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Stabilisierung des Durchwurstelns in der Eurozone?

Artikel-Nr.: DE20130107-Art.01-2013

Stabilisierung des Durchwurstelns in der Eurozone?

Die Euro-Politik zum Jahreswechsel 2012/13

„Wenn ich das Ganze der europäischen Einigung noch einmal zu machen hätte, würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur.“ (Jean Monnet)

Vorab im Web – Der Euro ist 2012 nicht zusammengebrochen. Nicht nur das, sondern Europa und der Euro-Raum sehen zum Jahreswechsel 2012/13 auch solider aus als im Januar 2012. Die großen Zittermomente am Rande des Zusammenbruchs hat es in diesem Jahr nicht gegeben. Vielmehr scheint die Euro(pa)-Debatte, trotz Aufgeregtheiten in Deutschland, von der Krisenerregung zu politischem Alltagsgeschäft zurückzupendeln, schreibt Oliver Schmidt.

Damit hat Wolfgang Schäuble Recht behalten, und Autor/inn/en wie ich selbst haben überzogen schwarzgemalt. Angela Merkel hat ganz klar Europa nicht in den Schmelztiegel gestoßen oder hinein taumeln lassen, den ich in meiner Polemik im Sommer 2012 beschworen hatte (W&E 06-07/2012). Denn meine spieltheoretische Betrachtung, wonach die EU-Regierungschefs nicht von einer nationalen Win-Loose- zu einer europäischen Win-Win-Perspektive kämen, hat sich als zu wenig erklärungshaltig erwiesen. Das ‘europäische Spiel’ ist wohl besser mit Muddling through (‚Durchwursteln‘; Lindblom 1959) zu erklären – freilich eine politikwissenschaftliche Theorie, die in der ordentlich modellierten Welt der Wirtschaftwissenschaften auf Unverständnis stößt. Aber im Rückblick auf das Jahr des verdienten Friedensnobelpreises für die EU lohnt es sich, an das Carlo Schmid zugeschriebene Wort zu erinnern: Besser, Europa macht blablabla als bumbumbum.

* Die Meisterin des Muddling through

Angela Merkel ist wohl eine Meisterin des Muddling through. Tippelschrittchen, Zick-Zack, verquaste Hinterzimmer- (bzw. Nach-Mitternacht-)Kompromisse, meistenteils formelhaft, jeder nur dazu gedacht, die Vorlage für die nächste Runde desselben zu sein, endlos, bis alle vergessen haben, worum es ursprünglich ging, und dann das zu vereinbaren, was inzwischen in der Welt außerhalb dieser Hinterzimmer Gestalt angenommen hat.

Das mag nicht schön anzusehen sein. Aber immerhin hat die Kanzlerin eben diese Herangehensweise in handfeste Wahlaussichten umgemünzt. Einerseits hat die veröffentlichte Meinung es weitgehend aufgegeben, ihre Versäumnisse zu referieren – ihre Zögerlichkeit in 2010 und 2011 verschärfte die Wirtschaftskrise der Mittelmeerländer. Stattdessen wird sie nun als ‘mächtigste Frau Europas’ bewundert, die sich auch über das, was konservativ-liberalen Wählern wichtig ist, leichtfüßig hinwegsetzt – von ihren eigenen roten Linien ganz zu schweigen. Derzeit sieht es so aus, als würde sie die erste Euro-Regierungschefin seit 2010, welche im Amt bestätigt wird.

* Wirtschaftsaussichten bleiben fragil

Die Risiken dieses Politikstils bleiben dieselben: der IFW, OECD und die Econimist Intelligence Unit (EIU) prognostizieren der Euro-Zone ein schrumpfendes Sozialprodukt. Sie implizieren eine Verschärfung der wirtschaftlichen Krise der ‘Euro-Peripherie’ und damit die zunehmende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit in der Euro-Zone. Zieht man die üblichen Unsicherheitsintervalle wirtschaftlicher Prognosen in Betracht, so ist es ebenso gut möglich, dass nicht nur die Peripherie, sondern auch das Euro-Zentrum in die Rezession rutschen – ein Domino-Effekt von Frankreich über Benelux nach Deutschland.

Leider gibt Muddling through wenig Anlass, auf optimistische Impulse für das entgegengesetzte Szenario zu setzen. Im besten Falle können Griechenland, Spanien und Portugal auf eine weniger tiefe Rezession hoffen (Spaniens und Portugals BIP schrumpfte in drei der letzten fünf Jahre, das Griechenlands in allen fünf Jahren), es sei denn, die EZB löst sich weiter von ihrem Inflationsziel – die 2% werden in 2012 knapp verfehlt; angesichts der (anscheinenden) Isolierung des Ordo-liberalen Bannerträgers Jens Weidmann in der EZB-Führung könnte das möglich sein, aber wohl nur in geringem Umfang.

