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Implodiert Venezuelas Wirtschaft?

Artikel-Nr.: DE20131111-Art.39-2013

Implodiert Venezuelas Wirtschaft?

Die Apokalypse findet nicht statt

Nur im Web – Seit über einem Jahrzehnt argumentieren die Gegner der Regierung Venezuelas, darunter fast alle wichtigen westlichen Medien, dass die Ökonomie des Landes vor der Implosion steht. Wie Kommunisten in den 1930er Jahren an die finale Krise des Kapitalismus glaubten, sehen sie den ökonomischen Zusammenbruch Venezuelas kurz vor der Tür stehen. Mark Weisbrot schreibt, warum das ein Aberglaube ist.

Wie enttäuschend muss es für sie gewesen sein, lediglich Zeuge von zwei Rezessionen gewesen zu sein: eine, die direkt durch den Ölstreik der Opposition verursacht war (von Dezember 2002 bis Mai 2003), und eine weitere, die im Gefolge der Weltrezession stattfand (2009 und in der ersten Hälfte von 2010). Trotz dieser Rezessionen erwies sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im gesamten letzten Jahrzehnt – nachdem die Regierung 2003 die nationale Ölgesellschaft unter Kontrolle nahm – als recht gut: Das durchschnittliche reale Pro-Kopf-Wachstum betrug 2,7%, die Armut wurde um mehr als die Hälfte reduziert und die Lage der Mehrheit der Beschäftigten, der Zugang zu Gesundheits- und Alternsversorgung sowie zu Bildung verbesserte sich deutlich.

Ende eines Experiments?

Jetzt sieht sich Venezuela mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die die Herzen seiner Gegner höher schlagen lassen. Uns erreichen die schlechten Nachrichten jeden Tag, wobei die westliche Berichterstattung über Venezuela sowieso fast ausschließlich aus schlechten Nachrichten besteht: die Konsumentenpreise stiegen im letzten Jahr um 49%; es existiert ein Schwarzmarkt, auf dem der Dollar siebenmal höher als zum offiziellen Kurs gehandelt wird; es gibt Knappheit bei Konsumgütern, von der Milch bis zum Toilettenpapier; das wirtschaftliche Wachstum schwächt sich ab; die Reserven der Zentralbank fallen. Werden diejenigen, die solange falschen Alarm geschlagen haben, letztlich doch sehen, wie ihre Träume in Erfüllung gehen?

Wahrscheinlich nicht. In der Analyse der Opposition und der internationalen Medien ist Venezuela in einer Inflations-Abwertungs-Spirale gefangen, in der die im Land steigenden Preise das Vertrauen in die Wirtschaft und die Währung unterminieren, die Kapitalflucht antreiben und die Dollar-Schwarzmarktpreise nach oben treiben. Dies heizt seinerseits die Inflation an, ebenso wie die Geldschöpfung durch die Regierung. Und die Preiskontrollen der Regierung, die Nationalisierungen und andere Interventionen haben zu weiteren Verzerrungen und strukturellen Problemen geführt, die den Niedergang der Ökonomie beschleunigen. Hyperinflation, steigende Auslandsschulden und eine Zahlungsbilanzkrise werden nach dieser Sicht das Ende dieses wirtschaftlichen Experiments markieren, für das sie jeden Tag hoffen und predigen.

Kein Mangel an Reserven

Doch wie kann eine Regierung mit Öleinnahmen von mehr als 90 Mrd. Dollar in einer Zahlungsbilanzkrise enden? Die Antwort lautet: Sie kann nicht, und sie wird nicht. 2012 hatte Venezuela Öleinnahmen von 93,6 Mrd. Dollar, und die Gesamtimporte der Wirtschaft wiesen ein Rekordniveau von 59,3 Mrd. Dollar auf. Die Leistungsbilanz war mit 11 Mrd. Dollar im Plus, was 2,9% des BIP entspricht. Die Zinszahlungen auf öffentliche Auslandsschulden, was die wichtigste Maßzahl für die öffentliche Verschuldung ist, beliefen sich gerade mal auf 3,7 Mrd. Dollar. Dieser Regierung gehen die Dollars nicht aus. Die Venezuela-Analayse der Bank of America hat dies im letzten Monat anerkannt und gelangte konsequenterweise zu dem Urteil, dass sich der Kauf venezuelanischer Staatsanleihen lohnt.

