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Gesucht: Eine Vision für die Zeit nach 2015

Artikel-Nr.: DE20130924-Art.36-2013

Gesucht: Eine Vision für die Zeit nach 2015

Die Regierungen in die Pflicht nehmen

Vorab im Web – In dieser Woche beginnt die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der Überprüfung der Millennium-Entwicklungsziele (MDG) – den gemachten Fortschritten und den bleibenden Lücken. Es ist der offizielle Startschuss der zwischenstaatlichen Diskussion über eine neue, nachhaltige Entwicklungsagenda – vielleicht eingebettet in nachhaltige Entwicklungsziele (SDGs). Ein Kommentar von Gabriele Köhler mit den wichtigsten Links zu einer reichlich unübersichtlichen Debatte.

Das Sekretariat der Vereinten Nationen war ursprünglich vorsichtig, die MDG-Überprüfung mit dem Entwurf einer Nachfolgeagenda zu vermischen, weil man fürchtete, dies könnte den Schwung für die Erreichung der Ziele im Sande verlaufen lassen, statt sich auf den Endspurt zu ihrer Erreichung zu konzentrieren. Doch bereits letztes Jahre haben Wissenschaftler und die Zivilgesellschaft die UN dazu gedrängt, mit dem Nachdenken über eine neue Agenda zu beginnen, indem sie Studien in Auftrag gaben, Workshops abhielten und Blogs veröffentlichten (s. etwa: Civil Society Reflection Group on Global Development Perspectives, Towards a Framework of Universal Sustainability Goals as Part of a Post-2015 Agenda).

* Eine Unzahl von Ideen

Im Ergebnis kann die Generalversammlung jetzt auf eine Unzahl von Ideen zurückgreifen, die seit der Rio+20-Konferenz im letzten Jahr zusammengetragen wurden. Eine Million Meinungsäußerungen wurden bei Konsultationen, sei es direkt von Angesicht zu Angesicht oder über das Internet, zusammengetragen; aus der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft kamen zahlreiche, oft bissige Beiträge und Reflexionen; und eine große Zahl eher offizieller Berichte wurde publiziert, beginnend mit dem Outcome-Dokument des Rio+20-Prozesses (>>> The Future we want), gefolgt von der Arbeit des UN Interagency Task Teams, und dann vom Bericht der Hochrangigen Experten-Kommission des UN-Generalsekretärs und schließlich vom Bericht des UN-Generalsekretärs vom Juli mit dem Titel „Leben in Würde für alle“.

Im Lichte dieses überwältigenden Spektrums von Ansichten bittet ein prominenter Kommentator die UN darum, Führung anzubieten statt lediglich als Meinungsmakler zu fungieren (>>> Jan Vandemoortele: Post-2015 – why another approach is needed). Ich stimme zu, dass Führung – oder besser: eine Vision – notwendig ist.

Doch bevor man eine wirklich neue Agenda bekommt, müssen mehrere auf dem Tisch liegende Fragen geklärt werden:

● Brauchen wir globalen Ziele, und wenn ja, warum? Die Antwort ist einfach und offenkundig: Ziele, zu denen sich Regierungen – allein oder als Gemeinschaft – verpflichten, können ihre Interventionen leiten und dann genutzt werden, um ihre Ernsthaftigkeit zu messen, ihre Effektivität und ihren finanziellen Beitrag. Sie können dazu beitragen, die Regierung bzw. die Gemeinschaft der Regierungen rechenschaftspflichtig zu halten.

* Welche Art von Zielen?

Wenn das so ist, welche Art von Zielen brauchen wir dann? Hier ist die Antwort wesentlich komplexer.

● Viele Protagonisten argumentieren für eine einfache Liste klarer, messbarer und erreichbarer Ziele. Das würde vermutlich die drängendsten Fragen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, also Hunger, Einkommensarmut, soziale Ausgrenzung, Umweltzerstörung, Gesundheit, Analphabetentum, politische Unterdrückung und gewaltsame Konflikte – kurz: die vielen Formen der Verletzung von Menschenrechten – und Ziele formulieren, wie das auch im MDG-Prozess getan wurde.

