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Wie abhängig ist die Peripherie noch?

Artikel-Nr.: DE20121001-Art.49-2012

Wie abhängig ist die Peripherie noch?

Lateinamerika im globalen Konjunkturverbund

Vorab im Web - Bezüglich des internationalen Konjunkturzusammenhangs galt lange Zeit die – populär formulierte – Regel: „Wenn die US-Wirtschaft niest, bekommt der Rest der Welt eine Erkältung.“ In der Tat war es seit Ende des 2. Weltkriegs so, dass zunächst die USA, dann die USA und die übrigen westlichen Industrieländer – relativ gemeinsam – die weltwirtschaftlichen Konjunkturzyklen bestimmten. So schien es auch bei der (immer noch aktuellen) Weltwirtschaftskrise ab 2008 zu sein. Doch diesmal kam es anders, wie Dieter Boris am Beispiel Lateinamerikas zeigt.

Schon bald zeichnete sich ab, dass viele Länder der Peripherie dieses Mal weniger betroffen waren und überdies schneller aus der Rezession herauskamen. Ob die neuesten Hinweise seit Ende 2011, nach denen sich die Wachstumsraten in China, den anderen BRIC- Ländern und vor allem auch in Lateinamerika deutlich abgeschwächt haben, die genannte neue Tendenz abermals korrigieren und das alte Bild eines vom Norden voll determinierten Konjunkturverbundes wiederherstellen, bleibt allerdings abzuwarten (???042ae6a0bf0fd7f0d???).

* Rezessives Umfeld und „Währungskrieg“

Der Mitte September diesen Jahres vorgestellte neueste Bericht der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) über die Einbindung des Kontinents in die Weltwirtschaft (s. Hinweis) stellt darüber diverse Überlegungen an und gibt Hinweise darauf, wie Lateinamerika diesen Zwängen ausweichen könnte. Bezüglich der Erholungschancen der EU und in den USA gab sich die Chefin der CEPAL, Alicia Bárcena, die den Bericht präsentierte, recht pessimistisch. Bei Ausklammerung Deutschlands [Schaubilder und Prognosen werden nun schon in zwei Kategorien: „EU mit Deutschland“ und “EU ohne Deutschland“ geführt!] werde die EU eine Zeit lang weiter in der Rezession bleiben, da der Entschuldungsprozess der privaten und öffentlichen Haushalte und die damit verbundene Austeritätspolitik voraussichtlich drei bis fünf Jahre andauern könnten.

Die USA wiesen den schwächsten Aufschwung seit 30 Jahren auf und könnten durch das sog. “fiscal cliff“ (dem an das Jahresende fallenden Auslaufen verschiedener Stützungsmaßnahmen und Steuererleichterungen, die bis in die Jahre 2001/03 zurückreichen) für 2013 abermals zu einem BIP-Rückgang und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 9% gelangen.

Gleichzeitig erschwere die expansive Geldpolitik in den USA, Japan und der EU die Aufstiegstendenzen in den Schwellenländern, da sie zu Kapitalzuflüssen und zur Aufwertung ihrer Währungen führen können. Gleichzeitig würden die US-Waren durch die damit ausgelöste Dollarschwäche wettbewerbsfähiger. So z.B. hat sich zwischen 2007 und 2011 der Wert der US-Exporte nach Brasilien von 18 Mrd. auf 34 Mrd. Dollar fast verdoppelt.

Die jüngste Ankündigung der US-Federal Reserve, eine dritte Runde des „quantitative easing“, d.h. eine Politik des billigen Geldes zwecks Konjunkturstimulierung, zu beginnen, hat in verschiedenen Schwellenländern, vor allem auch in Brasilien Proteste hervorgerufen. Die seit über zwei Jahren schon andauernden, wechselseitigen Beschuldigungen zwischen den USA und Brasilien, protektionistische Maßnahmen vorzunehmen und – aus brasilianischer Sicht – einen „Währungskrieg“ zu beginnen, scheinen im Herbst 2012 einen neuen Höhepunkt erreicht zu haben.

* Schneller Wiederaufschwung?

Es spricht aber einiges dafür, dass diese und andere Streitigkeiten vor allem in ökonomischen Schwächeperioden ihre besondere Schärfe erhalten und wahrscheinlich als temporär begrenzt anzusehen sind. Die EZB jedenfalls gibt sich bezüglich Lateinamerika optimistisch: “Das Wachstum in Lateinamerika dürfte sich in der zweiten Jahreshälfte 2012 beschleunigen, was auf die allmähliche Verbesserung der weltwirtschaftlichen Aussichten sowie die Auswirkungen der jüngst beschlossenen Maßnahmen zur Lockerung des geldpolitischen Kurses in Brasilien zurückzuführen ist.“

Auch der erwähnte CEPAL-Bericht geht davon aus, dass die Schwellenländer weiter der Motor der Weltwirtschaft sein werden und zu zwei Dritteln zum Gesamtwachstum der Weltwirtschaft beitragen werden, wenn auch mit einer geringeren Rate als zwischen 2003 und 2008. Die Preisindices für Rohstoffe werden sich in den nächsten beiden Jahren wahrscheinlich nur um etwa 2 Index-Punkte verringern. Sogar nach der pessimistischen Variante der Prognose werden sich in naher Zukunft die Preise der Hauptexportprodukte über dem historischen Durchschnitt bewegen. Daher könnten die Exporte der Region – je nach Preisentwicklung – zwischen 4 und 10% jährlich weiter wachsen. Dabei werden – laut Prognosen des Berichts – die bisher stabilen Anteile des Handels mit der EU und den USA, deren Anteil in den letzten zehn Jahren schon um fast 20% (von 58 auf 39%) abgefallen war, weiter abnehmen. Im selben Zeitraum war der Handelsaustausch mit Asien von 6 auf 18% gestiegen (W&E-Hintergrund Januar 2012).

