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Neuanfang bei der WTO mit Azevédo?

Artikel-Nr.: DE20130522-Art.24-2013

Neuanfang bei der WTO mit Azevédo?

Erfolg für Schwellen- und Entwicklungsländer

Am Ende freuten sich alle über die relativ reibungslose Einigung auf die Ernennung des langjährigen brasilianischen WTO-Botschafters Roberto Carvalho de Azevédo zum Nachfolger von Pascal Lamy. Die Entscheidung zeigt aber auch den sinkenden Einfluss der alten Industriestaaten, die fast geschlossen Azevédos Gegenkandidaten Herminio Blanco aus Mexiko unterstützt hatten, schreibt Tobias Reichert.

Seit der Totalblockade der Verhandlungen der Doha-Runde 2008 (>>> W&E 07-08/2008) ist es um die Welthandelsorganisation (WTO) recht ruhig geworden. Gelegentlich schafft es ein Streitfall um Subventionen für Flugzeugbauer oder Anti-Dumpingzölle auf Solarzellen noch einmal auf die hinteren Seiten des Wirtschaftsteils. Die großen Auseinandersetzungen um die weitere Gestaltung der Weltwirtschaft oder zumindest des internationalen Handels finden allerdings kaum noch in Genf statt.

* Viele KandidatInnen aus Entwicklungs- und Schwellenländern

Der Attraktivität des Generaldirektorpostens hat dies aber anscheinend keinen Abbruch getan. Im Frühjahr diesen Jahres gingen insgesamt neun Kandidatinnen und Kandidaten ins Rennen um die Nachfolge des nach einer zweiten Amtszeit ausscheidenden Pascal Lamy, der seinem wichtigsten Ziel, dem Abschluss der seit 2001 laufenden Doha-Runde zur umfassenden Liberalisierung des Welthandels einige Male nahe kam, es aber letztlich nicht erreichen konnte. Die Generaldirektoren des GATT-Sekretariats, der Vorläuferorganisation der WTO, waren alle aus Europa gekommen. Und auch die 1995 gegründete WTO 1995 wurde mit Ausnahme des Thailänders Supachai Panichpakdi, der sich eine Amtszeit mit dem Neuseeländer Michael Moore geteilt hatte, immer von Männern aus Industriestaaten geführt.

Diesmal kamen die meisten KandidatInnen aus Schwellen- und Entwicklungsländern. Neben Brasilien hatten Costa Rica, Ghana, Indonesien, Mexiko, Jordanien und Kenia ehemalige MinisterInnen oder DiplomatInnen ins Rennen geschickt. Dagegen waren Neuseeland und Südkorea die einzigen Industriestaaten, die Kandidaten aufgeboten hatten. In mehreren vertraulichen Konsultationsrunden, in denen die Mitgliedsstaaten ihre Präferenzen bekannt gaben, wurde das Feld der BewerberInnen immer mehr reduziert, bis nur noch Azevédo und der ehemalige mexikanische Handelsminister Blanco verblieben. Obwohl beide Vertreter lateinamerikanischer Schwellenländer sind, stehen sie für deutlich unterschiedliche, wenn auch nicht diametral entgegengesetzte handelspolitische Ansätze.

* Unterschiedliche handelspolitische Programme

Blanco hatte in den 1990er Jahren das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) mit den USA und Kanada mit verhandelt. Damit war er nicht nur für ein Abkommen verantwortlich, das die mexikanischen Agrarmärkte für die hoch subventionierte Konkurrenz öffnete, sondern darüber hinaus für eine praktische Umsetzung, die selbst die geringen Spielräume nicht nutzte, die NAFTA zum Schutz gerade der kleinstrukturierten Maisbauern bot. Im Ergebnis mussten hunderttausende Bauern ihr Land verlassen und das arbeitsintensive Terrassenanbausystem dem Verfall überlassen. Blanco erwies sich damit als Vertreter des Washington Consensus alter Schule, nach dem der Abbau von Handelshemmnissen möglichst schnell und umfassend zu erfolgen habe und die Verlierer schon irgendwie zurecht kommen würden. Mexiko hat sich in der WTO auch der G20 der großen Schwellen- und Entwicklungsländer angeschlossen, tat sich dort allerdings nicht durch große Aktivität hervor. Allenfalls machte es durch nicht abgestimmte Initiativen von sich reden, mit denen es den USA entgegenzukommen suchte.

