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Die neue Krisenkonstellation der Weltwirtschaft

Artikel-Nr.: DE20130211-Art.03-2013

Die neue Krisenkonstellation der Weltwirtschaft

Fragile Finanzmärkte und boomende Schwellenländer

„Das Schlimmste ist hinter uns“, behauptete Herman Van Rompuy, EU-Ratspräsident, Anfang Januar. Diese optimistische Sicht ist selbst mit Blick auf die Euro-Krise fraglich, wie derzeit politische Unsicherheiten in Spanien und Italien zeigen. An der Realität der wirtschaftlichen Lage sowohl in der EU als auch weltweit geht sie aber völlig vorbei. Denn keines der großen Ungleichgewichte, die zum Ausbruch und zur Vertiefung der aktuellen Wirtschaftskrise geführt haben, ist überwunden. Im Gegenteil: Die Mittel, mit denen man den Euro zu stabilisieren sucht, die Überschwemmung der Finanzmärkte mit billigem Geld, vergrößern mittelfristig die wirtschaftliche Labilität. Von Jörg Goldberg

Der Zeitpunkt, seit dem „das Schlimmste“ überwunden zu sein scheint, kann ziemlich präzise auf die Pressekonferenz von EZB-Chef Mario Draghi am 2. August 2012 festgelegt werden, als dieser erklärte, dass die Zentralbank die Euro-Staatsanleihen durch unbegrenzte Aufkäufe stützen würde. Damit wurden spekulative Attacken auf einzelne Staaten entmutigt und die ‚Märkte’ beruhigt. Dass damit aber die Krisengefahr nachhaltig gebannt ist, dürfte selbst Herr Van Rompuy nicht glauben.

* Optimistische Prognosen und Abwärtsrisiken

Die verschiedenen internationalen Wirtschaftsprognosen vom Jahresanfang 2013 für das laufende und das kommende Jahr (s. Hinweise) sind vorsichtig optimistisch. Für die Weltwirtschaft insgesamt erwarten sie eine schwache Wachstumsbelebung im Jahresverlauf 2013, wobei die EU mit leichten Produktionsrückgängen 2012/2013 international das Schlusslicht bildet. Doch auch für den Rest der „fortgeschrittenen Länder“ (nach Abgrenzung des IWF) sind die Erwartungen mit Wachstumsraten zwischen 1 und 2% gedämpft. Dabei fällt auf, dass die Investitionen, normalerweise der dynamische Faktor im Konjunkturverlauf, nur wenig zunehmen: Die Investitionsquote der Industrieländer, also der Anteil der Investitionen in Ausrüstungen und Bauten am Inlandsprodukt, der 2009, dem bisherigen Tiefpunkt der Krise, auf 17,7% gefallen war (4%-Punkte niedriger als 2007), erholt sich kaum und wird vom Internationalen Währungsfonds für 2014 nur mit 19,5% erwartet.

Für den Block der Schwellen- und Entwicklungsländer dagegen werden Wachstumsraten zwischen 5,5 und knapp 6% prognostiziert, ebenfalls mit einer leichten Tendenz zur Beschleunigung. Gemessen an den Industrieländern ist das viel, allerdings immer noch gut 1% weniger als vor dem Ausbruch der Krise 2007/2008.

Szenarien der Weltkonjunktur


Alle Prognosen unterstreichen bestehende Abwärtsrisiken wie das „fiscal cliff“ in den USA (drohende Haushaltskürzungen ab März 2013), eine erneute Zuspitzung der Euro-Krise, die Auswirkungen der europäischen Austeritätspolitik, steigende Nahrungsmittelpreise und die Konjunktur in China. Dabei sehen die UN mehr Risiken als IWF und Weltbank: Sie verweisen besonders auf die Gefahr, die von der Abwärtsspirale in einigen EU-Ländern ausgeht, also den negativen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit, schwacher Inlandsnachfrage, staatlicher Austeritätspolitik, steigender Schuldenlast und Instabilität der Finanzmärkte.

