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Vor einer neuen Nahrungsmittel-Krise…

Artikel-Nr.: DE20120814-Art.40-2012

Vor einer neuen Nahrungsmittel-Krise…

… und am Beginn einer neuen Spekulationswelle?

Von wegen Sommerloch: Fast über Nacht ist die Angst vor einer neuen Nahrungsmittel-Krise zurückgekehrt. Neu aufgeflackert ist auch die Kontroverse: Pflanzentreibstoffe oder Lebensmittel? Und auf den Finanzmärkten hat eine neue Welle der Spekulation mit Nahrungsmittel-Titeln eingesetzt. Jetzt zeigt sich, wie unzulänglich die seit der letzten Nahrungsmittel-Krise von 2008 beschlossenen Vorkehrungen sind, schreibt Rainer Falk in einer Nachrichtenanalyse mit Agenturinformationen.

Ausgerechnet Mais ist der Grundstoff für eine Kategorie von Finanzprodukten, mit denen sich in den fünf Jahren seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise die höchsten Renditen erzielen ließen. Nach Angaben der Deutschen Bank stiegen die Mais-Titel mit 146% noch stärker an als Gold (144%) oder Öl (55%), ganz zu schweigen von US- oder Bundesanleihen (38 bzw. 26%). Und je dramatischer die Meldungen von der Jahrhundertdürre im Maisgürtel des Mittelwestens in den USA werden, desto stärker wächst die Furcht, dass dies zu einer neuen spekulativen Blase an den Finanzmärkten führen könnte und zu Preisen, die weit über dem liegen, was durch die Dürre gerechtfertigt wäre.

* Prekäre Agrarproduktion

Der aktuelle Hotspot der Krisenängste ist die Maisproduktion in den USA. Dort hat die schlimmste Dürre seit 60 Jahren zugeschlagen. In den betroffenen Regionen finden fast 90% des US-Maisanbaus statt. Nach den neuesten Prognosen des US-Landwirtschaftsministeriums wird die Maisernte so niedrig ausfallen wie seit 1995 nicht mehr. Der Preis für ein Bushel Mais zum Erntezeitpunkt wird auf 8,90 Dollar vorhergesagt, 39% über der Prognose einen Monat zuvor. Mais-Futures an den US-Börsen haben bereits Rekordwerte erreicht.

Die Dürre betrifft auch andere Früchte, wie z.B. Sojabohnen, und andere Bereiche der Agrarproduktion, wie die Viehwirtschaft. So finden 44% der US-Viehzucht in den von der Dürre betroffenen Regionen statt. Mais ist lebenswichtig als Futtermittel und Bestandteil vieler anderer Lebensmittel. Deshalb wird auch mit Preissteigerungen bei Geflügel, Fleisch und Milch sowie zahlreichen verarbeiteten Lebensmitteln gerechnet.

Aufhorchen lässt, dass der wichtige Lebensmittelpreis-Index der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) im letzten Juli um 6% gestiegen ist, nachdem er drei Monate hintereinander gefallen war. Die Trendwende? Während der FAO-Getreidepreisindex im Juli um 17% anzog (und damit nur noch 14 Punkte unter dem Allzeithoch im April 2008 lag), sind die Reispreise bislang stabil und die Lagerhaltung relativ hoch.

Die US-Maisproduktion ist derzeit zwar der krasseste Fall weltweit, aber nicht der einzige. Auch Russlands Getreideernte – zumeist Weizen – leidet in diesem Jahr unter trockenem Wetter und Überschwemmungen in Süden. Ähnlich sieht es in der Ukraine und in Kasachstan aus. In Indien bleiben die für die Landwirtschaft wichtigen Monsoon-Regen 19% niedriger als im Durchschnitt der Vorjahre. Und auch Australien, ein wichtiger Weizenexporteur, kämpft mit der Dürre.

Noch möchte die FAO nicht davon sprechen, dass das Stadium einer Nahrungsmittel-Krise bereits erreicht ist. Doch die Lage könnte sich schnell zuspitzen, zumal es nicht nur um die Folgen einer Dürre geht.

