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Konsens jenseits der Wachstumsfixierung?

Artikel-Nr.: DE20130213-Art.04-2013

Konsens jenseits der Wachstumsfixierung?

Verspielte Chancen

Vorab im Web - Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages wird im kommenden April ihre Ergebnisse vorlegen. Doch schon jetzt steht fest: Die Chance, Diskussionen um ein neues Wohlstandsmodell zu entfachen, wurde verspielt. Auch Sachverständige der Kommission schätzen die Resultate der gut zweijährigen Kommissionarbeit eher skeptisch ein. Ein kritischer Bericht von Ulrich Brand.

„Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Industriestaaten gibt es eine Debatte darüber, ob die Orientierung auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausreicht, um Wohlstand, Lebensqualität und gesellschaftlichen Fortschritt angemessen abzubilden“, hieß es im Antrag zur Einsetzung der Kommission. Mit dieser Institution verfügt das Parlament über ein Instrument, parteiübergreifend und über die Tagespolitik hinaus zukunftsweisende Themen intensiv zu bearbeiten und Empfehlungen abzugeben. Wenn das funktioniert, können neue Konsense und eine breite Basis vorbereitet werden für reformorientierte Politik oder zumindest mit der notwendigen analytischen Tiefe die tiefer liegenden Gründe für Differenzen in der politischen Auseinandersetzung deutlich werden.

* „Wachstum, Wachstum, Wachstum“

Die Ergebnisse der zu Ende gehenden Enquete sind ambivalent und tendenziell als enttäuschend einzuschätzen. Die Wirtschaftskrise führt zu dem paradoxen Sachverhalt, dass die drei Kernforderungen „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ lauten. Gleichzeitig weitet sich in der Bevölkerung, Öffentlichkeit und Wissenschaft eine Debatte aus, die aus ökologischen, sozialen und ökonomischen Gründen die einseitige Orientierung am Wirtschaftswachstum hinterfragt.

Doch die wenigen tonangebenden Abgeordneten und Sachverständigen im Lager von Union und FDP hatten wenig Interesse daran, neue Anstöße zu geben. Das Modell Deutschland und die Wachstumsfixierung sollten nicht infrage gestellt werden. Eine intensive Diskussion über die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise oder gar der multiplen Krise wurde weitgehend unterbunden.

Der seitens der Unions- und FDP-Mitglieder formulierte Bericht zum „Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft“ wurde von der Wirtschaftswoche (5.2.2013) zu Recht als „geistlos“ und „Zeugnis der intellektuellen Leere“ kritisiert, da schlicht darauf insistiert wird, dass es so weitergehen soll wie bisher. In einer Projektgruppe zum Thema Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch verweigerten sich die Mitglieder der Koalitionsparteien schlicht der Ausarbeitung von – so kontrovers wie auch immer formulierten - Handlungsoptionen.

Geschmackloser Zahlensalat

Die Enquete-Kommission hat eines ihrer wichtigsten Ziele verfehlt. Es ist nicht gelungen, einen überzeugenden Indikator zu entwickeln, der ein ganzheitliches Verständnis von Wohlstand in Zahlen auszudrücken vermag. Zu bedauern ist, dass nicht nur ein mangelhafter, sondern auch ein viel zu umfangreicher Indikatorensatz vorgeschlagen wird. Ein Tableau aus insgesamt 20 Indikatoren ist einer breiten Öffentlichkeit nicht vermittelbar. Abwegig ist darüber hinaus die Aufgliederung des Indikatorensatzes in zehn Leitindikatoren, neun Warnlampen und eine Hinweislampe. Zu diesem Sammelsurium gehören zum Beispiel: Staatsschulden, Beschäftigungsquote, Lebenserwartung, Stickstoffbilanz und sogenannte Kredit-, Aktienkurs- und Immobilienpreislücken und vieles andere mehr.

In der Indikatoren-Projektgruppe der Kommission kam es zu einer merkwürdigen konservativ-liberal-sozialdemokratischen Koalition unter Führung der FDP. Der von der FDP benannte Sachverständige, Professor Christoph Schmidt, Chef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat die Indikatoren-Diskussion dominiert und seine Ziele durchgesetzt: erstens das kritische Anliegen der Kommission in einer möglichst großen Masse von Indikatoren zu ertränken; zweitens Wohlstandsmaße durchzuzsetzen, die Probleme wie etwa die Ungleichheit in der Gesellschaft oder den Raubbau an der Natur verharmlosend zum Ausdruck bringen.