* Industrieländer und Schwellenländer: Einschnitt in 2013

Die Prognosen basieren auf der Annahme, dass die rasche Expansion in den Schwellen- und Entwicklungsländern, vor allem in China, anhält. Die Weltbank stellt fest: „Entwicklungsländer sind immer noch die wichtigsten Motoren des globalen Wachstums…“ Dies bestätigt eine Analyse des Welthandels, der ab 2013 wieder rascher zunehmen soll als die Produktion. Dabei ragen die Importe der Schwellen- und Entwicklungsländer hervor, die nicht nur rascher als die Exporte sondern vor allem zwei- bis dreimal so stark wie die Importe der Industrieländer anwachsen. „Die relativ starke Importnachfrage der Entwicklungsländer hat dazu beigetragen, die rezessiven Tendenzen in der Euro-Zone und anderen Hocheinkommensländern abzufedern“, meint die Weltbank.

Das zeigt auch die deutsche Außenhandelsbilanz für 2012: Während die Exporte in die EU zurückgingen, nahmen die Ausfuhren in die „Drittländer“ um fast 9% zu. Das Ergebnis ist ein Leistungsbilanzüberschuss von 6,3% des Inlandsprodukts – womit nach EU-Regeln ein „makroökonomisches Ungleichgewicht“ besteht, das eigentlich ein EU-Verfahren gegen Deutschland auslösen müsste. Die EU-Kommission hat aber bereits signalisiert, davon vorläufig Abstand nehmen zu wollen.

Während die Bedeutung der Schwellen- und Entwicklungsländer als Absatzmarkt der Industrieländer wächst, sind jene ihrerseits in abnehmendem Umfang auf die Industrieländer angewiesen: Gingen noch im Jahr 2000 gut 60% der Schwellenländer-Exporte in die Industrieländer, so nehmen seit 2010 die Schwellen- und Entwicklungsländer selbst mehr als die Hälfte der Süd-Ausfuhren auf; der Süd-Süd-Handel ist dynamischer als der Nord-Süd-Warenaustausch.

Für die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen Industrie- und Schwellenländern bildet das Jahr 2013 einen gewissen Einschnitt: Erstmals seit dem Beginn der Industrialisierung in Europa übersteigt das Produktionsvolumen (berechnet zu Kaufkraftparitäten) der „Emerging Market and Developing Economies“ jenes der „Advanced Economies“: Deren Anteil am Weltprodukt sinkt 2013 auf 49,2% (IWF). Während in früheren Analysen vor allem darüber diskutiert wurde, ob bzw. inwieweit die Krise der Industrieländer auch die Schwellen- und Entwicklungsländer in den Abgrund reißen würde, so hat sich der Schwerpunkt der Debatte heute verschoben. Zwar spielen diesbezügliche Überlegungen nach wie vor eine Rolle – sinkende Nachfrage, volatile Finanzströme, fragile Finanzmärkte, Tourismus und Rücküberweisungen von Migranten sind die wichtigsten Nord-Süd-Ansteckungswege –, wichtiger aber ist heute der umgekehrte Zusammenhang.

* Die Schlüsselrolle Chinas

Dabei steht China im Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn die übrigen weltwirtschaftlichen ‚Player’ des ‚Südens’ (namentlich Brasilien, Lateinamerika insgesamt, Afrika und Russland) beziehen ihre wirtschaftliche Dynamik nach wie vor aus dem Rohstoffhandel bzw. sind (Indien) weltwirtschaftlich weniger integriert. Rohstoffförderung und Rohstoffexporte aber werden – angesichts der Depression im ‚Norden’ - wesentlich von der industriellen Dynamik Chinas angetrieben, dem weltweit größten Produzenten von Industriegütern. Vor diesem Hintergrund richtet sich das Hauptaugenmerk auf die innere Entwicklung Chinas: Diese aber wird überwiegend von den inländischen Investitionen angetrieben, denen, wie die UN anmerken, im letzten Jahrzehnt mehr als die Hälfte des chinesischen Wachstums zuzuschreiben war.

