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Der Aufstieg des Südens und die Folgen

Artikel-Nr.: DE20130317-Art.14-2013

Der Aufstieg des Südens und die Folgen

Frontalangriff auf den Norden?

Vorab im Web – Der neue Human Development Report („Bericht über die menschliche Entwicklung“) des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) mit dem Titel „Der Aufstieg des Südens“ kann als Frontalangriff auf die wirtschafts- und entwicklungspolitischen Konzepte des Nordens gelesen werden. Es ist allerdings zu befürchten, dass diese im Bericht steckende Herausforderung, die – wie in UN-Dokumenten üblich – unter diplomatischen Formeln versteckt wird, von den angesprochenen Mächten und Organisationen ignoriert wird, schreibt Jörg Goldberg.

Die 2008 offen ausgebrochene „große“ Krise des Kapitalismus, so kann dem Bericht (s. Hinweis) entnommen werden, hat zu einer grundlegenden Veränderung der weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisse geführt. Der Süden kann und sollte dementsprechend eine neue globale Führungsrolle übernehmen. Die wirtschaftspolitischen Rezepte des Nordens und die von ihm geprägten multilateralen Institutionen haben dem Süden nur noch wenig zu sagen.

* Neues globales Kräfteverhältnis

Die Produktionsleistung der Entwicklungs- und Schwellenländer des Südens (berechnet zu Kaufkraftparitäten) übersteigt inzwischen die der klassischen Länder des Nordens, der Anteil des Südens am Welthandel liegt bei 47%. Die Inlandsproduktion allein der drei führenden Ökonomien des Südens – Brasilien, China und Indien – erreicht heute jene der sechs alten Industriemächte des Nordens – Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien und USA – die so lange als G6 die Agenda der Weltwirtschaft diktiert hatten.

Neues Kräfteverhältnis


Migrationsströme, die Bewegung von Direktinvestitionen, selbst Entwicklungshilfe spielen sich zunehmend zwischen den Ländern des Südens ab. Mehr noch: Statt sich von der „sterilen Auswahl ideologischer Optionen“ des Nordens (1) inspirieren zu lassen blicken die armen Länder auf erfolgreiche Beispiele aus dem Süden und wählen aus, was zu ihrer Situation am besten passt (119). Denn die pragmatischen und an die jeweiligen Bedingungen angepassten Lösungen der großen Schwellen- und Entwicklungsländer wie Brasilien, China oder Indien haben dort nicht nur zu hohen Wachstumsraten geführt, sondern auch – allerdings in unterschiedlichem Ausmaß – zu einer durchgreifenden Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung.

* Mehr ‚Norden’ im Süden und mehr ‚Süden’ im Norden

Auf der Basis des vom UNDP entwickelten Human Development Index (HDI: „Index der menschlichen Entwicklung“), der eine Zusammenfassung von Indikatoren für pro-Kopf-Einkommen, Gesundheitszustand und Bildung ist, zeigt der Bericht zunächst (im ersten Kapitel) die enormen sozialen Fortschritte in vielen armen Ländern. 2012 gab es kein einziges Land, dessen HDI nicht höher war als 2000. Die Entwicklungsdynamik des Südens hat keine historischen Vorbilder: Die Pro-Kopf-Einkommen haben sich in China und Indien innerhalb von 20 Jahren verdoppelt – die industrielle Revolution in Großbritannien brauchte dafür 150 Jahre, die USA immer noch 50 (10).

Der Bericht spricht daher von einer gewissen „Konvergenz“ zwischen den Nationen („So gesehen ist die Welt weniger ungleich.“), bei einer allerdings oft zunehmenden Ungleichheit innerhalb der Länder: Viele Länder sowohl der Nordens wie des Südens verzeichnen eine wachsende innere Ungleichheit. Die Halbierung der extremen Armut, eines der entwicklungspolitischen Hauptziele (1990 bis 2015), wurde drei Jahre früher erreicht als in den Millenniumszielen festgelegt. Die Fortschritte sind allerdings sehr ungleich: China verzeichnete den größten Rückgang der Armutsquote, von 60,2 (1990) auf 13,1% (2008), in Indien vollzieht sich dieser Prozess nur langsam, von 49,4 (1990) auf 32,7% (2010). (13)

Die erwähnte „Konvergenz“ zwischen den Ländern des Nordens und des Südens hat auch problematische Züge: So kann man konstatieren, dass „es einen ‚Süden’ im Norden gibt und einen ‚Norden’ im Süden.“ Die „Eliten“ des Nordens und des Südens nähern sich an, sie haben an den gleichen Universitäten studiert, „sie haben ähnliche Lebensstile und vielleicht sogar Wertvorstellungen.“ (2) Sie sind es, die am meisten vom globalen Wohlstandszuwachs profitieren. Wachsende kaufkräftige „Mittelschichten“ im Süden, Arbeitslosigkeit und sinkende Sozialleistungen im Norden vervollständigen das Bild. Der Bericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass z.B. die afroamerikanische Bevölkerung des US-Bundesstaats Louisiana einen ähnlichen HDI-Wert hat wie Subsahara-Afrika, nämlich 0,47, während die USA insgesamt mit 0,94 den dritthöchsten HDI-Wert der Welt aufweisen.

