Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Europäische Union oder Eurozone?

Artikel-Nr.: DE20120823-Art.41-2012

Europäische Union oder Eurozone?

Die "unkonventionellen" Maßnahmen der EZB

Am 26. Juli hat sich die Europäische Zentralbank (EZB) durch ihren Präsidenten, Mario Draghi, dazu verpflichtet, „alles Notwendige zu tun um den Euro zu bewahren.“ Nehmen wir die Erklärung von Mario Draghi beim Wort und sehen uns an, welche Folgen sie kurzfristig und mittelfristig hätte. Und stellen wir anschließend die Frage, ob die EZB tatsächlich die Möglichkeit hat, die gemeinsame Währung zu retten. Von Jacques Sapir.

Das dafür vorgesehene Instrumentarium soll, in Zusammenarbeit mit den Regierungen der Eurozone, zwei Elemente zum Einsatz bringen: zum einen will die EZB Staatsanleihen der Krisenländer auf dem Sekundärmarkt kaufen – eine Politik die gegenüber den Regeln des Maastricht-Vertrags als „unkonventionell“ bezeichnet wird. Zum anderen sollen die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (ESFS) und ihr Nachfolger, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) Staatsanleihen direkt am Primärmarkt, also von den Regierungen, erwerben können. Höhepunkt des „Unkonventionellen“ ist, dass die Hilfsfonds eine Banklizenz erhalten und damit unbegrenzten Zugang zur Finanzierung durch die EZB erhalten sollen. Letzteres liefe auf die Finanzierung insolventer Staaten hinaus und steht im Widerspruch zu den Verträgen.

I. Die Konsequenzen eines direkten Eingreifens der Zentralbank

Angenommen der EZB gelingt es, entweder ihre Statuten über Bord zu werfen oder juristische Formelkompromisse zu finden, die es ihr erlauben, massiv Staatsanleihen der Krisenländer zu kaufen, was geschähe dann?

(a) Etwa eine Billion Euro müssten aufgetrieben werden

Zunächst muss man die Summe ermitteln, die die EZB bereitstellen müsste. Für Spanien hat die Regierung Mariano Rajoys eingeräumt, dass sie bis zum Jahresende 2012 ca. 300 Milliarden Euro benötigt. Was dem einen Land gewährt wird, kann man den anderen nicht verwehren. Griechenland wird sicher eine Summe von etwa 60-80 Milliarden brauchen. Auch Italien ist ein potentieller „Kunde“, der – je nach dem, welchen Zeitraum man zugrunde legt – 500 bis 700 Milliarden benötigt. Alles zusammen also 860 bis 1.080 Euro an Staatsanleihen, die die EZB innerhalb einer ziemlich kurzen Zeit (weniger als sechs Monate) aufkaufen müsste.

Es ist nicht unmöglich, diese Summen zu mobilisieren, aber es auch nicht gerade wenig Geld: insgesamt drei bis vier Mal so viel wie die Summe der Anleihen, die die EZB seit Beginn der Krise aufgekauft hat. Das wäre ein qualitativer, nicht nur ein quantitativer Sprung.

(b) Rekapitalisierung der EZB

Der Effekt auf die Bilanz der EZB wäre beträchtlich. Es würden darin zwischen 1.071 (860 + 211 bereits in der Bilanz) und 1.291 (1.080 + 211 bereits in der Bilanz) Milliarden Staatsanleihen erscheinen. Man kann davon ausgehen, dass zwischen einem Drittel und der Hälfte der Titel im Fall einer Zahlungsunfähigkeit nie wieder zurückgezahlt würden, unabhängig davon, ob diese chaotisch oder geordnet abläuft. Die EZB müsste entweder zugeben, dass sie Geld ex nihilo (aus dem Nichts) schöpft, oder von den Mitgliedstaaten der Eurozone eine Rekapitalisierung in Höhe von 330 bis 650 Milliarden Euro fordern.

Das Problem mit der Geldschöpfung ex nihilo ist nicht, wie oft behauptet wird, das der Inflation, sondern die juristische Frage der Vereinbarkeit einer solchen Funktionsweise der EZB mit der deutschen Verfassung. Denn diese verbietet der Zentralbank, der Bundesbank, diese Art der Geldschöpfung. Man müsste daher entweder die deutsche Verfassung ändern – was politische Probleme und das Risiko eines Scheiterns aufwirft, oder aber sich zu einer Rekapitalisierung durchringen.

Was bedeutet das für die politische Akzeptanz einer solchen Belastung der Staatshaushalte? Im Falle Frankreichs betrüge der Beitrag zwischen 70 und 140 Milliarden Euro.

(c) Liquiditätskrise oder Krise der Wettbewerbsfähigkeit?