Die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote Chinas, die in den 1990er Jahren zwischen 35 und 40% des Inlandsprodukts gelegen hatte, ist seit der Krise nochmals angestiegen und beträgt gegenwärtig 48%. Investitionsquoten über 45 Prozent sind in der Wirtschaftsgeschichte einmalig, wie die Weltbank bemerkt. Die für die Weltkonjunktur zentrale Frage ist also: Kommt es in China zu einer allmählichen, kontrollierten Verlangsamung der Investitionstätigkeit (zugunsten des privaten Verbrauchs und höherer Sozialausgaben) oder wird sich der Rückgang abrupt vollziehen? Die UN meinen: „Falls sich das wirtschaftliche Wachstum in China auf 5% jährlich abschwächt (hervorgerufen durch die Verlangsamung der Investitionstätigkeit, anhaltende Anspannung am Häusermarkt und Abwesenheit neuer fiskalischer Anreize), würden die Entwicklungsländer als Gruppe 2013/2015 einen Wachstumsverlust von 3% verzeichnen, die Weltproduktion einen von 1,5%.“ Die Weltbank formuliert es so: Käme es in China zu einem abrupten Investitionseinbruch, so wären „die Folgen für die Rohstoff exportierenden Entwicklungsländer besonders hart, wenn die Rohstoffpreise scharf zurückgingen.“

* Die Finanzmarktkrise ist nicht ausgestanden

Hinzu kommt, dass die globale Finanzmarktkrise keineswegs ausgestanden ist. Zwar ist es erstmals seit 2008 – auch als Folge der EZB-Maßnahmen – zu einer deutlichen und länger anhaltenden Minderung der Spannungen an den Finanzmärkten gekommen, was auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern zu spüren war. Die Kapitalzuflüsse, die noch im letzten Jahr zeitweilig stark eingebrochen waren, haben neue Höchststände erreicht. Die Risikoaufschläge auf Entwicklungsländer-Anleihen sind gesunken.

Allerdings haben sich die Ungleichgewichte zwischen den Finanzmärkten und der Realwirtschaft eher wieder vergrößert, worauf unlängst Andrew Haldane, Direktor in der Bank of England, in einem Vortrag vor dem Swiss Finance Institute hinwies (vgl. NZZ v. 26.1.13). Er verwies auf zwei langfristige Tendenzen, die bislang nicht gestoppt werden konnten: Der Grad der „finanziellen Durchdringung“ der Wirtschaft, gemessen am Verhältnis der Bankaktiva zum Inlandsprodukt, habe zwischen 1870 und 1970 um 6% je Jahrzehnt zugenommen. Seit 1970 aber sei die Zunahme auf 30% je Jahrzehnt dramatisch angestiegen. Dies ging einher mit einer Konzentration im Bankensektor. Heute würden in den USA, Großbritannien, Deutschland und der Schweiz jeweils die drei größten Banken zwischen 40 und 80% der Bankaktiva auf sich vereinigen.

Keine der bestehenden Reformansätze war bislang in der Lage, diese Problematik zu entschärfen: Letzten Endes zeigen die jüngsten Maßnahmen der EZB, die zu der von Rompuy so gelobten Beruhigung geführt haben, dass die Finanzmärkte (d.h. ein gutes Dutzend Großbanken) nach wie vor das Gesetz des Handelns bestimmen. Denn das Feuer der Finanzmarktspekulation wurde nicht gelöscht, sondern lediglich durch ‚Gegenfeuer’ bekämpft. Notwendige Strukturreformen der Finanzmärkte aber kommen nicht voran – selbst Finanzminister Schäuble beklagte ein „Erlahmen des Reformelans“. Es ist im Gegenteil so, dass die Flutung der Wirtschaft mit Zentralbankgeld und die Absenkung der Zinsen – inflationsbereinigt sind sie derzeit negativ - spekulative Finanzanlagen und die ‚Blasenbildung’ an den Finanzmärkten antreiben; dagegen fährt die Realwirtschaft Kredite und Investitionstätigkeit eher zurück.