* Angriff auf Marktliberalismus und Austeritätspolitik?

Die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge des Südens wurden deshalb erreicht, weil die großen Staaten eine eigenständige, pragmatische Entwicklungspolitik betrieben und die fragwürdigen wirtschaftspolitischen Rezepte aus dem Norden mit Missachtung gestraft haben. So gelesen ist der Bericht eine scharfe Kritik an den im Norden immer noch herrschenden marktradikalen Konzepten. Am deutlichsten liest sich das in jenen Passagen, die sich mit der aktuellen Austeritätspolitik der Länder des Nordens (vor allem der EU) befassen, die gleichzeitig als größte Gefahr für den Süden und das globale wirtschaftliche Gleichgewicht betrachtet wird: „Es besteht das Risiko, dass kurzfristig ausgerichtete Maßnahmen (zum Abbau der öffentlichen Schulden) langfristig Schaden anrichten, weil sie die menschlichen und sozialen Grundlagen wirtschaftlichen Wachstums, demokratischer Verhältnisse und sozial ausgeglichenerer Gesellschaften untergraben… Der Abbau öffentlicher Leistungen in den Bereichen Gesundheit, Erziehung und soziale Dienste können die Gesundheit der Bevölkerung, die Qualität der Arbeitskräfte und die Voraussetzungen für Forschung und Innovationen untergraben.“ (21/22) Indem die Autoren Keynes mit den Worten zitieren: „Der Aufschwung, nicht die Krise, ist die richtige Zeit für Austerität“, zeigen sie, in welchem Umfang die öffentlichen Sparprogramme schon jetzt langfristige Schäden angerichtet haben und den menschlichen Fortschritt untergraben – im übrigen ohne das Ziel des Schuldenabbaus zu erreichen.

Leider vermeiden es die Autoren, hier Ross und Reiter zu nennen: Denn einer der größten Schadensstifter ist der Internationale Währungsfonds (IWF), wie UNDP Angehöriger der UN-Familie. Als Teil der berüchtigten ‚Troika’ (neben EZB und EU-Kommission) diktiert er den verschuldeten Ländern der europäischen Peripherie genau jene Programme, die dort lang anhaltende Rezessionen, Arbeitslosigkeit und drastische Einschnitte in den sozialen Diensten verursachen und seit Jahren weite Teile der jungen Generationen in völliger Perspektivlosigkeit aufwachsen lassen.

* Drei Erfolgsfaktoren für Entwicklung

Vor allem im dritten Kapitel (das zweite schildert die zunehmende internationale Integration im Süden) setzt sich der Bericht mit den Ursachen für den Aufstieg des Südens auseinander. Dafür gäbe es keine einheitlichen Rezepte – in klarer Abgrenzung von (im Neoliberalismus verbreiteten) Vorstellungen einer weltweit gültigen „richtigen“ Politik (1) wird auf die pragmatischen, an die jeweiligen Bedingungen angepassten und oft flexiblen und experimentell ausgerichteten wirtschaftspolitischen Ansätze der großen Südländer verwiesen.

Der Bericht hebt allerdings drei Prinzipien hervor, deren flexible Anwendung den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt im Süden erklärt: Ein „proaktiver Entwicklungsstaat“, die „Nutzung globaler Märkte“ und „gezielte sozialpolitische Innovation“ (65/66). Der Schwerpunkt wird dabei auf einen starken Staat gelegt, der eine aktive Industriepolitik betreibt, wirtschaftliche Prioritäten setzt und die schrittweise, regulierte Integration in die globalen Märkte steuert. Gezielte öffentliche Investitionen und auf sozialen Ausgleich und mehr Gleichheit orientierende Sozialpolitik sind unabdingbare Bestandteile einer solchen Wirtschaftspolitik.

Obwohl es leider nirgends explizit gesagt wird: Eine klarere Absage an die Prinzipien der marktradikalen ‚Reformpolitik’, die immer noch den wirtschaftspolitischen Diskurs und die wirtschaftspolitische Praxis der entwickelten Länder des Nordens und der von diesen dominierten internationalen Organisationen prägt, dürfte man in offiziellen UN-Dokumenten selten gelesen haben. Wenn das die Grundprinzipien sind, denen die Länder des Südens folgen, dann müsste der „Aufstieg des Südens“ notwendig auch den Abstieg des Neoliberalismus im globalen Maßstab befördern.

