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Myanmar - neuer Liebling des Westens

Artikel-Nr.: DE20120115-Art.03-2012

Myanmar - neuer Liebling des Westens

Über ein reiches Land und ein armes Volk

Auch im Web – Nach Jahrzehnten der Isolation, die die wichtigsten OECD-Länder aus Sorge um die Menschenrechtsverletzungen auferlegt hatten, erscheint Myanmar plötzlich als neuer Liebling des Westens, jedenfalls wenn man die rasche Abfolge der Besuche offizieller Politiker und anderer Gurus nimmt – darunter die US-Außenministerin, der britische Außenminister, hochrangige Regierungsmitglieder aus Frankreich, Norwegen und anderen Ländern. Von Gabriele Köhler.

Auch der UN-Generalsekretär könnte bald kommen. Die Weltbank wird gedrängt, ihre Arbeit in dem Land wieder aufzunehmen, was wegen der Sanktionspolitik bislang nicht möglich war. Und eine Gruppe neuer Investoren wartet darauf, so bald wie möglich ins Land zu kommen.

* Öffnung und Reformen

Dieser plötzliche Enthusiasmus nach Jahren der Ächtung und Ausgeschlossenheit des Landes von jeglicher bi- oder multilateraler Entwicklungszusammenarbeit (außer humanitärer Hilfe) ist die Antwort auf die – willkommenen – Veränderungen einer Regierung, die 2011 im Zuge eines orchestrierten Wahlprozesses an die Macht kam. Die jüngsten Reformen beinhalten die Freilassung einiger politischer Gefangener, die Wiedereinsetzung der Menschenrechtskommission Myanmars, die Schwächung der Zensur und die Öffnung der Zugänge zum Internet, die Annahme eines Gewerkschafts- und Streikgesetzes, die Suspendierung eines gemeinsam mit China betriebenen, umweltschädlichen Staudammprojekts und andere Schritte. Die Dissidentin Aung San Suu Kyi, die seit ihrem Wahlsieg 1990 bis 2010 ständig unter Hausarrest stand und seither jeglichen Umgang mit der unterdrückerischen Regierung verweigert hatte, hat sich der neuen Lage angepasst und ist zunächst heimlich, dann öffentlich mit Präsident Thein Sein zusammengetroffen. Im November schließlich kündigte sie an, dass sie und ihre Partei bereit wären, zu den Nachwahlen 2012 anzutreten.

* Übergang zum neoliberalen Kapitalismus…

Man sollte hoffen, dass die Kehrtwende der westlichen Mächte einem echten Engagement für Frieden und demokratische Reformen entspringt. Doch man muss wohl befürchten, dass der Positionswechsel in Wirklichkeit genauso stark oder stärker durch die plötzliche Erkenntnis inspiriert ist, dass vor allem China, aber auch Thailand, Singapur und Indien schonungslos von den überreichlichen Naturressourcen Myanmars profitiert haben – von Erdgas, Wasserkraft, Edelsteinen, Immobilien für industrielle Produktionszonen und Tourismus, nicht zu vergessen die geostrategische Position des Landes mit seinem Zugang zum Indischen Ozean, während die Wirtschaft in den USA und Europa lukrative Geschäfte und Investitionsmöglichkeiten vermisst.

Politische und wirtschaftliche Reformen sind miteinander verwoben, und die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, dass die wichtige Bewegung für bürgerliche Freiheiten, Demokratie und die Garantie der grundlegenden Menschenrechte oft vermischt und verwechselt wird mit Maßnahmen zur Einführung eines neoliberalen Kapitalismus und zur Öffnung eines Landes für die ökonomischen Interessen einzelner und multilateraler Investoren. Es besteht das Risiko, dass Myanmar derselben Reihe zweifelhafter politischer Ideen ausgesetzt wird – insbesondere jetzt, wo viele Sozialstaaten Europas sich selbst einen brutalen Austeritätskurs verordnet haben, mit massiven Kürzungen im öffentlichen Sektor und einer Einfrierung der Löhne und Sozialtransfers.

* …oder zu einem demokratischen und entwicklungsorientierten Sozialstaat?