Die Linke hat gemeinsam mit den Grünen und mit dem CDU-Sachverständigen Meinhard Miegel immer wieder darauf hingewiesen, dass man sich bei der Auswahl von alternativen Wohlstandsmaßen auf wenige beschränken muss. Leider haben das die SPD-Mitglieder in der Projektgruppe nicht begriffen und sich immer wieder auf Wünsch-Dir-Was-Diskussionen eingelassen. So kam es zu dieser ganz großen Koalition mit FDP-Dominanz. Was am Ende beschlossen wurde, dürfte für die rechtsliberale Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, bei der Schmidt kräftig mitwirkt, ein willkommener Triumph sein.

In einem Sondervotum hat Die Linke die Mehrheitsbeschlüsse scharf kritisiert und einen eigenen Vorschlag (s. Link unter dem Hauptartikel) präsentiert: das "Trio der Lebensqualität", das nicht 20, sondern drei Indikatoren enthält. In diesem Trio stehen die durchschnittlichen Bruttolöhne für den materiellen Wohlstand, die Klassenspaltung bei den Vermögensbeständen für die gesellschaftliche Teilhabe und der ökologische Fußabdruck für die Gefährdung der Biosphäre.

Hans Thie

Hinzu kam die politisch „übliche“ Parzellierung der Krisendimensionen: Eine Projektgruppe befasste sich mit der ökologischen Krise, eine andere mit der Wirtschafts- und Finanzkrise, eine weitere mit der Krise der Arbeitsgesellschaft. Die Verbindungen wurden kaum hergestellt – es war zu wenig gewollt. Hier hätte Neues und die Politik Anstoßendes entstehen können.

* Unter Ausschluss der Zivilgesellschaft

Die Kommission hat zudem nicht den Mut aufgebracht, einen breiten Wohlstandsbegriff zu formulieren. Es dominierten die Ökonomen, für die Wohlstand identisch ist mit den für den Markt produzierten und konsumierten Waren. Fragen der Suffizienz – also des „Was ist genug?“ – an Unternehmen, Staat und Menschen, damit verbunden ethische Aspekte, aber auch die Berücksichtigung anderer Tätigkeiten als jene der Erwerbsarbeit wie Sorge- oder Freiwilligenarbeit hatte es schwer. Das hat eben nichts mit Wachstum zu tun – aber viel mit Wohlstand.

Besonders bemerkenswert ist, dass die Kommission glaubte, weitgehend auf die Erfahrungen und Perspektiven der Zivilgesellschaft verzichten zu können. Ganz wenige VertreterInnen wurden aus diesem Spektrum eingeladen. Staatliche Politik, Wirtschaftsvertreter, akademische Wissenschaft und einige wenige Großverbände blieben unter sich. Der neugierige Blick an die Ränder der gesellschaftlichen Entwicklung und Debatten wurde kaum gewagt. Feministische Positionen mit ihrer Kritik an Markt und Wachstum wurden zwar auf starken öffentlichen Druck hin formuliert, aber von vielen auch ignoriert.

Aus einer politisch progressiven Perspektive können jedoch auch produktive Aspekte festgehalten werden. Zum einen ist der Oppositionsbericht zum Stellenwert von Wachstum – trotz blinder Flecken wie das weitgehende Ignorieren der feministischen Diskussion – ein gutes Kompendium der aktuellen keynesianischen Debatten um alternative Wirtschaftspolitik. Zudem gelang es, zwischen den Oppositionsparteien Gemeinsamkeiten zu erarbeiten. Der Begriff der sozial-ökologischen Transformation könnte sich als tragfähige Orientierung zwischen den Oppositionsparteien etablieren und damit Differenzen zu den inkrementellen Politikansätzen der Regierungsseite unterstreichen.

