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Post-2015-Debatte: Leerstellen im Mainstream

Artikel-Nr.: DE20130325-Art.18-2013

Post-2015-Debatte: Leerstellen im Mainstream

NGO-Konferenz in Bonn

Nur im Web – Rund 120 zivilgesellschaftliche Organisationen (CSOs) aus 80 Ländern trafen sich vom 20.-22. März 2013 in Bonn unter dem Thema „Advancing the post 2015 sustainable development agenda” (etwa: Die Nach-2015-Agenda der nachhaltigen Entwicklung voranbringen). Die Konferenz war ein Element im zweigleisigen Post-2015-Prozess. Ein Bericht von Gabriele Köhler.

Dieser Prozess folgt einerseits auf den Rio+20-Gipfel mit seinem Plädoyer für ein Set nachhaltiger Entwicklungsziele und andererseits der Arbeit des UN-Generalsekretärs zu den Millennium-Entwicklungszielen (MDGs) und der Formulierung einer neuen UN-Entwicklungsagenda. Diese beiden Gleise haben eine Flut von Debatten und Aktivitäten losgetreten: formelle und zwischenstaatliche Ad-hoc-Diskussionen; thematische und länderbezogene Konsultationen auf UN-Ebene; zivilgesellschaftliche Treffen; programmatische Stellungnahmen der internationalen Gewerkschaftsbewegung; Konsultationen der Privatwirtschaft; ein UN-weites Projektteam aus allen UN-Agenturen, -fonds und -programmen, selbst den internationalen Finanzinstitutionen; wissenschaftlich-akademische Papiere und fundierte Surveys von Individuen. (Bernd Hamm hat zu diesem Hype einen Stell Dir vor, es ist UNO, und keiner geht hin verfasst).

* Wird das die Welt verändern?

Wir das die Welt verändern oder zumindest in einen dringend gebrauchten Paradigmenwechsel münden? So kann man tatsächlich hoffen; aber man wäre gut beraten, nicht überoptimistisch oder naiv zu sein.

Wie ist der Stand der Dinge? Konsens scheint es zu geben mit Blick auf die Themen, die von einer neuen Entwicklungsagenda abgedeckt werden müssen. Sie scheinen umfassender und fortschrittlicher als die 2002 angenommenen MDGs zu sein: an prominenter Stelle Menschenrechte, auch nachhaltige Entwicklung und die Anerkennung, dass der Norden seine Konsumstrukturen verändern muss. Es gibt die Sorge um Gleichheit und ein explizites Bekenntnis zum Universalismus, zur Ausrottung der Armut, zum universellen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung. Die meisten Stimmen rufen nach einer Art Eine-Welt-Ansatz: Jedes Land hat ernste Probleme und muss sich „entwickeln“ – weg von einer bevormundenden und hierarchischen Weltsicht, in der der Norden dem Süden „hilft“. So weit, so gut.

* Selbstvergessener Diskurs

Gleichwohl weist die Mainstream-Debatte zahlreiche Leerstellen auf, wie auf der Bonner Konferenz hervorgehoben wurde.

Die erste auffallende Leerstelle ist die Realökonomie: Es gibt keine ausführliche Diskussion darüber, wie globale Produktionsketten, verzweifelte Migration und ungleicher Handel erstrangig zu „Armut in Arbeit“, zur Ungleichheit von Einkommen und Vermögen beitragen; zur Art und Weise, wie Konzerninvestitionen die Menschen ihrer Besitztümer – Land, Mineralien, Wasser – berauben und ihre Rechte negieren. Der Diskurs bleibt selbstvergessen gegenüber der Tatsache, dass die gegenwärtigen Strukturen der Realökonomie eine gerechte Entwicklung unmöglich machen.

Die zweite Blindstelle betrifft die Rolle des Staates. Die Mainstream-Debatte verharrt bislang wesentlich im Neoliberalismus und ist auf Good Governance beschränkt, bezieht sich auf nicht auf die Funktionsweise eines demokratischen, rechtebasierten Wohlfahrts- und Entwicklungsstaats, der eine Voraussetzung für die Bereitstellung öffentlicher Güter und für wirtschaftliche Entwicklung ist.

* Eine regressive Agenda?

Die neue Entwicklungsagenda läuft Gefahr regressiv zu werden und hinter die Positionen und Verpflichtungen zurückzufallen, die auf den UN-Weltkonferenzen der 1990er Jahre, vor allem auf dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen, ausgehandelt wurden. Die sich abzeichnende neue Agenda reflektiert nicht die Wut, die Empörung und den Ärger, wie sie der Arabische Frühling, die chinesische Menschenrechtsbewegung, die Occupy-Gruppen, die südafrikanischen Gewerkschaften oder die linken Regierungen in Lateinamerika ausdrücken.