* Eine neue Krisenkonstellation

Während die kurzfristigen konjunkturellen Aussichten für den weiteren Jahresverlauf nicht so schlecht zu sein scheinen, baut sich mittel- und langfristig eine gefährliche Krisenkonstellation auf. Es ist zweifelsohne so, dass der rasche, investitionsgetriebene Industrialisierungsprozess Chinas derzeit der einzige wirklich stabilisierende Faktor ist. China sorgt mit seiner Nachfrage nach Rohstoffen für Prosperität in den meisten anderen Schwellen- und Entwicklungsländern und stellt einen wichtigen Absatzmarkt für jene hochtechnologischen Investitionsgüter vor allem Europas dar, die – u.a. dank der europäischen Austeritätspolitik – in den Industrieländern keinen Absatz finden. Dass China über eine längere Periode mit Investitionsquoten zwischen 45 und 50% leben kann ist aber eher unwahrscheinlich; ob es der chinesischen Regierung gelingt, die Überakkumulation von fixem Kapital ‚geordnet’ zurückzuführen ist durchaus fraglich.

Es ist bezeichnend, dass die Weltbank, die ansonsten überall für einen ‚schlanken’ Staat plädiert, im Falle Chinas alle Hoffnung auf die chinesischen Institutionen setzt: „Chinas Wirtschaftsgeschichte lässt vermuten, dass China, vielleicht mehr als jedes andere Land, über die Instrumente verfügt, um eine solche Transformation zu managen.“ Das aber ist ja nichts Neues: Ein guter Marktradikaler verlässt sich im Krisenfall immer noch auf den Staat: „Angesichts von Chinas gewachsenem weltwirtschaftlichen Gewicht und seiner Rolle als Motor des globalen Wachstums würde ein scharfer Rückgang der Investitionen ernste weltweite Konsequenzen haben.“

Die globalen Folgen einer Überakkumulationskrise in China wären in der Tat unkalkulierbar. Ein neuer weltweiter Einbruch – selbst wenn er schwächer wäre als 2009 – würde die Finanzmärkte erneut an den Rand des Zusammenbruchs führen. 2009/2010 konnte die Katastrophe noch durch massive Staatsinterventionen, durch die Rekapitalisierung der Banken und Konjunkturprogramme, verhindert werden. Dies hat die Verschuldungsquoten auf historische Höchststände getrieben und zur Staatsschuldenkrise von 2011/2012 geführt. Heute gibt es für eine solche Antikrisenpolitik keine Spielräume mehr. Einer weltweiten Rezession und dem dann unvermeidbaren Zusammenbruch der Zahlungsströme an den Finanzmärkten hätten Regierungen und Notenbanken nur noch wenig entgegenzusetzen.

Hinweise:
* International Monetary Fund: World Economic Outlook. Update, Washington DC, 23 January 2013. Bezug: über www.imf.org
* UN-DESA: World Economic Situation and Prospects 2013, 207 pp, United Nations: New York 2013. Bezug: über www.un.org/en/development
* World Bank: Global Economic Prospects and the Developing Countries. Assuring growth over the medium term, 178 pp, The World Bank: Washington DC, January 2013. Bezug: über www.worldbank.org

Veröffentlicht: 11.2.2013

Empfohlene Zitierweise:
Jörg Goldberg, Die neue Krisenkostellation der Weltwirtschaft. Fragile Finanzmärkte und boomende Schwellenländer, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 11. Februar 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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