Es wird oft behauptet, eine solche Intervention der EZB würde die Krise des Euro lösen. Aber die Liquiditätskrise hat ihren Ursprung in einer Krise der Wettbewerbsfähigkeit. Diese ist es, die die Verunsicherung auf den Märkten hervorruft und zum Anstieg der Zinsen und zur Liquiditätskrise führt. Auf diesem Terrain ist die EZB machtlos. Dauert die Krise der Wettbewerbsfähigkeit an, wird die Liquiditätskrise unvermeidlich wieder aufbrechen.

Seit die EZB begonnen hat, Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten aufzukaufen, ist übrigens kein einziges der Länder, für die diese Operation durchgeführt wurde, wieder an die Finanzmärkte zurückgekehrt. Man müsste sich also dazu entschließen, Griechenland, Portugal, Irland und Spanien und vielleicht Italien dauerhaft zu erlauben, auf die Finanzierungsmöglichkeiten der EZB zurückzugreifen. Die dazu notwendigen Summen wären mittelfristig noch höher als die oben erwähnten und könnten zwischen 2 und 2,5 Billionen Euro erreichen.

(d) Fehlerhafte Diagnose

Wenn man etwas genauer hinschaut, macht eine solche hypothetische Politik der EZB einen großen Irrtum bei der Diagnose der Krise der Eurozone sichtbar. Diese Krise ist keine Staatsschuldenkrise! Es ist eine Krise der Wettbewerbsfähigkeit, die mit den ökonomischen Strukturen und der demographischen Heterogenität in der Region zusammenhängt und die durch die tagtägliche Wirkung der gemeinsamen Währung verstärkt wird. Sie führt in einigen Ländern (Italien, Portugal und – in geringerem Maße – Frankreich) zu einem sehr gebremsten Wachstum sowie zu einer beschleunigten Deindustrialisierung (Irland, Portugal, Spanien, Griechenland und wiederum Frankreich). Mit dem Platzen der „Blase“ der historisch niedrigen Zinsen, die wir von 2002 bis 2008 hatten, haben sich diese beiden Entwicklungen in einen Anstieg der öffentlichen Verschuldung in den betreffenden Ländern verwandelt.

Das Symptom – die Schuldenkrise - zu bekämpfen, verschlimmert nur die Krankheit! Die Maßnahmen, die zur Lösung der Krise ergriffen werden, verschlechtern die Lage: sie stürzen die Länder in die Rezession – wenn nicht in eine Depression. Sie vermindern die Haushaltsressourcen und erhöhen beträchtlich die Arbeitslosigkeit.

Wenn man die Wurzel des Übels, nämlich die Krise der Wettbewerbsfähigkeit, bekämpfen will, muss man sowohl die Folgen für die betroffenen Länder als auch die Kosten von Finanztransfers in Rechnung stellen. Eine „unkonventionelle“ Politik der EZB ist möglich. Aber sie bedeutet eine qualitative Wende, deren Konsequenzen noch nicht durchdacht sind, aber dennoch eine Lösung der Krise der Eurozone bringen sollen. Die einzige Perspektive, die damit angeboten wird, ist das sich dauerhafte Einrichten in der Krise.

II. Die Krise der Wettbewerbsfähigkeit wird entweder den Euro oder die EU zerstören

Es steht nicht in der Macht der EZB, die Eurokrise zu lösen. Selbst Maßnahmen, die mit solchen der Mitgliedsländer kombiniert werden, bieten keineswegs eine Lösung. Entweder wird Europa nach einem „verlorenen Jahrzehnt“ wie wir es aus der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre kennen, auseinanderbrechen, oder die Eurozone wird aufgelöst.

(a) Die Sackgasse der Lohnkostendeflation

Die Krise der Wettbewerbsfähigkeit äußert sich in den Handelsbilanzdefiziten der Euroländer (außer bei Deutschland) und im Anstieg des deutschen Saldos bei Target-2 (1).

Die Politik der Lohnkostensenkung wird bereits jetzt in der Eurozone (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien) mit katastrophalen Konsequenzen praktiziert. Das drastische Schrumpfen der Inlandsnachfrage führt nicht nur zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, sondern darüber hinaus zum Sinken der Produktivität. Darauf folgen wiederum neue Anpassungsmaßnahmen, deren Effekte auf die Arbeitslosigkeit sich zu den vorherigen aufsummieren.

In zehn Jahren muss man sich unter Einbeziehung indirekter und nicht nur direkter Effekte demnach auf eine Arbeitslosenquote von 52% in Griechenland, 35% in Portugal, 32% in Spanien, 22% bis 25% in Frankreich und Italien einstellen. Diese Quoten sind ungefähr die gleichen, wie bei der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren.