Azevédo und sein Heimatland Brasilien repräsentieren ein Alternativmodell, das aber keineswegs auf Protektionismus und staatliche Intervention setzt. Vielmehr soll im Rahmen einer durchaus angestrebten Liberalisierungsagenda stärker auf die Interessen armer Bevölkerungsgruppen und den Aufbau neuer Wirtschaftszweige geachtet werden. Das schließt durchaus ein, einzelne Sektoren zeitweise von Liberalisierungsschritten auszunehmen und in Ausnahmefällen den Schutz sogar anzuheben. Diese Position stellt eine Art Kompromiss zwischen den einflussreichen Agrarexportinteressen und der Basis der regierenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT dar. Sie erlaubt es Brasilien auch, in der WTO gemeinsame Positionen mit Ländern wie Indien und Indonesien zu entwickeln, die durch eine überwiegend kleinbäuerliche Landwirtschaft geprägt sind und diese schützen und unterstützen wollen. Mit dieser als eine Art „Post-Washington Consensus“ einer abgefederten Liberalisierung zu beschreibenden Position wurden zu Brasilien und Indien zu den führenden Kräften der G20 in der WTO, die in den Agrarverhandlungen den stärksten Gegenpol vor allem zu den USA bildete.

* Azevédo gegen USA und EU durchgesetzt

Es überrascht daher nicht, dass USA, EU und Japan zusammen mit den meisten anderen Industriestaaten in der letzten Runde Blanco den Vorzug gaben. Noch vor zehn Jahren hätte das ausgereicht, um ihn auf den Posten des Generaldirektors zu hieven. Nun aber war die die Unterstützung durch China, Indien und die überwiegende Mehrheit der Entwicklungsländer groß genug, so dass sich auch die Industriestaaten dem Konsens anschließen mussten.

Nach der Wahl gab es hinter den Genfer Kulissen Beschwerden, dass Azevédo als brasilianischer Botschafter kontroverse Positionen vertreten und die Liberalisierung damit nicht ausreichend voran gebracht habe. Gleichzeitig haben USA und EU hinter den Kulissen aber signalisiert, dass sie auch mit Azevédo als neuem Generaldirektor leben könnten. Auch dies ein Zeichen, dass Azevédos Position in wichtigen Nuancen, nicht aber in der Grundausrichtung anders ist als die Blancos.

* Auswirkungen auf die Doha-Runde werden begrenzt bleiben

Dass der Widerstand der Industriestaaten nicht stärker war, ist sicher auch der Tatsache geschuldet, dass niemand mit einer baldigen Bewegung in den Doha- Verhandlungen rechnet. Lamy wird bis zum Ende seiner Amtszeit im September noch den Versuch fortsetzen, eine Einigung auf wenige Themen für die Ministerkonferenz in Bali im September vorzubereiten. Die USA haben aber bereits signalisiert, dass sie Forderungen der Entwicklungsländer, mehr Möglichkeiten zur Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zu schaffen, ablehnen. Auch bei dem im Prinzip von allen Parteien angestrebten Abbau administrativer Handelshemmnisse zeigen sich auch noch viele praktische Hürden. Der noch bis September amtierende WTO-Generaldirektor Lamy, dem das Verbreiten von unbegründetem Optimismus in den letzten Jahren fast zur zweiten Natur geworden war, merkte denn auch jüngst an, dass es bei der Vorbereitung der Bali-Konferenz bis jetzt viel Aktivität aber wenig Fortschritte gegeben habe.

Mit dem neuen Generaldirektor wird die WTO als weder zur Agentur für nachhaltige Entwicklung transformiert noch ihre alte Rolle als Speerspitze der Deregulierung zurückgewinnen. Sie unterstreicht aber das wachsende Gewicht der Schwellenländer in der internationalen Wirtschaftspolitik. Bis die Industriestaaten dies so weit akzeptiert haben werden, dass sie zu neuen Kompromisslinien bereit sind, wird es aber wohl noch einige Zeit dauern. Die Wahl Azevédos war wohl ein kleiner Schritt in diese Richtung.

Tobias Reichert ist Teamleiter für Welternährung, Landnutzung und Handel bei Germanwatch in Berlin.

Veröffentlicht: 22.5.2013

Empfohlene Zitierweise:
Tobias Reichert, Neuanfang bei der WTO mit Azevedo? Erfolg für Schwellen- und Entwicklungsländer, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 22. Mai 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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Gabriele Köhler schreibt:

Es wird interessant sein, zu sehen, ob es zu neuen Konstellationen und progressiveren Positionen in der globalen food security-Politik kommt, mit Azevédo an der Spitz der WTO und José Graziano da Silva, vom Zero Forme, an der Spitze der FAO.