Gleichwohl hat ein Land, das wie Myanmar mit wertvollen Ressourcen ausgestattet ist, die Mittel, um seinen politischen Spielraum innovativ zu nutzen und einen demokratischen und entwicklungsorientierten Wohlfahrtsstaat zu schaffen. Wie ein führender burmesischer Ökonom, der gleichzeitig Vorsitzender des neuen Wirtschaftsbeirats ist, es ausgedrückt hat: Myanmar ist ein reiches Land mit einer armen Bevölkerung (U Myint 2011). Es hat die fiskalischen Ressourcen, um seine sozioökonomische und makroökonomische Politik an den Zielen von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung auszurichten. Es könnte eine proaktive Arbeitsmarktpolitik einführen, um menschenwürdige Arbeit im öffentlichen Sektor zu schaffen (Gesundheit, Bildung, Sozialdienste, Zivilverwaltung), um die Infrastruktur in den ländlichen Regionen aufzubauen und die öffentlichen Verkehrsmittel zu verbessern; es könnte Innovationen in der ländlichen Ökonomie finanzieren und verbreiten und Exzellenzzentren für Forschung und Entwicklung schaffen. Alle diese Bereiche wurden jahrzehntelang schwer vernachlässigt – durch die Fehlleitung von Investitionen ins Militär, in unterdrückerische Kriege gegen ethnische Minderheiten, in den Polizeistaat und in jüngster Zeit in Industrieparks, die die Ressourcen an sich banden statt Beschäftigung und Technologie im Land zu verbreiten.

Myanmar könnte die Einführung einer aufgeklärten Form regierungsgesteuerter „Industrialisierungsstrategie“ erwägen und dabei – entsprechend der eigenen politischen Optionen – auf einigen der ost- und südasiatischen Entwicklungswege aufbauen. Ein solcher Ansatz würde beispielsweise bestimmte Sektoren selektiv fördern und Bereiche für heimische und internationale Investitionen definieren, während zugleich verlangt würde, dass Beschäftigung, menschenwürdige Arbeit und Innovationstransfer gewährleistet werden. Die kürzliche Einführung von Sozialstandards würde gut zu einer solchen Strategie passen, wenn die Bevölkerung, die derzeit von einem der niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen Südostasiens leben muss, in den Genuss menschenwürdiger Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, von Löhnen und Gehältern käme, die mit dem wirtschaftlichen Wohl des Landes insgesamt vereinbar wären.

* Verbindung von menschenwürdiger Arbeit und sozialer Sicherung

Myanmar hat ebenfalls die Mittel, die soziale Sicherung zu verallgemeinern, wenn es das will. Dies ist notwendig aus Gründen sozialer Gerechtigkeit und weil derzeit nur 1% der Bevölkerung unter Bedingungen sozialer Sicherheit leben. Solche Leistungen wurden jüngst für den Regierungssektor angehoben; auch bekommen einige Gruppen armuts- oder bedürfnisabhängige Einkommenstransfers; doch es gibt keine systematische Gesundheitsversicherung oder Unterstützung im Falle von Einkommensarmut (Nishino and Koehler 2011).

Eine interessante Idee, die sich gegenwärtig im globalen Entwicklungsdiskurs durchsetzt, ist die UN-Initiative für einen Sockel sozialer Sicherung – ein Konzept, das ein garantiertes Grundeinkommen vorschlägt, zusammen mit garantiertem Zugang zu hoch qualifizierten, inklusiven sozialen Leistungen. Myanmar könnte den „Sockel“ entsprechend der Interessen seiner Bürger definieren.

Eine Kombination der Decent-Work- und der Sozialsicherungsagenda könnte helfen, die bittere Armut, die Einkommensungleichheit des Landes, die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land und vielleicht auch die verbreiteten und sogar gewaltsamen Formen der sozialen Exklusion in den Bergregionen anzugehen. Die beiden Agenden könnten zu einem Instrument der sozialen Inklusion wie auch zur Förderung einer ökologisch nachhaltigen und weg von der lukrativen, aber schädlichen Drogenproduktion werden.

Gabriele Köhler ist Entwicklungsökonomin und Visiting Fellow am Institute of Development Studies, Sussex.

Hinweise:
* Nishino, Yoshimi and Gabriele Koehler, 2011: Social Protection in Myanmar: Making the Case for Holistic Policy Reform. IDS Working Paper. Bezug: über www.ids.ac.uk/idspublication
* U Myint, 2011: New Economic Perspectives for Myanmar. ASEAN 2030: Report Finalization Workshop. ADB. Manila. 14-15 December 2011

Veröffentlicht: 15.1.2012

Empfohlene Zitierweise: Gabriele Köhler, Myanmar - neuer Liebling des Westens, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 15. Januar 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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