(b) Massive Haushaltstransfers sind politisch nicht durchsetzbar

Eine andere Lösung, die in Einklang mit einer gemeinsamen Währung stünde, wäre die Etablierung von Finanztransfers von den Überschuss- in die Defizitländer. Allerdings ginge es dabei um enorme Summen. Für eine Unterstützung Spaniens wären es schätzungsweise 10,8% des spanischen BIP; für Italien 13,1% des italienischen BIP; für Portugal entsprechend 12,3% und für Griechenland 6,1%. Unter Berücksichtigung der Lohnkostenniveaus, der Struktur und der Höhe der Gewinne, der Löhne und der Struktur des BIP würde eine solche Politik Deutschland 12,7% seines BIP (2012) in Haushaltstransfers zu den vier Krisenländern kosten. Es sei hier darauf hingewiesen, dass eine Auflösung der Eurozone nur 2% bis 2,5% des BIP Deutschlands kosten würde, wenn sie mit Abwertungen in verschiedenen Ländern verbunden wäre.

Es ist deshalb nicht überraschend, dass eine absolute Mehrheit der Deutschen sich heute gegen die Gemeinschaftswährung ausspricht (51% dagegen, 29% dafür). Der politische Widerstand Berlins gegen Transfermaßnahmen wird sich daher in den nächsten Wochen verhärten. Die genannten Summen würden der deutschen Wirtschaft das Genick brechen und sind politisch offensichtlich unmöglich.

(c) Wiederholt sich die Weltwirtschaftskrise?

Die europäischen Länder stehen vor folgender Alternative: entweder geht die Europäische Union unter, oder die Eurozone wird aufgelöst. Wenn die gegenwärtige Politik fortgesetzt wird, gerät die Eurozone und mit ihr die EU in eine Rezession und dann in eine lang anhaltende Depression. Der Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre drängt sich auf. Das politische Gewicht der EU wird sich beträchtlich verringern und die Alte Welt wird zum „Kranken Mann der Weltwirtschaft“.

Die Europäische Union wird den Folgen dieser Krise nicht standhalten. Nach und nach werden einzelne Länder den Euro verlassen. Das erste wird zweifellos Griechenland sein. Portugal und Spanien werden folgen. Die „unkonventionellen“ Maßnahmen der EZB werden die Zahlungsfähigkeit in keinem der beiden Länder wieder herstellen. Die Finanzspekulation wird neue Höhen erreichen und unilaterale Maßnahmen seitens dieser Länder (einschließlich Schuldenstreichungen) werden sich ausbreiten wie Ölflecken. Nach und nach werden alle konstitutiven Elemente der EU in Frage gestellt werden.

Wenn demgegenüber eine koordinierte und konzertierte Politik der Auflösung der Eurozone stünde, nähme diese die Form eines europäischen Projekts an. Indem den betroffenen Ländern Anpassungsmaßnahmen durch Abwertungen ermöglicht würden – und zwar zu einem geringeren Preis bei der Arbeitslosigkeit – würde dies erlauben den Kern der EU zu bewahren. Eine solche Politik würde die Perspektive eröffnen, mittelfristig eine Form monetärer Integration mit einer gemeinsamen Währung auf einer flexibleren Grundlage zu verwirklichen.

(d) Eine Frist von höchstens drei Jahren

Die „unkonventionelle“ Politik wird das Ende des Euro lediglich zwei bis drei Jahre hinauszögern, vorausgesetzt sie wird überhaupt implementiert. Man muss sich deshalb die politische Frage stellen, ob sich der Einsatz lohnt. In diesen drei Jahren werden wir mit einer schlimmeren Krise konfrontiert sein als jetzt und mit einer besonders negativen Entwicklung in Frankreich.

Mehrere Ökonomen, darunter die beiden Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugmann, haben darauf hingewiesen, dass die Fortsetzung der gegenwärtigen Politik zur Rettung des Euro kriminell ist. Wir beschränken uns hier darauf festzustellen, dass die geplanten Maßnahmen der EZB, wenn überhaupt, zu spät kommen und keinerlei Lösung für die Grundprobleme der Eurozone bringen.

Sowohl die ökonomische wie die politische Vernunft verlangen, dass man nicht das Risiko eingeht, die EU auseinanderbrechen und die Widersprüche zwischen Deutschland und den anderen Ländern sich verschärfen zu lassen. Die Auflösung der Eurozone ist heute, wenn sie denn bis Ende 2012 als europäisches Projekt verwirklicht würde, die einzige Lösung, wenn ein Desaster verhindert werden soll.

(1) TARGET (Trans-european automated real-time gross settlement express transfer system) ist eine Art Clearing-System der EZB zwischen den Zentralbanken. Die Ungleichgewichte tauchen in der Black Box von TARGET sowohl als Handelsüberschüsse und –defizite, d.h. als Kapitalflüsse innerhalb des Währungsraums auf.

Jacques Sapir ist Leiter des Centre d'études des modes d'industrialisation (CEMI-EHESS) in Paris. Sein Beitrag erschien zuerst in „Mémoire de luttes“ (http://www.medelu.org/Meme-des-politiques-non). Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung. Übersetzung aus dem Französischen: Peter Wahl

Veröffentlicht: 23.8.2012

Empfohlene Zitierweise:
Jacques Sapir, Europäische Union oder Eurozone? Die "unkonventionellen" Maßnahmen der EZB, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 23. August 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.