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G20-Gipfel in Zeiten des Übergangs

Artikel-Nr.: DE20130909-Art.34-2013

G20-Gipfel in Zeiten des Übergangs

Die unvollendete Mission eines Klubs

Vorab im Web - Das Logo des G20-Gipfels (s. Abb.), der am 5./6. September 2013 in St. Petersburg stattfand, war sichtlich von den Formen des russischen Konstruktivismus inspiriert. Doch während der Beitrag dieser Kunstrichtung zur Moderne herausragend war und ist, kann in Bezug auf den Beitrag des St.-Petersburg-Treffens zu einer neuen Global Governance eher das Gegenteil gesagt werden, schreibt Rainer Falk in einer zusammenfassenden Analyse.

Schon den Schwerpunkten der russischen G20-Präsidentschaft fehlte jegliche visionäre Kraft: Wachstum, Wachstum, Wachstum. „Wachstum durch Qualitätsjobs und Investitionen“, „Wachstum durch Vertrauen und Transparenz“ und „Wachstum durch effektive Regulierung“ lauteten die drei Leitmotive, die nach eigenen Aussagen darauf zielten, „einen neuen Zyklus des wirtschaftlichen Wachstums anzustoßen“. Doch das globale Wachstum, vor dessen Hintergrund der Gipfel tagte, schlug erst einmal Kapriolen, angesichts derer die jüngsten Prognosen des IWF wieder einmal über den Haufen geworfen wurden.

* Neues Panorama

In einer „Surveillance-Note“ für die Staats- und Regierungschefs der G20 sprach der IWF von einer „gewandelten internationalen Wachstumsdynamik“ – ein verklausuliertes Eingeständnis, dass sich Thesen, die noch im Juli dieses Jahres vom Fonds vertreten wurden, über den Sommer als falsch erwiesen haben. Das gilt für die Behauptung einer globalen Konjunktur der „drei Geschwindigkeiten“ (mit Europa in der Krise, den USA in mäßigem Aufschwung und den Spitzenreitern der Weltkonjunktur im Süden) ebenso wie die Anrufung der Emerging Markets bzw. der Schwellenländer als dynamischer „Motor“ der Weltwirtschaft (W&E-Hintergrund Juli 2013). Jetzt hieß es auf einmal, der wirtschaftliche Schwung sei eher in den „fortgeschrittenen Ländern“, vor allem den USA, zu erwarten, während sich Europa wieder berappelt und sich das Wachstum in den wichtigsten Schwellenländern deutlich verlangsamt hat. Ein ähnliches Bild der vertauschten Rollen in der Weltkonjunktur zeichnete die OECD kurz vor dem Gipfel.

So fand das Mega-Ereignis in St. Petersburg vor einem erneut veränderten weltwirtschaftlichen Panorama statt. In der Tat gibt es seit kurzem eine verstärkte Debatte darüber, ob und wann auf den Crash das Comeback folgt. So schreibt der vom Investmentbanker zum Schriftsteller mutierte Charles Morris in seinem neuen Buch (>>> Comeback): „Die Vereinigten Staaten stehen an der Schwelle eines langfristigen wirtschaftlichen Booms, der die Ära der industriellen Dominanz der 1950er und 1960er Jahre noch übertreffen könnte.“ Seine Prognose stützt der Autor ausgerechnet auf den Schiefergas-Boom, der bis heute schon 1,7 Mio. neue Jobs geschaffen habe. Einmal abgesehen davon, wie realistisch solche Szenarien sind – einen Beitrag der G20 zu einer Beschleunigung der weltwirtschaftlichen Erholung und einen Anstoß zu einer neuen langen Wachstumsphase hat der Gipfel nicht erkennen lassen. Die ???042ae6a22e11e8b01??? geht selbst davon aus, dass die Weltwirtschaft noch nicht über dem Berg ist.

* Ausladende Agenda

Hinzu kommt, dass die Rivalität zwischen den USA und Russland bzw. zwischen Obama und Putin und der Streit um die Syrienkrise die lange vorbereitete Agenda des Gipfels um ein Haar zur Entgleisung gebracht hätte. Doch auch wenn dies verhindert werden konnte und die Syrienfrage vor allem die öffentliche Aufmerksamkeit für die ökonomischen Themen des Gipfels relativiert hat – die selbst beanspruchte Rolle der G20 als „erstes Forum unserer internationalen wirtschaftlichen Koordinierung“ (so die Pittsburgh Declaration) ist in St. Peterburg sicherlich weiter beschädigt worden.

