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Remember Rio 1992: Kein Anlass zur Nostalgie

Artikel-Nr.: DE20120501-Art.22-2012

Remember Rio 1992: Kein Anlass zur Nostalgie

Zur Paradoxie nachhaltiger Entwicklung

Die Konferenz der Vereinten Nationen zu Umwelt und Entwicklung (UNCED) von 1992 wird mittlerweile von vielen zu einem mythischen Ereignis verklärt. Das ist geschichtsvergessen. Die beim Rio-Erdgipfel 1992 versammelte internationale Ökologie- und Entwicklungsbewegung hat damals die Ergebnisse keinesfalls in Gänze positiv bewertet. Es war schnell deutlich, dass Rio '92 nicht der historische Scheideweg für eine globale Ökologie- und Gerechtigkeitspolitik war. Ein Essay von Barbara Unmüßig und Wolfgang Sachs.

Die erhoffte Friedensdividende blieb aus. Rio '92 offenbarte hingegen nach dem Ende des Ost-Westkonflikts zum ersten Mal auf der großen Weltbühne die massiven Interessensgegensätze und Konfliktlinien innerhalb der OECD-Welt (Industrieländer) und den G77+ (Klub der Schwellen- und Entwicklungsländer) – zwischen Nord und Süd. Sie machte die unzähligen nationalstaatlichen und wirtschaftlichen Partikularinteressen offenkundig. Konzeptionelle Widersprüche und viele Kompromisse bestimmten die Agenda und Entscheidungen.

* Der Rechtsrahmen von Rio

Die in Rio unterzeichnete Klimarahmenkonvention sollte eigentlich schon damals konkrete CO2-Reduktionsziele beinhalten. Das scheiterte am Veto der USA. Damalige Überlegungen, eine solche Konvention auch ohne die USA zu verabschieden, erinnern fatal an die heutigen quälenden und zähen Debatten im multilateralen Klimaschutz. Die Konvention zum Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt verpflichtet zwar zum Schutz von Ökosystemen, Arten und genetischer Vielfalt. Sie ist aber bis heute nicht von den USA ratifiziert. Der Verlust der biologischen Vielfalt geht ungebrochen weiter. Die Konzentration des genetischen Wissens in den Händen weniger Konzerne (durch Prospektion, Patente usw.) konnte nicht gestoppt werden. Die Konvention zur Bekämpfung der Desertifikation, damals ein Zugeständnis an Entwicklungsländer, ist beinahe bedeutungs- und vor allem wirkungslos.

Dennoch haben all diese Konventionen von 1992 einen wichtigen völkerrechtsverbindlichen Rahmen geschaffen. Das ist gut so, denn die grenzüberschreitenden Klima- und Ökokrisen brauchen einen multilateralen Aushandlungskontext. Die Agenda 21, ein 300 Seiten starkes Kompendium, ist das Herzstück der ersten Rio-Konferenz. Sie umreißt einen Aktionsplan für nachhaltige Entwicklung in zahlreichen Sektoren. Sie war Antrieb für viele kommunale Umsetzungsinitiativen, die Lokale Agenda 21. Menschen forderten auch vor Ort die Teilhabe an einer ökologischen und gerechteren Kommunalpolitik. Einige der Bündnisse der Städte und Gemeinden – auch transnationale – bestehen bis heute.

Die Rio-Erklärung von 1992 hält wichtige Orientierungen für wirtschaftliches Handeln wie das Vorsorge- und Verursacherprinzip fest. Sie werden allerdings nicht konsequent genug umgesetzt. Andernfalls wäre in den letzten 20 Jahren sicherlich weniger ökologische Zerstörung und Verschmutzung der Bio- und Atmosphäre zu verzeichnen. Die Agenda 21 beschreibt konkrete Handlungsfelder und zeigt Wege auf, wie mit nachhaltiger Entwicklung Armut und Ungleichheit überwunden und gleichzeitig der Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen garantiert werden kann.

* Der Kardinalfehler

Die Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) aus dem Jahr 2000 haben diesen Konsens von 1992 leider nicht fortgesetzt und sind, was ökologische Ziele angeht, weit hinter das in Rio Erreichte zurückgefallen. Was soziale und ökologische Ungleichheit und Armut auf dem Globus angeht, haben sich trotz regional erheblicher Unterschiede die großen Trends nicht geändert. Auf das unterste Fünftel der Weltbevölkerung verteilen sich gerade einmal 2% des globalen Einkommens. Und es sind immer noch circa 25% der Weltbevölkerung, die für Dreiviertel der weltweiten Kohlendioxidemissionen verantwortlich sind, auch wenn die Schwellenländer aufgeholt haben. Für diejenigen Millionen Menschen, die unmittelbar von natürlichen Ressourcen leben, hat sich die Lebenssituation durch den Klimawandel, die Bodenerosion, den Wassermangel, die Abholzung der Wälder, den Artenverlust sowie durch Landnahme vielfach verschlechtert, nicht verbessert.