Die relative Robustheit des Euro-Zentrums ist auch der Umlenkung von Finanzströmen geschuldet, welche nullprozentige deutsche Staatsanleihen allem vorziehen, was die Peripherie zu bieten hat – außer, dieselbe zahlt (wieder) zunehmende Zinsaufschläge.

* Primat und Handlungsfähigkeit der Politik?!

Die Kehrseite der Sozial- und Wirtschaftskrise ist abnehmende politische Handlungsfähigkeit der entsprechenden Regierungen; weil extremistische, regelmäßig rassistische Anti-EU/Euro-Parteien an Veto-Macht gewinnen (wenn sie mitregieren, werden sie schnell als ‘Scheinriesen’ entlarvt und auf ihre richtige Größe zurückgeschrumpft, so wie in Österreich und den Niederlanden).

Annähernd politisch handlungsunfähig erscheint auch Großbritannien, obwohl dessen soziale und wirtschaftliche Probleme denen der Mittelmeerländer nicht vergleichbar sind. Es bleibt zu hoffen, dass die Mehrheit der britischen Wähler/innen rechtzeitig erkennt, dass die EU-Kompromisse sehr viel mehr in ihrem fundamentalen Interesse sind als ein EU-Austritt. Jedoch dürfte das politische Beben, falls es zum Austritt käme, ähnlich heftig durch die EU gehen wie eine Zahlungsunfähigkeit Italiens durch die Euro-Zone.

* Muddling through als Dauerstrategie?

Europäisches Muddling through hat selbst gegenüber diesen Gefahren bisher erstaunlich gut funktioniert. Aber kann diese Methode dauerhaft verhindern, dass der Gang der Dinge fundamentale Interessen der Mitglieder verletzt? Um das zu beantworten, müssen die Mitglieder ihre fundamentalen Interessen klar formulieren, und dazu müssen sie sie klar verstehen – nach innen wie nach außen. Das europäische Spiel ist aber gerade darauf angelegt, diese Klarheit zu vermeiden, da sie möglicherweise sehr harte und potenziell gefährliche Konflikte beschreiben könnte.

Für eine Reihe von Staaten geht es um die Mitgliedschaft im Euro – Griechenland, vielleicht Portugal, vielleicht Finnland, aber auch Polen (von der Nichtmitgliedschaft kommend). Für Großbritannien geht es um die Mitgliedschaft in der gesamten EU. Für Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien geht es um den Bestand des Euro und des europäischen Binnenmarktes; sollten diese – ein für 2013 und absehbare Zeit unwahrscheinliches Horrorszenario – zerfallen, dann würden sich, ganz abgesehen von akuter Wirtschaftskrise, massive geo-strategische Probleme stellen, denen jedes dieser vier Länder (zunächst) allein ausgesetzt wäre. Es ist dieses geo-strategische Szenario, das Politiker wie Helmut Schmidt, Helmut Kohl und – eine Generation jünger – Joschka Fischer umtreibt.

Angela Merkel misst, wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder, diesem Szenario weniger Bedeutung zu. Stattdessen ist ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet, innerhalb des bestehenden Szenarios Deutschlands Rolle als Gläubiger neu zu beschreiben, mit mehr Rechten und weniger Verpflichtungen den Schuldnern gegenüber. Aus diesem Blickwinkel ist der ‘natürliche’ Gang der Dinge teilweise willkommen, denn er setzt die Schuldner unter Druck, diese Neubeschreibung entweder zu unterstützen oder eben ‘natürlich’ entstehen zu lassen.

In 2011 und Anfang 2012 deutete vieles darauf hin, dass dies ein verantwortungsloses Spiel mit dem Risiko war, dass das gesamte Szenario implodiert und alle verlieren. Anfang 2013 sieht es so aus, als ob das Spiel auf- und munter-muddling weitergehe. Dies ist u. a. deshalb der Fall, weil Angela Merkel – wie vor ihr Gerhard Schröder – letztlich immer darauf geachtet hat, Abstand zum ‘Schmelztiegel’ zu halten. In Schröders Fall waren das teure Kompromisse beim EU-Budget und die Euro-Mitgliedschaft Griechenlands. In Merkels Fall sind es die ‘roten Linien’ bei der Vergemeinschaftung von Schulden, welche über ESM und Bankenunion und wenn nötig Rettungspakete eben doch kommt – ironischerweise um eben die Mitgliedschaft Griechenlands zu erhalten, welche z. B. Markus Söder (CSU) – ideologisch aus seiner Warte korrekt – als nicht wünschenswert erkannt hat.

* Erstaunlich robust

Muddling through in der Tat. Mangelnde Eleganz der Denkmodelle ist vielleicht der Preis des politischen Primats:

1. In der Politik sind keine Entscheidungen regelmäßig die richtigen Entscheidungen, und nach dem Prinzip wurden die Institutionen der EU erschaffen. Das war historisch richtig und einzigartig – die einzige Region der Welt, in der die Völker, Religionen und Weltanschauungen das große heiße Morden durch einen permanenten, lauwarmen Speakers’ Corner ersetzt haben.

