Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Warum Europa keine Rolle gespielt hat

Artikel-Nr.: DE20130924-Art.35-2013

Warum Europa keine Rolle gespielt hat

Eine Wahlkampf-Nachlese

Nur im Web – Europa beobachtete mit großer Spannung die deutsche Bundestagswahl. Und Deutschland? Guckte auf seinen eigenen Nabel – und das am liebsten, wie wir nun mit Gewissheit sagen können, durch eine Raute. Wer die internationale Presse verfolgte, fand ungläubiges Staunen darüber, dass Europa und der Euro kein Thema waren – ein ‘non-issue’, das hinter Frau Merkels Halskette und Herrn Steinbrücks Weinkaufgewohnheiten hintanstehen musste. Warum nur, fragt sich Oliver Schmidt.

Die am weitesten verbreitete Erklärung lautet, dass es zu dieser Frage in Deutschland die Supergroße Koalition gäbe, und dass der Opposition damit der Profilierungsraum fehle. Die Alternative zur bestehenden Politik seien eben mehr oder weniger unschlüssige oder gar populistisch-gefährlich anmutende Vorschläge von AfD und Linkspartei. Man kann das Wahlergebnis als Bestätigung dieser These ansehen: Merkel sahnt als ‘Gesicht’ oder Original der vorherrschenden Euro-/Europapolitik ab, während zugleich die ‘Ränder’ zu diesem Politikentwurf gestärkt werden. (Das ist übrigens ungefähr das gleiche Muster, nach dem sich Teile der SPD ihre Wahlniederlage von 2009 erklären – und die Theorie der ‘asymmetrischen Mobilisierung’ ist gewissermaßen die akademische Variante.)

* Europapolitik als Verhandlungsmasse?

Aber die Ähnlichkeiten zwischen CDU und rot-grüner Europolitik sind den Programmen nach wesentlich größer als diese Erklärung behauptet. Rot-Grün wollte ein deutliches Bekenntnis zur fiskalischen Umverteilung innerhalb Europas, z. B. durch ein substantielles Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit (SPD) oder durch sog. Eurobonds (Grüne). Die obige Erklärung impliziert damit, dass die rot-grünen Programme nicht so ernst gemeint waren. In diesem Sinne prognostizierte beispielsweise David Marsh im Interview mit der BBC am Tag nach der Bundestagswahl, dass die SPD ihre Europolitik in Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU zur Verhandlungsmasse machen werde.

Allerdings ist Aufschreiben eines Programmes, das man dann nicht verfolgt (was alle Parteien ständig tun) etwas anderes als ein Programm nicht verfolgen zu können. Rot-Grün hat gar nicht versucht, in der Euro- und Europapolitik Profil zu gewinnen:
● Sie hätten sich deutlich hinter das von der Europäischen Zentralbank (EZB) verfolgte Programm der Schuldverschreibungsaufkäufe stellen können;
● sie hätten südeuropäische Politiker zu ihren Kundgebungen einladen können;
● sie hätten die Fehlerhaftigkeit der Regierungsargumentation angreifen können; so argumentierte Herr Schäuble im Interview mit der „Zeit“ eine Woche vor der Wahl, dass es sich um eine Vertrauenskrise zwischen den internationalen Finanzmärkten und den ‘Krisenländern’ handle – ist es nicht vielmehr eine Schuldenkrise, ausgelöst dadurch, dass Regierungen hohe Staatsschulden zur Rettung des Weltfinanzsystems machten; und eine andauernde Regulierungskrise, da eben dieses Weltfinanzsystem weiter ‘zockt’, nun eben gegen diejenigen, die es gerade noch vor der Implosion gerettet haben?

* Europa als Risiko

Dass Rot-Grün das nicht gemacht hat, mag an einem anderen Grund liegen: Eine Basisregel des Wahlkampfes besagt, dass die Opposition innenpolitisch angreifen muss, während die Regierung ihre außenpolitischen Erfolge herausstellen muss. Heiner Geissler hat einmal die außenpolitischen Oppositionswahlkämpfe der Union 1972 und der SPD 1982 als beispielhafte Verstöße gegen diese Basisregel angeführt. Mit einem Euro-Wahlkampf hätte sich Rot-Grün also dieser Regel gemäß in diese ‘falsche Reihe’ gestellt.

Aber ist Euro- oder Europapolitik wirklich noch Außenpolitik? Wäre es nicht ein hoher staatspolitischer Verdienst, eine solche Priorität zu setzen mit der Ansage, dass Europa heute tiefer in die Sozial- und Wirtschaftspolitik eingreift als jeder andere politische Plan, und dass daher die europapolitischen Vorstellungen der die Bundesregierung tragenden Parteien das wichtigste Entscheidungskriterium für den Wähler/die Wählerin sein sollten?