* Schnelles Geld mit dem Hunger

Was der einen Furcht, ist der anderen Hoffnung. Vor allem Hedgefonds-Manager sehen in der kritischen Agrarlage neue Investmentmöglichkeiten. Zu den Gewinnern des „Mais-Monopolys“ in diesem Sommer gehören beispielsweise die Hedgefonds Galtere – ein 550 Mio. Dollar schwerer, rohstoffbasierter globaler Makrofonds – und Woodbine Capital Management, ein 500-Mio.-Dollar-Fonds. Die Börsenkurse von Teucrium Corn, der wichtigste ETF-Fonds, der die Maispreise treibt, sind seit Juni bereits um 46% gestiegen.

Die neue Spekulation mit Mais läuft seit letztem Monat. Am 1. August belief sich nach Angaben der US Commodities Futures Trading Commission das Gesamtengagement der Hedgefonds und anderer großer Spekulanten mit Mais auf 11,3 Mrd. Dollar, verglichen mit 3,2 Mrd. Dollar noch am 20. Juni. Der Teucrium Corn ETF verzeichnete einen Aufschwung der Aktivitäten von Hedgefonds und anderen Handelsfirmen. Bis 24. Juli waren bereits 570.000 ETF-Titel im Handel, während der Monatsdurchschnitt im April noch weniger als 100.000 betrug.

Hauptkäufer der Mais-ETFs im ersten Quartal waren Eigenhandelsfirmen wie Jane Street Capital oder die Susquehanna Finance Group, aber auch die Investmenttöchter großer Banken wie Wells Fargo, Citigroup und UBS. Mais-Futures und Mais-ETFs sind nicht die einzigen Investments, die das Interesse von Hedgefonds und Spekulanten auf sich ziehen.

Analysten der Hedgefonds-Industrie berichten, dass deren Manager auch auf das Anziehen der Maispreise setzen, indem sie gegen Aktiengesellschaften wetten, die besonders empfindlich auf steigende Nahrungsmittelpreise reagieren, etwa den Getreideverarbeiter Archer Daniels Midland Co und The Andersons Inc, die Ethanol aus Getreide und anderen Pflanzen herstellt. Wie eine Partnerin von Four Seasons Commodities in Dallas offen berichtet, lässt sich mit Mais „derzeit leicht Geld machen“.

Die Beispiele zeigen, dass die rohstoffbezogenen spekulativen Aktivitäten an den Kapitalmärkten weit über das traditionelle Hedging zur Absicherung der Ernteeinnahmen hinausgehen. Die „Finanzialisierung“ der Rohstoff- und Lebensmittelmärkte bewegt das globale Nahrungsmittelsystem zusehends mehr. Dabei sind diese Märkte heute schon hochgradig monopolisiert. Über 80% der Hauptgetreideexporte kommen aus nur fünf Länder, und diese Exporte werden kontrolliert von nur vier großen Konzernen, den sog. ABCDs: Archer Daniels, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus.

Jennifer Clapp, Sophia Murphy und David Burch haben in einer Studie für Oxfam International (s. Hinweis) untersucht, wie anfällig das globale Nahrungsmittelsystem aufgrund dieser Struktur ist. Während zu diesem System traditionell im wesentlichen Produzenten (Bauern) und eine Reihe kommerzieller Intermediäre gehörten, die mit den Nahrungsmitteln handelten, sie weiter verarbeiteten, verteilten und verkauften, sind es heute Banken und andere Investoren oder Investmentfonds als Töchter der ABCDs selbst, die eine immer größere Rolle spielen. Diese haben an den eigentlichen Rohstoffen überhaupt kein Interesse mehr.

* Klimawandel, Pflanzentreibstoffe etc.

Natürlich sind es nicht nur Finanzialisierung und Spekulation, die den Agrarsektor global in die Krise treiben. Andere Faktoren sind der Klimawandel und die Konkurrenz der Pflanzentreibstoffproduktion um agrarische Inputs. Auch der Ölpreis und die Wechselkurse spielen eine Rolle.