2. Niemand weiß, wie lange europäisch-institutionalisiertes Muddling through funktioniert, wenn fundamentale Interessen betroffen sind oder aus anderen Gründen strukturelle Kompromissunfähigkeit auftritt.

3. Zwischen 2010 und Anfang 2012 haben viele politische und wirtschaftswissenschaftliche Beobachter – einschließlich des Autors – Zeichen zu sehen gemeint, das diese Methode am Ende sei und die Institutionen zu implodieren drohten. Das hat sich als falsch erwiesen. Anfang 2013 scheinen die Zeichen eher auf Stabilisierung des Muddling through-Szenarios hinzudeuten; siehe ESM und Bankenunion.

4. Es weiß immer noch niemand, wie lange europäisch-institutionalisiertes Muddling through funktioniert, wenn fundamentale Interessen betroffen sind oder aus anderen Gründen strukturelle Kompromissunfähigkeit auftritt.

* Euro(pa)-Politik und Bundestagswahlkampf

Die deutsche Bundesregierung scheint entschlossen – oder entschieden nicht-entschlossen – keine Alternativen zur bestehenden Herangehensweise zu entwickeln – ‘auf Sicht fahren’ nennt Angela Merkel das. ‘Weitsicht’ bedeutet in dem Fall, dass die CDU als stärkste Partei aus der Bundestagswahl im September 2013 hervorgeht und Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Angesichts eines Dutzends oder so EU-Regierungen (einschließlich zwei in Griechenland), welche in den letzten zwei Jahren vor allem wegen der Auswirkungen der Euro(pa)-Politik gestürzt sind, wäre das ein herausragender politischer Erfolg.

Wird die Opposition dem etwas entgegensetzen? Die politische Erfahrung gebietet ja, die Regierung innenpolitisch anzugreifen, während die Regierung ihre außenpolitischen Erfolge strahlen lässt. Aber ist Euro(pa)-Politik immer noch Außenpolitik? Wünschenswert, mindestens vom demokratietheoretischen Standpunkt, aber mehr noch als Anspruch an linke Politik, wäre ein Frontalangriff auf die Merkelsche Euro(pa)-Politik. Neben die Konzepte zur Regulierung der europäischen Finanz- und Bankenmärkte (W&E 11-12/2011) müsste eine Diskussion um Armut und Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Mindest-Lebensstandard in ganz Europa treten. Das bedeutet, für einheitlichere Arbeitsmarkt- und Sozialversicherungsregelungen in ganz Europa einzutreten, einschließlich der Bereitschaft, einen Mindest-Lebensstandard durch Transferzahlungen über EU-Grenzen hinweg zu finanzieren. Es bedeutet vermutlich auch, einige (lose) gemeinsame institutionelle Regelungen für die Kommunen und lokalen Gebietskörperschaften zu finden. Diese sind derzeit von Land zu Land radikal verschieden. Ohne eine solche Balance zwischen stärkerer Rolle der Kommunen/lokalen Gebietskörperschaften und einheitlicheren Arbeitsmarktregeln würden letztere zu einem zentralistisch-bürokratischen Monster werden. In jedem Fall ist eine solche Strategie aus Perspektive des Wahlkämpfers außerordentlich riskant. Es kann leicht zum Rohrkrepierer werden, wie 1998 die – prinzipiell richtige – ‘5 Mark für den Liter Benzin’-Forderung der Grünen. Aber es wäre so was von erfrischend!

Fortschritt ist das Verwirklichen von Utopien, schrieb Oscar Wilde. Es ist wohl utopisch, von der kommenden Bundestagswahl Fortschritt für die Euro(pa)-Politik zu erwarten. Ich fürchte, mein entsprechender Jahresrückblick auf 2013 wird sehr langweilig werden.

Hinweise:
* Lindblom, C. (1959): The science of ‘muddling through’, in: Public Administration Review, Vol. 19, No. 2, pp. 79-88.
* Tommaso Padoa-Schioppa Gruppe (2012): Den Euro vollenden, unter: www.eng.notre-europe.eu/011-14599-denEurovollenden.html. (Der Bericht der Tommaso Padoa-Schioppa Gruppe, der eine Reihe europäischer Persönlichkeiten wie z. B. Jacques Delors angehören, aus Deutschland u. a. Peter Bofinger, beschreibt eine realistische politische ‘Roadmap’ zur Überwindung des Krisentaumels.)

Veröffentlicht: 7.1.2013

Empfohlene Zitierweise:
Oliver Schmidt, Stabilisierung des Durchwurstelns in der Eurozone. Die Euro-Politik zum Jahreswechsel 2012/13, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 7. Januar 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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