Eine solche Strategie wäre zweifellos hochriskant gewesen, und zwar aus vier Gründen:
● Nach der og. Basisregel hätte Frau Merkel ihre Euro-/Europapolitik als erfolgreiche Außenpolitik erstrahlen lassen können; es war Rot-Grün ja auch nicht gelungen, ihr katastrophales und teures Krisenmanagement der Jahre 2010/11 (>>> W&E 11-12/2011 und W&E 06-07/2012) an ihr festzumachen (eine der Quellen der Bezeichnung ‘Teflon-Kanzlerin’).
● Rot-Grün hätte sich damit offen und direkt gegen die Bundesbank stellen müssen, welche ja, einem alten Spruch zufolge, in Deutschland mehr Gläubige hinter sich vereint als der allgemeine Theismus. Sicherlich wäre Rot-Grün vorgeworfen worden, Inflation und/oder eine Weichwährung zu befürworten; womit man an tiefsitzende Nationalängste gerührt hätte.
● Rot-Grün wäre, ähnlich wie Oskar Lafontaine 1990, als ‘Kassandra’ aufgetreten, mit der Prophezeiung, dass alles noch viel teurer wird als Frau Merkel verspricht – interessanterweise war es ausgerechnet Gerhard Schröder, der in dieses Horn stieß. Aber eine andere Basisregel besagt eben: ‘Kassandra wählt man nicht’.
● Rot-Grün hätte sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen müssen, die Interessen des deutschen Steuerzahlers nicht angemessen und entschlossen zu vertreten. Mit anderen Worten: In einer nationalen Perspektive, aus welcher Europa Außenpolitik ist, muss Politik nationalegoistisch sein. In einer europäischen Perspektive geht es um Fairness und Interessenausgleich in der gesamten Europäischen Union, und da gibt es nicht nur Steuerzahler, sondern auch Konsumenten und Produzenten, Schuldner und Gläubiger, Arme und Reiche, Arbeitslose und Beschäftigte, Rentner/Jugendliche und Erwerbstätige.

* Europa als Elitenkonsens

Es gibt einen weiteren Grund, warum es in Deutschland keinen Europawahlkampf gegeben hat. Europa gilt als ‘Elitenprojekt’, eine gute und richtige Sache, welche man vor den ‘gemeinen WählerInnen’ schützen muss – so wie die Abschaffung der Todesstrafe. Dazu passt, dass es in der schwarz-gelb-rot-grünen politischen Elite einen gewissen Konsenswunsch gibt, durch welchen man sich als Teil eben dieser Elite erkennbar macht (sehr schön bei den Grünen seit Joschka Fischer zu sehen). Dieser Konsenswunsch, welcher wohl auch Teile der schreibenden Zunft umfasst, führt direkt zur erstgenannten These der ‘supergroßen Europakoalition’. Rot-grün hat sich nicht getraut oder es für irgendwie unanständig gehalten, diesen Konsens in Frage zu stellen.

Aber warum die Zustimmung zu den Rettungspaketen (welche ja, ihren eigenen roten Linien zufolge, gar nicht Frau Merkels politischer Überzeugung [falls sie eine hat] entsprachen) in Sprachlosigkeit im Wahlkampf zwingen muss, ist nicht logisch ableitbar. Hierfür kann eben ausgerechnet Gerhard Schröder als Kronzeuge angeführt werden, der ja das Thema aufgriff. Dabei dürfte ihn wohl der populistische Impuls (und/oder aufmerksames Lesen der Wahlumfragen) getrieben haben, dass seit Juli eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass die AfD in die 5%-Nähe rücken würde, und ein entsprechender Europawahlkampf hätte sie wohl gestärkt und Schwarz-Gelb noch mehr geschwächt.

Anmerken sollte man auch, dass im Vergleich zu ihren Nachbarn große Länder (z.B. die USA, Indien oder im kleinteiligeren Europa eben Deutschland) generell dazu neigen, in der Politik Nabelschau zu betreiben. Misst man den Anteil der Beziehungen zu anderen Ländern in den Obama-Romney-Debatten gegen den Anteil der Beziehungen Deutschlands zu Europa (bzw. anderen Ländern) in der Merkel-Steinbrück-Debatte, so waren diese Anteile vermutlich vergleichbar (klein).

* Weder Mut noch Format

Zugegeben, diese Risiken und Bedingungen zu meistern bedürfte eines viel besseren Spitzenkandidaten (oder einer Spitzenkandidatin) und einer viel, viel professionelleren Wahlkampagne als die SPD sie seit 1998 geboten hat. Es wäre nicht unwahrscheinlich, dass SPD und Grüne mit ähnlichen Prozentsätzen herausgekommen wären. Aber dann könnten sie in den Spiegel schauen und sagen: ‘Wir waren ehrlich, wir haben uns um die Demokratie und ihre Willensbildung und um Europa verdient gemacht.’ Aber leider haben die beiden seit langem weder solchen Mut noch solche Form aufgebracht, und so haben sie verdient verloren.

Bleibt zu hoffen, dass Europa nicht noch mehr verliert mit diesem deutschen Wahlergebnis. Ironischerweise ruht diese Hoffnung nun auf Frau Merkel, welche ja für ihre inhaltliche Flexibilität (je nach Blickwinkel auch für Opportunismus gehalten) bekannt ist. Aber nachdem Rot-Grün ihr erlaubt hat, die deutschen WählerInnen europapolitisch einzulullen, was sollte sie veranlassen, dieselben nun aufzuschrecken? Vielleicht die Hilfspakete und Finanzspritzen, welche in den nächsten Monaten für Irland, Spanien – hoffentlich nicht Italien – und für die Bankenunion fällig werden.

Oliver Schmidt ist im Auftrag der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Acting Dean an der School of Business and Management Studies der Mountain of the Moon University in Uganda.

Veröffentlicht: 24.9.2013

Empfohlene Zitierweise:
Oliver Schmidt, Warum Europa keine Rolle gespielt hat. Eine Wahlkampf-Nachlese, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 24. September 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.