Im Rückblick auf den Erdgipfel von Rio 1992 kann ein verhängnisvoller, aber historisch gleichwohl unvermeidbarer Fehler ausgemacht werden: Das Konzept von „Entwicklung als Wachstum” wurde nicht in Frage gestellt. So stand schon die Konferenz unter dem programmatischen Titel „Umwelt und Entwicklung”, und in der Erklärung von Rio wurde der Begriff der „nachhaltigen Entwicklung” proklamiert. Das Recht auf Entwicklung wurde auf das Podest gestellt, und es wurde viel diplomatisches Feingefühl darauf verwendet, sicherzustellen, dass kein Satz als Plädoyer gegen Entwicklung ausgelegt werden konnte.

So wichtig es ist, die Wechselwirkungen von Umwelt und Entwicklung zu adressieren: Sie sind nicht widerspruchsfrei. Unter der Zweideutigkeit des Entwicklungsbegriffs verschwand, dass „Entwicklung” eben nicht automatisch in Harmonie zu „Umwelt” steht. Auf der einen Seite heißt „Entwicklung”, Wolkenkratzer hochzuziehen, Hochleistungssorten zu züchten und jede Menge Autos zu fahren - „nachholende Entwicklung“ eben. Auf der anderen Seite Wasserbrunnen zu bauen, Krankenstationen einzurichten und den Transport zum Regionalmarkt zu erleichtern. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung hat offen gelassen, worum es geht: um „Entwicklung als Wachstum” oder um „Entwicklung als Gerechtigkeit”? Wer soll teilhaben, wer soll von ihr profitieren? Wie soll Verteilungspolitik global, regional und lokal gestaltet werden?

Das Konzept der Entwicklung gibt darüber keine Auskunft; es ist von einer monumentalen Leere. Wenn beide Entwicklungsperspektiven in eine konzeptionelle Hülle gepackt werden, kann dies nur zu Verwirrung oder zu politischer Verschleierung führen. Die Rede von der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie ist ein Ergebnis davon. Eine Reihe der Defizite Rios rührt von diesen Zweideutigkeiten des Entwicklungskonzepts her.

* Nachhaltigkeit: Worthülse für Alles und Jedes

Bald avancierte vor allem Nachhaltigkeit auch bei uns in Deutschland zu einem Modewort. Es wurde eine Worthülse für Alles und Jedes: nachhaltige Renten, nachhaltige Haushalte - ein beliebiger Begriff, seiner ursprünglichen emanzipatorischen und innovativen Kraft entkleidet. Die Intention, ökologische, soziale, ökonomische und kulturelle Dimensionen für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften – ob in Nord, Süd, Ost oder West – zusammen und in ihren Wechselwirkungen zu gestalten, ist verloren gegangen und nie in politisches Handeln umgesetzt worden. Außerdem war mit „Entwicklung als Wachstum” vorgezeichnet, dass der Süden dieser Welt dem Norden nachfolgen muss; schlimmer noch, dass die armen Länder nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie den Übergang von der agrarischen in eine moderne Gesellschaft auf dem Weg einer fossilen Industriealisierung forcieren.

Sämtliche Vereinbarungen von Rio'92 kommen doppelgesichtig daher: Sie rufen einerseits die ökologische Wende aus und unterstreichen anderseits den Wert von Wirtschaftswachstum, Freihandel, Privatisierung und Deregulierung. Binnen zweier Jahre hat sich diese Doppelgesichtigkeit aufgelöst: Marrakesch hat Rio geschlagen. Denn in Marrakesch traten dieselben Regierungen, die sich in Rio noch als die Retter der Erde in Szene gesetzt hatten, als Verkäufer der Erde auf. Mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im Januar 1995 gingen sie Verpflichtungen ein, deren unbeabsichtigte Auswirkungen auf einen schnelleren Ausverkauf des Naturerbes weltweit hinausliefen. Was immer an Gewinnen nach Rio zu verzeichnen war, wurde so rasch von den Wellen der Globalisierung weggespült. So erklärt sich das Rio-Paradox: Rio war gut für die Rhetorik, doch Marrakesch wurde in die Tat umgesetzt.