Interessant als „Outsider“ im politischen Geschäft war die Mächtigkeit des Dispositivs „Markt oder Staat“ = rechts/links. Dabei geht es nicht um Ausschließlichkeit, aber um klare Schwerpunkte. Damit wird aber linke Staatskritik schwierig, man wird fast zu den Liberalen sortiert, wenn der Staat nicht als marktkorrigierende Instanz verstanden wird. Wenig berücksichtigt wird dann: Der Staat ist in vielen Fragen Teil des Problems.

* Blinde Flecken statt Alternativen

Im Themenbereich „Weltwirtschaft und Entwicklung“ bestehen wichtige blinde Flecken, die Ausdruck der gesellschaftspolitischen Diskussionen sind: Die Zwänge des Weltmarktes und der globalen Konkurrenz(-fähigkeit) bleiben unhinterfragt. Es geht um unterschiedliche Strategien, aber das Nadelöhr ist die Sicherung des Standortes Deutschland. Dabei wird angenommen, dass in einem Land übergreifend alle gesellschaftlichen Gruppen (Klassen, Geschlechter, rassifizierte Menschen) daran ein Interesse haben. Dass kapitalistische Konkurrenz selbst Herrschafts-, Disziplinierungs- und Unterordnungsverhältnisse konstituiert, bleibt ausgespart.

Menschen und Gesellschaften des globalen Südens – insbesondere in den Schwellenländern – werden als solche gesehen, die unbedingt Erfolg im globalen Wettbewerb wollen und „uns“ vielleicht bald überholen. Das schränkt die Korridore von Alternativen ein: Etwa eine stärkere Regulierung des Weltmarktes, Prinzipien der Solidarität statt unbedingter Konkurrenz, eine Aufwertung nicht-marktförmiger und nicht-kapitalistischer Wirtschaftsaktivitäten sowie die ganz unromantisch, sondern demokratisch zu stellende Frage der Subsistenz.

* Was wird von den Ergebnissen der Kommission bleiben?

In der interessierten Öffentlichkeit könnte die Erschöpfung des Problembewusstseins der herrschenden Kräfte deutlicher als bisher gesehen werden. Das gilt zwar nicht überall: In einer Arbeitsgruppe zu Arbeit, Konsum und Lebensstilen wird kontrovers, aber auf der Höhe der Zeit progressiver und konservativer Positionen diskutiert. Dennoch könnte die Einschätzung der „Wirtschaftswoche“ sich als richtig erweisen, dass nämlich Union und FDP die Intellektuellen abhandenkommen, die Probleme in ihrer Komplexität erkennen und formulieren. Die Enquete-Kommission wäre ein Indikator. Ein Beispiel: Meinhard Miegel, ein scharfer und problemorientierter konservativer Denker, wurde weitgehend kaltgestellt von den neoliberalen Apologeten des angeblich gut funktionierenden Modells Deutschland - und nicht nur er, sondern auch andere von Union und FDP berufene Sachverständige, insbesondere Experten in Fragen Nachhaltigkeit.

Auf Oppositionsseite war umgekehrt das hohe Problembewusstsein deutlich. Und es wurde deutlich, dass Politik – in einer Enquetekommission ist das ja nicht Realpolitik, sondern Analyse und Vorschläge – auch mit Wertschätzung und Vertrauen zusammenhängt und durchaus etwas ermöglichen kann. Das scheint wichtig in Zeiten, in denen rot-rot-grünes Crossover sowie intensive Interaktion mit progressiven zivilgesellschaftlichen Akteuren eher schwierig sind.

Wir sollten aber nicht vergessen: In allen Oppositionsparteien dominieren Realpolitik und Parteienkonkurrenz. Zur breiten Unterstützung sozial-ökologischer Transformation als Projekt ist es noch ein weiter Weg. Doch, wie gesagt, eine der Aufgaben von Enquete-Kommissionen besteht in der Vorbereitung neuer Konsense.

Dr. Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und wurde von der Bundestagsfraktion Die Linke in die Enquetekommission berufen. Er ist darüber hinaus Mitglied im Institut Solidarische Moderne und derzeit Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. – Dr. Hans Thie ist Referent für Wirtschaftspolitik der Bundestagsfraktion Die Linke, an deren Sondervotum (s. Box) er wesentlich beteiligt war.

Veröffentlicht: 13.2.2013

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Brand, Konsens jenseits der Wachstumsfixierung? Verspielte Chancen, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 13. Februar 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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