Die meisten verfügbaren Mainstream-Statement, aber auch einige CSO-Stellungnahmen, lehnen das One-size-fits-all-Prinzip ab. Das klingt wie ein willkommener Kurswechsel, der den neoliberalen Standard-Ansatz von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung ablehnt. Dennoch besteht die Gefahr, dass diese Floskel zu einer Hintertür wird, durch die weniger Wohlstand, weniger Demokratie und niedrigere Umweltstandards in Gesellschaften, die ökonomisch und politisch verarmt sind, eingeführt werden können. ‚One size does not fit all‘ könnte eine faule Ausrede sein, die Menschenrechtsverletzungen, systematische Ausgrenzung und Ungleichheit ermöglicht. Und es betont auch nicht die Notwendigkeit von mehr Politikspielräumen und des Übergangs zu einer heterodoxen Wirtschaftspolitik, ohne die die derzeitigen Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und Fehlfunktionen nicht überwunden werden können.

Ein anderes Problem ist die Zeitperspektive. In der Diskussion ist, die neue Entwicklungsdekade bis zum Jahr 2030 zu strecken. Doch selbst wenn die Ziele radikaler formuliert werden – z.B. Beendigung der Armut statt Reduzierung um die Hälfte – würde mit einer 15-jährigen Laufzeit akzeptiert werden, dass große Gruppen von Menschen für eine weitere Generation massiver Armut ausgesetzt, vom Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung ausgeschlossen würden und rechtlos blieben. Diese Selbstgefälligkeit ist überraschend und inakzeptabel.

* Irritierende Sprache

Zweifel lässt auch die Sprache aufkommen. Die EU etwa spricht von einer transformativen Agenda und struktureller Transformation. Das klingt stark! Doch im Grunde meint dies anscheinend lediglich den ökonomischen Übergang vom primären zum tertiären Sektor oder vielleicht den Aufstieg auf der Wertschöpfungskette und in eine Green Economy. Nicht gefragt wird nach einer gesellschaftlichen Transformation zu sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ökologischer und kultureller Gerechtigkeit.

Eine andere Beobachtung ist, dass das obere UN-Management auf dem Rücksitz Platz genommen zu haben scheint und sich darauf beschränkt, den Prozess auszurichten. Dies möglicherweise wegen der Kritik, dass der MDG-Prozess UN- und gebergetrieben war und die Ziele von Entwicklungsexperten formuliert wurden, so dass man diesmal lieber den Regierungen des Südens die Führung überlässt und auch denen ausreichend Gehör verschaffen will, die in Armut oder in der informellen Ökonomie leben, Frauen sind und sehr jung oder sehr alt oder einer anderen aus ethnischen, Kasten-, Glaubens-, Gesundheits- oder Standortgründen ausgeschlossenen Gruppe angehören. Doch man vermisst eine mitreißende, inspirierende Vision aus dem System der Vereinten Nationen, die die Prinzipien und Werte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekräftigt und alles, wofür diese steht: Würde, Rechte, Wohlergehen – für alle.

* Die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Analyse

Auf der Bonner CSO-Konferenz gab es einen deutlichen Aufruf zu einer tiefgreifenden Analyse, wie die Armut „beendet“ werden und nicht nur gelindert werden kann, wie die Ernährungskrise zu lösen wäre, wie die Verantwortlichkeiten der Reichen und Mächtigen buchstabiert werden müssen und wie die vielen verfehlten Regeln, die die Entwicklung behindern, zu beseitigen wären. Eine Gruppe von CSOs kündigte das Hissen einer roten Fahne an (die dann auf World we want 2015 zu posten wäre), http://www.worldwewant2015.org) wenn die Entwurfstexte, die aus den verschiedenen Konsultationen, darunter der des UN-Panels herausragender Persönlichkeiten diese Woche in Bali, diesen minimalen Anforderungen nicht gerecht werden. Wie es die Frauengruppe, die von DAWN (“Development Alternatives for Women in A New Era”) und Women in Europe for a Common Future (WECF) repräsentiert wurde, in Bonn sagte: “We do not want to be mainstreamed into a polluted stream.”

Gabriele Köhler ist Entwicklungsökonomin und lebt als unabhängige Forscherin und Publizistin in München. Weitere Konferenzdetails siehe >>> hier.