* Der Rio-Deal ist geplatzt

Beim Erdgipfel 1992 haben die Industrieländer zwar erstmals in der Geschichte die Hauptverantwortung für die globale ökologische Krise übernommen. Entlang des ebenfalls in der Rio-Erklärung erstmals verankerten Prinzips der „gemeinsamen aber differenzierten Verantwortung" haben sie zugesagt, den Hauptteil der strukturell notwendigen Veränderungen beim Emissionsausstoß und Ressourcenverbrauch zu tragen und eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Zugesagt haben sie auch, nach dem Prinzip der Hilfe den Technologietransfer und Entwicklungshilfe insgesamt zu erweitern.

Der industrialisierte Norden hat den Rio-Deal gleich in mehrfacher Hinsicht platzen lassen: Nirgendwo hat das Prinzip der geteilten Verantwortung und Lastenteilung und das Versprechen des Vorreiters so drastisch versagt, wie beim Klimaschutz. Die CO2-Emissionen der Industrieländer sind kontinuierlich gestiegen statt notwendigerweise drastisch zu sinken. In den vergangenen Jahren ist es weltweit zum höchsten Anstieg der CO2-Emissionen gekommen – und das nicht nur in Schwellenländern wie China. Daten der Internationalen Energieagentur zufolge erreichten die Emissionen 2010 weltweit einen Spitzenwert von 30,6 Gigatonnen. Das Pledge-and-Review-Verfahren, das 2009 mit dem Kopenhagen-Akkord avisiert wurde, hat bislang am Klimawandel nichts geändert und zu einer eklatanten Lücke (Gigaton Gap) von bis zu zehn Gigatonnen geführt, die eigentlich reduziert werden müssten, wenn wir die vom IPCC geforderten Ziele – eine Senkung von mindestens 25 bis 40% für die Industriestaaten bis 2020 (verglichen mit den Zahlen für 1990) – annähernd erreichen wollen. Zudem hinken die finanziellen Transferleistungen weit hinter den mehrfach wiederholten Zusagen zurück. Der Norden liefert bis heute nicht. Der berechtigte Wunsch nach (Klima- und Ressourcen-)Gerechtigkeit und Anerkennung dominiert bis heute jede multilaterale Verhandlung – so auch den Rio+20-Prozess.

Rio '92 eignet sich daher nicht als nostalgische Projektionsfläche. Wer heute den Begriff der nachhaltigen Entwicklung wieder aus der Kiste holt, wie das viele Süd-Regierungen und Nichtregierungsorganisationen tun, will zwar das Anliegen der sozialen Dimension und globale wie innergesellschaftliche Gerechtigkeitsaspekte transportieren. Die Interpretationsbreite des Begriffs, seine willkürliche und vielfältige Verwendung –- Entwicklung als Wachstum, nachhaltiges Wachstums – ist jedoch nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Es ist den zivilgesellschaftlichen Organisationen in den letzten Jahren nicht gelungen, den Begriff schärfer zu fassen und ihn als „Entwicklung der Gerechtigkeit" zu definieren. Ein einstmals emanzipatorischer und systemkritischer Begriff der 1980er Jahre wurde von der Realpolitik und Realwirtschaft sowie von den vorherrschenden Institutionen und Denkweisen absorbiert und mit ihnen genehmen Inhalten und der ein oder anderen Reformoption besetzt. Daran sollten wir uns erinnern, wenn nun Nachhaltige Entwicklung gegen Grüne Ökonomie, das neue Schlagwort des Rio+20 Prozesses, ausgespielt wird.

Barbara Unmüßig ist Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung. Prof. Wolfgang Sachs ist ehemaliger Leiter des Berliner Büros des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt Energie und lebt als freier Autor in Rom. Das Essay ist eine Vorabveröffentlichung aus dem demnächst in der Schriftenreihe der Heinrich-Böll-Stiftung erscheinenden Band: Barbara Unmüßig/Wolfgang Sachs/Thomas Fatheuer, Jenseits des Erdgipfels 2012: Was in Rio NICHT gesagt wird.

Veröffentlicht: 1.5.2012

Empfohlene Zitierweise:
Barbara Unmüßig/Wolfgang Sachs, Remember Rio 1992: Kein Anlass zur Nostalgie, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 1. Mai 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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Hinweis:


Zugleich erscheint eine Reedition unserer UNCED-Sonderdienst-Serie "Maracujà", mit der wir den Erdgipfel vor 20 Jahren vorbereitet und ausgewertet haben: Reedition nach 20 Jahren: UNCED-Serie "Maracujá".