* Klimawandel: Die Rekorddürre in den USA stimmt überein mit wissenschaftlichen Vorhersagen, dass der Klimawandel in wachsendem Maße die Bodenbeschaffenheit und Trockenheit in der Region beeinflusst. Vorhergesagt werden für die nächsten Dekaden anhaltende ernste Dürren in der Zentralregion der USA. Der Mai 2012 war der 327. Monat in Folge, in dem die globale Temperatur den Durchschnitt des 20. Jahrhunderts überstieg.

* Pflanzentreibstoffe: Deren Zunahme war 2008 und ist auch heuer wieder ein Hauptfaktor für die Krise. In den USA schreibt ein Gesetz, der US Renewabe Fuel Standard, vor, dass 2012 15,2 Mrd. Gallonen Treibstoff aus Pflanzen gewonnen werden müssen, 13,4 Mrd. davon aus Mais. Die Gesetzgebung verlangt, dass bis 2022 bis zu 15 Mrd. Gallonen aus heimischer Mais-Ethanol-Produktion kommen müssen. Im Jahre 2011 verbrauchte die Treibstoffindustrie 40% der US-Maisernte. Dieses Jahr könnte der Anteil sogar noch höher liegen. Ein Beispiel sagt alles: Die einmalige Betankung einer SUV-Riesenlimousine mit aus Mais gewonnenem Ethanol erfordert Kalorien, die ausreichen würden, um einen ägyptischen Bauern ein Jahr lang zu ernähren.

* Ölpreise und Wechselkurse: Im Allgemeinen geben die ärmsten Länder der Welt zweieinhalb mal mehr für Ölimporte als für die Nahrungsmitteleinfuhr aus. 2008 erreichte der Ölpreis mit 145 Dollar pro Barrel einen Höchstpreis und trieb so die Kosten für Transport und Dünger nach oben, was die Zahlungsbilanz der Entwicklungsländer, die kein Öl produzieren, beeinträchtigte. Heute liegt der Ölpreis niedriger – bei rund 100 Dollar pro Barrel. Dafür ist der Dollarkurs heute höher als 2008. Je höher der Dollar, desto teurer wird es für die nahrungsmittelimportierenden Entwicklungsländer.

* Abnehmende Notfall-Reserven und blasse Alternativen

Es lässt sich schwer vorhersagen, wie schnell diese Faktoren die prekäre Lage im globalen Agrarsektor zu einer neuen Nahrungsmittelkrise zuspitzen werden. Klar ist jedoch, dass die Nahrungsmittelreserven – trotz der Rekordproduktion bei Weizen, Mais und Reis im vergangenen Jahr – so schnell abnehmen werden, dass der Preisdruck nach oben zunehmen wird.

Wohlfeile Ratschläge, die Entwicklungsländer sollten die höheren Lebensmittelpreise für eine Trendumkehr zur Binnenmarktproduktion nutzen, lassen sich nur schwer umsetzen, wenn die Krise einmal da ist. Nennenswerte Regulierungen der Finanzmärkte, die die Finanzialisierung des Agrarsektors stoppen und die Volatilität auf den Märkten zurückdrängen könnten, sind bis heute nicht erfolgt.

Für September 2012 haben die G20 ein erstes Treffen ihres „Rapid Response Forums“ im Rahmen des Agarinformationssystems AMIS („Agricultural Market Information System“) vorgesehen, einer der wenigen Positivposten aus der französischen G20-Präsidentschaft,. Es wäre zu schön, wenn dieses Treffen das Steuer herumreißen könnte.

Hinweis:
* Jennifer Clapp, Sophia Murphy und David Burch: Cereal Secrets: The world’s largest grain traders and global agriculture, 80 pp, Oxfam Research Papers, August 2012. Bezug: über www.oxfam.org

Veröffentlicht: 14.8.2012

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Vor einer neuen Nahrungsmittel-Krise... und am Beginn einer neuen Spekulationswelle?, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 14. August 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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