Dennoch:

● Wenn Ziele einfach und messbar sind, versimplifizieren sie die Probleme (>>> Alberto Cimadamore et al, Poverty & the Millennium Development Goals (MDGs): a critical assessment and a look forward). Die Reduzierung der Armut auf eine einzige Zahl beispielsweise verdeckt ihre multidimensionale Ausdrucksform – selbst wenn es sich um einen zusammengesetzten Index wie beim multidimensionalen Armutsindex oder beim Human Development Index handelt, und der Verlust an menschlicher Würde, der stets mit Armut verbunden ist, bleibt unsichtbar.

● Wenn Ziele erreichbar sind, sind sie wahrscheinlich nicht ambitioniert und dienen letztlich der Zementierung des Status quo. Das Setzen von Zielen tendiert zum kleinsten gemeinsamen Nenner, wie beispielsweise zur Reduzierung statt zur Ausrottung der Armut oder des Hungers, oder bestenfalls zur Ausrottung der absoluten Armut über einen langen Zeitraum. Doch wie der Generaldirektor der FAO, Jose Graziano da Silva, formuliert ist mit Blick auf die hohe Zahl von hungernden Menschen: “Wir leben in einer Welt des Überflusses, die genug hat, um jeden zu ernähren. Die einige für uns akzepteble Zahl (hungernder Menschen) ist Null.

● Und am wichtigsten ist: Einfache, erreichbare Ziele verschleiern die Ursachen der Armut, von Hunger und Unterdrückung. Sie umgehen ebenso die Frage der notwendigen politischen Schritte und des politischen Spielraums von Ländern, die die Probleme ernsthaft angehen wollen. Einfache Ziele versuchen nicht einmal, Macht und Strukturen zu analysieren. Sie behindern so jegliches transformative Handeln.

Deshalb würde ich argumentieren, dass die Schwächen der laufenden Debatte über die nicht erreichten MDGs und den Entwurf der neuen Post-2015-Entwicklungsagenda nicht darin liegen, dass es zu wenige, zu viele, zu vage oder zu ambitionierte Ziele sind, sondern dass der ganze Ansatz verfehlt ist.

* Regierungen – der vorrangige Adressat

In der Diskussion müssen klar und mutig die Ursachen der immensen und fortwährenden Zunahme von Armut und Unterdrückung innerhalb und zwischen den Ländern analysiert werden. Auf der Grundlage dieser Analyse müssen dann Politiken entwickelt werden, die die Strukturen innerhalb von Gemeinden, Ländern, Regionen und der Welt radikal ändern. Und von da ausgehend müssen dann die vorrangigen Adressaten, die Regierungen, angegangen werden.

Die Regierungen sind die Akteure, die in der UN-Generalversammlung sitzen. Sie haben ein Interesse an versimplifizierten Listen mit erreichbaren Zielen. Doch Regierungen können unter Druck gesetzt werden, um Konzessionen zu machen. Und es sind die Regierungen, die in die Pflicht genommen werden müssen.

An diesem Punkt kommt die UN ins Spiel – indem sie eine Vision anbietet, die über die Interessen von Gemeinden, herrschenden Eliten, Regierungen, regionalen Gruppierungen und Machtblöcken hinausreicht – und stattdessen fordert, dass die Bestrebungen einer würdevollen Menschlichkeit erfüllt werden. Das wäre eine Welt, die frei ist von Angst und Not – eine ebenso elektrisierende Vision wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrecht, als diese zum ersten Mal veröffentlicht wurde und eine Vision, der gegenüber die Regierungen zur Rechenschaft angehalten werden müssen.

Gabriele Köhler lebt als Entwicklungsökonomin und Publizistin in München (www.gabrielekoehler.net).
Veröffentlicht: 24.9.2013

Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Köhler, Gesucht: Eine Vision für die Zeit nach 2015, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 24. September 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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