Veröffentlicht: 25.3.2013

Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Köhler, Post-2015-Debatte: Leerstellem im Mainstream. CSO-Konferenz in Bonn, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 25. März 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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Post-2015 und Ökologisierung des Welthandels

Diskussionsbeitrag von Hans-Hermann Hirschelmann

Dass die EU von einer strukturellen Transformation spricht aber damit keine weltkommunistischen Flausen verfolgt, sollte eigentlich nicht groß irritieren. Sollte das doch der Fall sein, scheint mir das Ausdruck der falschen Vorstellung zu sein, dass sich gesellschaftliche Perspektiven aus der ideologischen Eindeutigkeit von Begriffen ergeben statt aus dem Ringen sozialer Kräfte, die irgendwie mit dem kapitalistisch voran gepeitschten Fortschritt (und dessen Destruktivkraft) klar kommen müssen. Die EU, aber auch die UN sind Institutionen kapitalistischer Nationen. Dass sich da also überhaupt etwas in Richtung Nachhaltigkeit bewegt und das auch noch hoch offiziell mit der Notwendigkeit tiefgreifender "Strukturveränderungen" in Verbindung gebracht wird, zeigt immerhin, dass es niemandem mehr möglich ist, sich ernsthaft um die Erkenntnis zu drücken, dass es so (kapitalistisch) auf keinen Fall weiter gehen kann und so auch nicht weitergehen wird.


Das heißt, dass sich Eingreifen lohnen könnte - im Hinblick auf soziale Fortschritte innerhalb des kapitalistischen Füreinanders, was erst einmal natürlich nicht höher als aufs ökokapitalistische Level führen kann. Für "weltkommunistische" Nachhaltigkeitsziele dürfte es 2015 jedenfalls zu früh sein (2050 allerdings mit ebenso großer Gewissheit zu spät). Eine nachhaltige Entwicklung dieses Eingreifens dürfte in der Kunst liegen, sich zwar auch an den offiziellen Dokumenten abzuarbeiten und die möglichst weit voran zu treiben, zugleich aber mit eigenständigen Nachhaltigkeitszielen eines Bündnises von sozialen Bewegungen, Wissenschaft und Kunst voranzukommen. Und in dem Rahmen eigene, zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsziele zu entwickeln, die sich streng an den zu bewältigenden Problemen ausrichten.Die aber trotz (oder wegen?) ihrer Radikalität prinzipiell zum "Mainstream-Diskurs" anschlussfähig bleiben, ja für viele von "denen" sogar (heimlich?) attraktiv erscheinen müssten.

Da wird man dann allerdings mit so Uneindeutigem wie die Sehnsucht nach "Gerechtigkeit" nicht so weit kommen. Gerechtigkeit bleibt für mich dem Paternalismus verhaftet. Im Zentrum müssten konkrete Forderungen in Richtung eines ökologischen Umbaus des Welthandelsregimes stehen. Dahinghend sollten wir rasch ordentlich Mut zum "Utopismus" entwickeln. Schluss mit Subventionen für Umweltzerstörung! Statt regionalen Umweltschutz als nicht tarifiere Handelshemmnisse zu bestrafen muss die Idee der Ökosteuern ausgebaut und internationalisiert werden. Also Öko-und Sozialzölle!

Globale Nachhaltigkeitsziele und damit korrespondierende Nachhaltigkeitsstrategien auf transnationaler, nationaler, regionaler oder lokaler Ebene werden AM ENDE nur so viel wert sein, wie sie sich auch tatsächlich erreichen lassen. Und das hängt auf absehbarer Zeit nun einmal vorallem davon ab inwiefern das finanziert werden kann. Ein System von Öko- und Sozialzöllen (meinetwegen Gerechtigkeitszöllen) würde nicht nur dem misslichen Umstand entgegen wirken, dass sozialer bzw. ökologischer Raubbau durch den Markt systematisch belohnt (und sodann zur "Existenz"bedingung für alle) wird, sondern würde auch die Möglichkeit schaffen, die die nötigen finanziellen Mittel zu konzentrieren, mit denen sich die nationalen, regionalen usw. Umbaupläne realisieren ließen.

Und nur so ließen sich jeweils auch vernünftige (zielgerechte) Zeithorizonte der Anpassung festlegen, die KEINE Anpassung an gegebene Kräfte- bzw. Abhängigkeitsverhältnisse sind und (wie es bei abrupt verlangten Sozial- und Ökostandards der Fall wäre) zum ökoimerialistischem Protektionismus der bereits Fitten führen. Die Konzentration einer Kampagne zu den UN Nachhaltigkeitszielen auf konkrete Forderungen in Richtung eines ökologischen Umbaus der WTO / des Welthandelsregimes (mit starker Menschenrechtsausrichtung) brächte trotz ihrer prinzipiellen "Anschlussfähigkeit" den Willen zu tatsächlich wirksamen (und durchaus zeitnahen) Veränderungen zum Ausdruck.Und hätte auch Platz zur Aufnahme der Wut von der Gabriele Köhler spricht.

Und für fantasiereiche Aktionen: meine Lieblingsvison wäre derzeit eine Fesselballonregatta entlang von Zugvogelrouten die auf ihren Etappe mit großem Taraaa künstlerischen Darbietungen, politischen Veranstaltungen usw. regionale Forderungen in Richtung eines Welthandelsregimes einsammelt....

Hans-Hermann Hirschelmann ist Dipl.-Soziologe in Berlin.

Veröffentlicht: 12.4.2013