* Mehr Macht für den Süden

Das mit der Krise deutlich gewachsene wirtschaftliche Gewicht des Südens hat sich bislang erst in Ansätzen in den Organisationen der Global Governance niedergeschlagen (fünftes Kapitel). Sicherlich, die G6 (bzw. G7) der Industrieländer wurden abgelöst durch die G20, die großen Länder des Südens fangen an, in globalen Fragen mitzureden. Das aber – daran lassen die Autoren des Berichts keinen Zweifel – genügt bei weitem nicht. Die Global- Governance-Architektur wird immer noch von der Machtverteilung geprägt, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde. IWF und Weltbank, UN-Sicherheitsrat und WTO werden immer noch von Ländern dominiert, die wie Großbritannien und Frankreich heute zu den Fußkranken der Weltwirtschaft gehören, aber immer noch jeder für sich deutlich mehr Einfluss haben als z.B. China oder Indien.

Man kann es als Drohung lesen, wenn der Bericht formuliert: „Die Bretton-Woods-Institutionen … riskieren ihre abnehmende Bedeutung wenn sie nicht alle Mitgliedsländer und ihre Völker angemessen repräsentieren.“ (109) Und man spürt feine Ironie wenn es gegen Ende des Berichts heißt: „Der Aufstieg der Südens hat die Welt in gewissem Sinne überrascht. Bisher hatte man – wenn auch unausgesprochen – angenommen, dass die Entwicklungsländer sich zwar allmählich dem Standard der Industrieländer annähern würden („Konvergenz“), dass deren starke Führungsposition davon aber unberührt bleiben würde… Unerwarteterweise stellt die Welt nun fest, dass die Länder des Südens, obwohl ihr Entwicklungsstand immer noch niedriger ist, gewichtige globale Mitspieler geworden sind, die über die finanziellen Ressourcen und die politische Macht verfügen, globale Entscheidungen durchzusetzen.“ (119)

Das zunehmende globale Gewicht des Südens – vor allem angesichts der Krise des Nordens – kommt natürlich keineswegs „by surprise“, der Widerstand des Nordens gegen eine größere Rolle der Südländer ist wohl kalkuliert. Wie genau dem zunehmenden globalen Gewicht des Südens angemessen Rechnung getragen werden sollte, lässt der Bericht aber letzten Endes offen. Der Vorschlag, bestehende multinationale Institutionen so zu „rekalibrieren“ (109), dass der Süden mehr Verantwortung übernimmt, bleibt ziemlich vage. Von einer Reform der bestehenden globalen Institutionen bis zum Aufbau eigener Strukturen des Südens scheint alles möglich zu sein.

* Neue Solidarität des Südens oder fortbestehende nördliche Dominanz?

Vorgeschlagen wird eine neue „Süd-Kommission“ (inspiriert von der 1987 unter Führung von Julius Nyerere gegründeten Einrichtung), welche angesichts zunehmender Diversität „eine neue Art von Solidarität“ des Südens begründen könnte (119). Ohne es auszusprechen befürchten die Autoren des Berichts, dass zunehmende Interessenunterschiede zwischen den Ländern des Südens (es werden nur wenige Momente, wie z.B. der Konflikt um Rohstoffe und der Importdruck einiger Schwellenländer auf die ärmsten Staaten vor allem Afrikas angedeutet) dessen Gewicht im globalen Maßstab schwächen und so die weitere Dominanz der Länder des Nordens ermöglichen könnten.

Denn obwohl klar ist, dass die großen Länder des Südens völlig anderen wirtschaftspolitischen Prioritäten folgen, schlägt sich dies im globalen Diskurs nicht nieder: Wie der Bericht deutlich macht, gelingt es z.B. dem IWF bis heute, seine gefährliche Austeritätspolitik durchzusetzen, ohne dass die Mitgliedsländer des Südens offen Dissens anmelden. Dass das zunehmende globale Gewicht des Südens sich in einem wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel niederschlägt, wie man es nach der Lektüre des Berichts eigentlich erwarten sollte, ist bislang nirgends sichtbar.

Die Behauptung, dass „die regierenden Eliten zunehmend erkennen, dass sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt (im Sinne von „Gleichheit und sozialer Integration“) die Legitimität ihrer Führungsposition stärken würde“ (17) muss leider als reines Wunschdenken klassifiziert werden. Bislang deutet sich jedenfalls nicht an, dass der „Aufstieg des Südens“ auch das Ende des Neoliberalismus bedeuten könnte.

Hinweis:
* UNDP: Human Development Report 2013: The Rise of the South: Human Progress in a Diverse World, 216 pp, New York 2013. Bezug: über http://hdr.undp.org/en. Eine deutsche Ausgabe erscheint demnächst im UNO-Verlag, Berlin.

Veröffentlicht: 17.3.2013

Empfohlene Zitierweise:
Jörg Goldberg, Der Aufstieg des Südens und die Folgen. Frontalangriff auf den Norden, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 17. März 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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