Die Zentralbank Venezuelas verfügt gegenwärtig über Reserven in Höhe von 21,7 Mrd. Dollar, wobei Oppositionsökonomen schätzen, dass weitere 15 Mrd. Dollar an Reserven von anderen Regierungseinrichtungen hinzukommen, so dass sich insgesamt 36,7 Mrd. Dollar ergeben. Normalerweise hält man Reserven, die drei Monate lang die Importe finanzieren können, für ausreichend; Venezuela hat mehr, um mindestens acht oder mehr Monate abzudecken. Und es verfügt über die Kapazität, mehr an internationalem Geld aufzunehmen.

Ein Problem besteht darin, dass die meisten Reserven der Zentralbank aus Gold bestehen. Aber Gold lässt sich verkaufen, auch wenn es viel weniger flüssig als beispielsweise US-Schatzbriefe ist. Es scheint weit hergeholt, dass die Regierung lieber eine Zahlungsbilanzkrise in Kauf nehmen würde als ihr Gold zu verkaufen.

● Venezuelas Inflationsprobleme

Hyperinflation ist ebenfalls ein sehr unwahrscheinliches Szenario. In den ersten beiden Jahren der wirtschaftlichen Erholung, die im Juni 2010 begann, fiel die Inflation, obwohl sich das wirtschaftliche Wachstum bis 2012 auf 5,7% beschleunigte. Im ersten Quartal von 2012 erreichte die Inflation gerade mal niedrige 2,9% - was einer Jahresrate von 12,1% entspricht. Das zeigt, dass die venezuelanische Ökonomie trotz ihrer Probleme sehr wohl in der Lage ist, gesundes Wachstum zu generieren und dabei sogar die Inflation zu drücken.

Was die Inflation wirklich seit etwa einem Jahr antrieb, war ein Rückgang des Dollarangebots auf dem Devisenmarkt. Im Oktober 2012 ging dieses um die Hälfte zurück und kam im Februar buchstäblich zum Erliegen. Dies bedeutete, dass mehr Importeure Dollars zu steigenden Preisen auf dem Schwarzmarkt kaufen mussten. Dies war die Hauptquelle der Inflation. Auch die Abwertung im Februar trug zur Inflation bei, aber wahrscheinlich in geringerem Maße.

Mit einer monatlichen Rate von 6,2% erreichte die Inflation in diesem Mai ihren Höhepunkt und fiel dann stetig bis auf 3,0% im August, als die Regierung begann, den Märkten mehr Dollars zuzuführen. Im September stieg sie wieder auf 4,4%, doch seither hat die Regierung ihre Dollarauktionen verstärkt und eine geplante Steigerung von Nahrungsmittel- und anderen Importen angekündigt, was wahrscheinlich einigen Abwärtsdruck auf die Preise erzeugen wird.

Armutsreduzierung trotz struktureller Schwächen

Natürlich sieht sich Venezuela einigen ernsten wirtschaftlichen Problemen gegenüber. Aber diese sind nicht von der Art, unter denen beispielsweise Griechenland leidet (das jetzt im sechsten Jahr in Rezession ist) oder Spanien, die in einem Arrangement gefangen sind, in dem die makroökonomische Politik von Leuten bestimmt wird, deren Ziele mit ihrer ökonomischen Erholung in Konflikt stehen. Venezuela hat genügend Reserven und ausländische Deviseneinkünfte, um das zu tun, was es für notwendig erachtet, einschließlich die Bekämpfung des Dollarwerts auf dem Schwarzmarkt und die Beseitigung der meisten Knappheiten. Das sind Probleme, die durch politische Entscheidungen schnell gelöst werden können.

Venezuela hat – wie die meisten Ökonomien der Welt – auch langfristige strukturelle Probleme, etwa die Überabhängigkeit vom Öl, eine inadäquate Infrastruktur und eine begrenzte Verwaltungskapazität. Aber das sind nicht die Ursachen seiner gegenwärtigen misslichen Lage.

Unterdessen ging die Armutsrate in Venezuela im letzten Jahr um 20% zurück. Das war 2012 sicherlich die größte Abnahme der Armut in Gesamtamerika und eine der größten – wenn nicht die größte – in der Welt. Die Zahlen kann jeder auf der Website der Weltbank nachlesen, doch kaum ein Journalist hat jemals die beschwerliche Reise durch den Cyberspace unternommen, um sie zu finden und darüber zu berichten. Fragen wir sie doch mal, warum sie das versäumt haben.

Mark Weisbrot ist Ko-Direktor des Center for Economic and Policy Research (CEPR) in Washington DC. Sein Beitrag erschien im Guardian.

Veröffentlicht: 11.11.2013

Empfohlene Zitierweise:
Mark Weisbrot, Implodiert Venezuelas Wirtschaft? Die Apokalypse findet nicht statt, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 11. November 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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