie sollen ihre Nachfrage am Leben erhalten, damit die Rezession im Westen nicht noch schlimmer wird. Der Grund, warum das so ist, ist derselbe Grund, warum wir fast nie etwas über den Krieg im Kongo hören. Die Menschen im Westen sind immer noch viel reicher als in anderen Teilen der Welt, und sie sind, wenn sie Nachrichten produzieren oder konsumieren, nur an ihrem eigenen Schicksal interessiert oder am Schicksal von Menschen, die ähnlich sind wie sie selbst.

Dieselben Medien schauten kaum hin, als das russische BIP in den 1990er Jahren – es war nur ein Bruchteil des BIPs der USA oder Westeuropas – abstürzte. Der völlig bedeutungsleere Begriff „Übergangsrezession“ wurde geschaffen, als ob er irgendetwas erklären würde. Die Asienkrise im Jahr 1998 zog schon wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich, weil die „Ansteckungsgefahr“ für die Märkte der Industrieländer gefürchtet wurde. Aber als sich diese Befürchtungen nicht realisierten, schwand das Interesse.

Zwei Jahrzehnte afrikanisches Elend war den Mainstream-Medien kaum eine Zeile wert. Wer weiß schon, dass heute neun afrikanische Länder mit ca. 150 Millionen Einwohnern ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen haben als 1980 — und sieben ein geringeres als 1960? Aber die winzigsten Kursschwankungen am Anleihenmarkt an der Wall Street werden verfolgt, als seien sie Verkündigungen des Herrn.

* Menschen statt Mengen

Ganz offensichtlich haben wir es mit einem weltweiten Ungleichgewicht zu tun. Einem neutralen „wohlwollenden Beobachter“, wie Adam Smith ihn so sinnreich nannte, sollte ein realer Einkommensverlust von 1%, den ein afrikanisches Land verzeichnet, ebenso wichtig sein wie ein Einkommensverlust von 1% in einem ähnlich großen Land des Westens.

Oder vielleicht doch nicht? Sollte es uns von einem „neutralen“ Standpunkt aus tatsächlich mehr interessieren, wenn Bill Gates 1% seines Einkommens verliert, als wenn einem anderem die Arbeitslosenunterstützung um die Hälfte gekürzt wird? Betrachtet man sich die Ozeane von Tinte, die Terabytes von Blog-Posts und die unzähligen Nachrichtensendungen über die „globale“ Krise, könnte man den Eindruck gewinnen, dass das so ist.

Wir sollten unseren Fokus neu ausrichten: Anstatt uns auf den wirtschaftlichen Gesamtoutput zu konzentrieren, so wie wir es jetzt tun, sollten wir uns betrachten, was mit den Pro-Kopf-Einkommen weltweit passiert. Damit hinge die Bedeutung nicht länger vom Einkommen der Einzelnen ab, sondern jedem käme gleich viel Bedeutung zu. Was auf den ersten Blick als statistische Haarspalterei erscheinen mag, würde allerdings dafür sorgen, dass wir nicht mehr auf Mengen schauen, sondern auf Menschen.

© The Globalist

Branko Milanovic ist ein führender Ökonom bei der Weltbank und Gastprofessor an der Universität von Maryland. Sein Buch The Haves and the Have-Nots behandelt die Geschichte der globalen Einkommensverteilung und –ungleichheit.

Veröffentlicht: 26.3.2012

Empfohlene Zitierweise: Branko Milanovic, Der Reichen-Bonus in der globalen Statistik, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 26. März 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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