* Intraregionales Potential und Diversifizierung

Der Bericht fordert eine Stärkung des intraregionalen Handels, der zwar zwischen 2000 und 2011 von 16 auf 20% zugenommen habe, aber noch über sehr viele Entwicklungspotentiale verfüge. Die produktive transnationale Integration von Wertschöpfungsketten zwischen mehreren Ländern befinde sich in Lateinamerika – z.B. im Vergleich zu Europa – auf einem extrem niedrigen Niveau. Dies sei u.a. durch die zum Teil sehr mangelhaften infrastrukturellen Verbindungen zwischen den einzelnen Ländern (Straßen, Schienenverkehr, Häfen etc.) bedingt. Das gesamtlateinamerikanische Programm IIERSA versucht hier seit ca. zehn Jahren entsprechend Abhilfe zu schaffen. – Die Zunahme von Handelsrestriktionen zwischen einzelnen Ländern Lateinamerikas habe diese Tendenz verstärkt.

Der Bericht verweist auf ein weiteres Manko. Nur sehr wenige Unternehmen sind am Export beteiligt. Bisher seien es weniger als 2% aller Unternehmen. Dabei konzentriere sich ein großer Teil (ca. 70%) der Exporte auf eine Handvoll Unternehmen, die häufig ein einziges Produkt auf einem Markt absetzen. Eine Diversifizierung von Produkten, Ländern und Unternehmen müsse systematisch von der Wirtschaftspolitik ins Auge gefasst werden.

Neben der Konzentration auf intraregionale Verdichtung ökonomischer Beziehungen sei insbesondere die außenwirtschaftliche Verflechtung zu pazifischen Ländern stark zu erhöhen, da die ökonomische Dynamik sich längst vom Atlantik zum Pazifik verschoben habe. Im Übrigen sei eine verstärkte Förderung und Forcierung von Innovationen, von Bildung, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen (auch für den Export) notwendig, um die Erfolge des letzten Jahrzehnts fortsetzen zu können.

Die Herausforderung sei außergewöhnlich, da bei Aufrechterhaltung einer Kontinuität der letzten Jahre die Entwicklungs- und Schwellenländer 2017 bereits zwei Drittel des Welthandels repräsentieren können und der Süd-Süd-Handel den Nord-Nord-Handel noch vor 2020 überholt haben wird.

* Konjunktur-Abkoppelung vs. Trend-Abkoppelung

Damit ist auch eine versuchsweise Antwort auf die Frage der „Entkoppelung“ der Schwellenländer gegeben. Wenn mit „Entkoppelung“ nicht eine „Auflösung, sondern eher eine Lockerung des konjunkturellen Zusammenhangs“ verstanden wird und zudem zwischen „Trend-Decoupling“ (Abkoppelung der langfristigen Wachstumstendenzen) und einem „Konjunktur-Decoupling“ (kurz- und mittelfristige Abweichungen vom Konjunkturzyklus) unterschieden wird (so der Monatsbericht der Deutsche Bundesbank im letzten Mai; s. Hinweis), sei eine langfristige Tendenz zur Abkoppelung der Schwellen- und Entwicklungsländer nicht zu übersehen. Wobei diese langfristige Tendenz offenbar stärker im konjunkturellen Aufschwung als bei Abschwüngen sichtbar wird. Die Analytiker der Deutschen Bundesbank stellen resümierend fest, „dass es seit Mitte der neunziger Jahre ganz eindeutig zu einem Trend-Decoupling zwischen Schwellen- und Industrieländern gekommen ist. Dagegen scheint ein konjunkturelles Decoupling eher in zyklischen Erholungsphasen aufzutreten. In Abschwungphasen sind in der Regel starke Ansteckungseffekte von den Industriestaaten auf die Schwellenländergruppe zu beobachten, auch wenn die Schwellenländergruppe in der letzten Krise relativ glimpflich davongekommen sind.“

Hinweise:
* Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Mai und August 2012.
* EZB, Monatsbericht September 2012.
* UN-CEPAL/ECLAC: Panorama de la inserción internacional de América y el Caribe. Crisis duradera en el centro y nuevas oportunidades para las economías en desarrollo/Latin America and the Caribbean in the World Economy 2011-2012, 60 pp, Santiago de Chile, September 2012. Bezug: über www.cepal.org

Veröffentlicht: 28.9.2012

Empfohlene Zitierweise:
Dieter Boris, Lateinamerika im globalen Konjunkturverbund. Wie abhängig ist der Kontinent noch, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 28. September 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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