Überhaupt scheint die G20 in gewisser Hinsicht das gleiche Schicksal zu ereilen, das schon die Funktionsfähigkeit der G8 beeinträchtigt hatte: die ständige, teils schleichende Ausweitung der Agenda zuungunsten der Kernaufgaben, die einmal zur eigenen Gründung geführt hatten („mission creap“). Zwar ist es mit Sicherheit positiv zu werten, dass Obama für seinen Kriegskurs keine Mehrheit unter den G20 mobilisieren konnte. Doch macht allein schon die Masse bedruckten Papiers (???042ae6a22e11e8b01???) deutlich, wie die ursprüngliche Agenda an den Rändern ausfranst.

Fünf Jahre nach ihrer Gründung auf Gipfelebene ist das Gründungsthema der G20, die Finanzmarktreform, immer noch nicht abgeschlossen, auch wenn es jetzt auch eine Roadmap zur Regulierung der Schattenbanken gibt (???042ae6a222116f60f???). Dafür verfügt die G20 inzwischen über eine Entwicklungsstrategie, den sog. ???042ae6a22e11e8b01???, und eine Politik gegen Steuerflucht und aggressive Steuervermeidung der Transnationalen Konzerne (W&E 08-09/2013). Während die G20-Entwicklungsstrategie kaum mehr ist als ein auf den Privatsektor orientiertes Wachstums- und Infrastrukturprogramm, repräsentieren die Bemühungen um die Stopfung von Steuerschlupflöchern eines der wenigen Felder, auf denen es noch gemeinsame Interessen gibt.

* Volatilitätsopfer Schwellenländer

Das wirtschaftspolitisch wichtigste Thema in St. Petersburg war zweifellos der Umgang mit der neuen Volatilität der Währungen in den Schwellenländern (mit Ausnahme Chinas). Wie sich zeigt, gibt es auch über fünf Jahre nach dem Ausbruch der globalen Finanzkrise genügend Turbulenzen auf den Finanzmärkten, die den Imperativ der internationalen Kooperation und damit die Bedeutung des Kernmandats der G20 unterstreichen. Vor allem die Politik des lockeren Geldes (QE: „quantitative easing“), deren bevorstehende Beendigung in vielen Schwellenländern wirtschaftliche Erschütterungen ausgelöst hat, zeige – so hieß es in einer Erklärung des südafrikanischen Präsidialamtes am Vorabend des Gipfels –, „dass Entscheidungen, die Länder ausschließlich auf der Basis ihrer eigenen nationalen Interessen treffen, ernsthafte Konsequenzen für andere Länder haben können“.

Der Kollateralschaden dieser Politik für viele Entwicklungsländer ist in der Tat offensichtlich: Die Schwemme billigen Geldes führte zu massivem Carry Trade, zur Überbewertung vieler Währungen, zum Aufbau eines nicht-nachhaltigen Kreditbooms und jetzt – nach der Umkehr der Kapitalströme – zu drohenden Währungskrisen, die sich zu erneuten Finanzkrisen ausweiten könnten. Doch gemessen an dieser bedrohlichen Tendenz, sind die Erklärungen, die die G20 dazu abgaben, alles andere als angemessen: Die Beendigung von QE müsse „sorgfältig kalibriert erfolgen und gut kommuniziert“ werden, heißt es in der Leaders‘ Declaration. Und: Die Spillover-Effekte der Geldpolitik in den Industrieländern sollten „sorgfältig gemanagt“ werden. Die Geldpolitik der reichen Länder selbst war auch in St. Petersburg kein Verhandlungsgegenstand.

* BRICS-Building

So wurde denn der wohl wichtigere Beschluss zu diesem Thema von einer Gruppe von Emerging Markets, den BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), selbst gefasst, noch bevor der Gipfel offiziell begonnen hatte. In seinem unmittelbaren Vorfeld kamen die Führer der BRICS überein, einen eigenen Fonds von Währungsreserven, das sog. Contingent Reserve Arrangement (CRA), zu schaffen, um spekulative Attacken auf BRICS-Mitglieder künftig besser abwehren zu können. Der eigene Währungspool soll anfangs insgesamt 100 Mrd. US-Dollar umfassen, wovon China 41, Brasilien, Indien und Russland jeweils 18 und Südafrika 5 Mrd. Dollar einzahlen werden.

Indem die Einzahlungen differenziert nach der ungefähren Wirtschaftsstärke der einzelnen BRICS-Länder erfolgen sollen, vermieden sie Fehler, die bei der gemeinsamen BRICS-Entwicklungsbank, der sog. New Development Bank (NDB), zum Streit um die jeweilige Beteiligung am Grundkapital geführt hatten. Ein von der südafrikanischen BRICS-Präsidentschaft herausgegebenes Statement unterstreicht, dass inzwischen in Bezug auf viele Schlüsselaspekte und operationale Details des CRA Konsens erzielt werden konnte und dass das Projekt bis zum nächsten Gipfel 2014 in Brasilien unter Dach und Fach sein soll. Dies ist zwar zu spät zur Bekämpfung der aktuellen Währungsunruhen. Auch bestreiten diverse Analysten, dass die 100 Mrd. Dollar ausreichend sein werden, um wirklich massiven spekulativen Attacken zu begegnen. Dennoch machen die BRICS ihrem Namen alle Ehre: Unter „brick“ versteht man im Englischen auch „Baustein“. Und die BRICS-Strategie scheint genau darin zu bestehen, Baustein für Baustein zusammenzutragen, was für die Untermauerung der eigenen Interessen wichtig ist.

* Weiterhin ungelöst: Reform des internationalen Währungssystems

Man mag das „BRICS-Building“ als Alleingang von Schwellenländern bedauern. Doch solange keine Reform der internationalen Währungs(un)ordnung in Angriff genommen wird, ist dies der einzige gangbare Weg. Denn seit das System der festen Wechselkurse von Bretton Woods 1971 aufgegeben und der Volatilität freier Lauf gelassen wurde, bleibt den Staaten im Kampf gegen die Instabilität der Währungen nur die Selbstversicherung durch die Bildung von Währungsreserven (um gegebenenfalls in den Märkt intervenieren zu können) oder der Griff zu Kapitalverkehrskontrollen oder aber Phlegma und Nichtstun.

Die Fehler des internationalen Währungssystems sind also älter als die aktuellen Währungsprobleme der Schwellenländer. Ein kardinales Problem ist, dass das derzeitige System keinerlei Handhabe bietet, um Überschussländer zu Korrekturen zu zwingen. Ein weiteres besteht darin, darin, dass die wichtigste internationale Reservewährung immer noch eine nationale Währung, der US-Dollar, ist. Einzig die FED entscheidet deshalb über die Menge, in der diese Währung zur Verfügung steht. Und wenn die Weltwirtschaft wie derzeit insgesamt schneller wächst als die US-Wirtschaft, verstärkt sich die Tendenz zur Verknappung internationaler Liquidität zusätzlich.

Zur Lösung dieses Problems stehen schon länger Lösungen bereit, die sich zumeist mit dem Namen Keynes verbinden: die Schaffung eines internationalen Reservesystems mit Regeln für die Bewertung nationaler Währungen (im Verhältnis zu den internationalen Reserven) und Sanktionsmechanismen gegen Defizit- und Überschussländer. Nach der jüngsten globalen Finanzkrise wurden mehrere solcher Vorschläge zur Stabilisierung der globalen Finanzen auf den Tisch gelegt, etwa von der Stiglitz-Kommission. In einem neuen Buch (>>> Against the Consensus) unterbreitet jetzt auch der ehemalige (und erste) chinesische Chefökonom der Weltbank, Justin Yifu Lin, einen Vorschlag zur Schaffung einer solchen globalen Reservewährung (in Form von Papier-Gold – „p-gold“).

Es wäre an der Zeit, solche Alternativen zu dem jetzigen Chaos-System wieder hervorzuholen. Solange dies nicht geschieht, wird die Welt zu einem endlosen Zyklus von Spekulationsblasen, Finanzkrisen und Währungszusammenbrüchen verdammt bleiben. Daran haben die G20 und auch der St.-Petersburg-Gipfel bis heute nichts geändert.

Hinweis:
* Beschlüsse, Dokumente und weitere Analysen auf unserer Website ???042ae6a22e11e8b01???.

Veröffentlicht: 9.9.2013

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, G20-Gipfel in Zeiten des Übergangs. Die unvollendete Mission eines Klubs, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 9. September 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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