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Wirtschaftswunderland Türkei?

Artikel-Nr.: DE20130226-Art.08-2013

Wirtschaftswunderland Türkei?

Aufstrebender Markt zwischen Europa und Nahost

Vorab im Web - Im Vorfeld ihrer Türkei-Reise Ende Februar 2013 kündigte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an, dass sie wieder Bewegung in die seit langem stockenden Verhandlungen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei bringen wolle. Doch real brachte der Besuch in dieser Hinsicht keine Ergebnisse. Dies ist auch nicht überraschend, meint Joachim Becker, der kurz vor Merkel dort war.

Angesichts der Misere der europäischen Peripherieländer und der massiven inneren Spannungen in der EU liegt die Erweiterung faktisch auf Eis. Dies wird in der Türkei auch so wahrgenommen. Sowohl ökonomisch wie politisch hat die EU für die türkische Regierung an Bedeutung eingebüßt. Das wirtschaftliche Interesse in den EU-Kernländern an der Türkei ist hingegen erheblich, gilt die Türkei doch als aufstrebendes Wirtschaftswunderland. Doch gibt es bei diesem „Wunder“ viele Fragezeichen. Denn die türkische Dynamik weist einige Parallelen mit dem spanischen Aufschwung in den Vorkrisenjahren auf, und das spanische Wunder endete ja bekanntlich in einem wirtschaftlichen Debakel.

* Kreditgetriebenes Wachstumsmodell

Zentraler Motor der Wirtschaftsdynamik der zehn Regierungsjahre der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) – einer neoliberal-nationalkonservativen Formation – ist die Kreditexpansion. Schlüsselsektor ist hierbei die Immoblien- und Bauwirtschaft. Der türkische Ökonom Mustafa Sönmez spricht daher von einer „auf die Bauwirtschaft fokussierten Akkumulation“ als dem Wirtschaftsmodell der AKP-Regierung.

Über die staatliche Bau- und Immobiliengesellschaft TOKI mit ihren weitreichenden urbanisierungspolitischen Kompetenzen treibt die AKP, die eng mit der Bau- und Immobilienwirtschaft verbunden ist, zentrale große Bauvorhaben voran. Speziell in Istanbul führen groß angelegte Projekte der Gentrifizierung zur Vertreibung ärmerer Bevölkerungsgruppen aus ihren Wohnvierteln. Ähnlich wie in Spanien ist der Immobilien- und Bauboom wird der Bauboom von Krediten angefeuert. Allein 2011 stiegen die Immobilienkredite um 21%.

Aber auch der Absatz der verarbeitenden Industrie wird durch die rasch zunehmende Verschuldung der privaten Haushalte stimuliert. Im Vergleich zu Spanien ist das Ausmaß der Haushaltsverschuldung noch gering, deren Wachstumsraten hingegen sind außerordentlich hoch. 2011 legte die private Haushaltsverschuldung um 29,4% zu. Die Kreditvergabe steigt schneller als die Depositen. Die zunehmend in ausländischem Eigentum stehenden Banken finanzieren den Kreditboom durch rasant steigende Kreditaufnahme im Ausland. Zwischen 2002 und 2012 hat sich die Auslandsverschuldung der Banken von 8,9 auf 98,5 Mrd. US-Dollar mehr als verzehnfacht. Der Anteil der kurzfristigen Schulden an der privaten Auslandsverschuldung ist mit 60,8% hoch. 2013 werden für den türkischen Privatsektor 124,4 Mrd. US-Dollar an Auslandsschulden fällig.

* Rückläufige Bedeutung der EU bei hoher Importabhängigkeit

Hohe Kapitalzuflüsse decken die hohen Leistungsbilanzdefizite zu. Diese sind in der Türkei in den Jahren der AKP-Regierung – ähnlich im Spanien der Vorkrisenjahre – tendenziell gestiegen. 2010 und 2011 sind die Leistungsbilanzdefizite signifikant gestiegen. 2011 wurde mit einem Leistungsbilanzdefizit von 10% des BIP ein Negativrekord erzielt, danach war bei rückläufiger Wirtschaftsdynamik ein leichter Defizitrückgang festzustellen.

Der Export in die EU leidet stark unter Krise und Sparpolitik in der EU. Der Anteil der EU am türkischen Export, der stark auf einer Niedriglohnpolitik gründet, ist von 56,3% im Jahr 2007 auf nur noch 38,3% in den ersten neun Monaten 2012 zurückgegangen. Die türkischen Exporteure orientieren sich daher verstärkt auf außereuropäische Länder, speziell den Nahen Osten. Der verstärkte politische Schulterschluss mit den Golfmonarchien, wie er beispielsweise in der türkischen Rolle im Syrien-Krieg deutlich wird, hat auch wirtschaftliche Hintergründe.

Der überwertete Wechselkurs schafft Probleme bei Exporten und befeuert die Importdynamik. Die Wechselkurspolitik ist daher zu einem zentralen wirtschaftspolitischen Streitthema geworden. Die Exportindustrie sieht die überbewertete Währung zunehmend kritisch, während speziell der Bankensektor – angesichts der beträchtlichen Devisenschulden – für eine Beibehaltung der Politik einer starken türkischen Lira ist. Dieser Konflikt spiegelt sich in offenen währungspolitischen Kontroversen innerhalb der AKP-Regierung wieder. Bislang haben diese Kontroversen nicht zu einer veränderten Wechselkurspolitik geführt.

Hingegen wird die hohe Importabhängigkeit der industriellen Produktion inzwischen von der AKP-Regierung als Problem gesehen. Industriepolitisch hat sie daher die Ersetzung importierter Komponenten durch einheimische Produktion zu einem Schwerpunkt ihrer industriellen Förderungsmaßnahmen erklärt.

* Externe Verwundbarkeit

In der Türkei werden die äußeren Verwundbarkeiten des derzeitigen türkischen Wirtschaftsmodells – strukturelle Leistungsbilanzdefizite und Abhängigkeit von hohen Kapitalzuflüssen – von der dortigen Wirtschaftspresse viel offener als in den westlichen Medien als Problem diskutiert. Die hohe Vulnerabilität des türkischen Wirtschaftsmodells ist durch wiederkehrende Krisen in den letzten 20 Jahren sehr deutlich geworden. Auch die aktuelle Krise hat Ende 2008/Anfang 2009 in der Türkei zu einer starken Rezession – allein im ersten Quartal Rückgang des BIP um 12,4% im Vergleich zum Vorjahr – geführt.

Im Gegensatz zu den südeuropäischen Ländern kam es in der Türkei, die von den Banken als „aufstrebender Markt“ wahrgenommen wurde, zu einer raschen Erholung der Kapitalzuflüsse und des Wachstums. 2011 war die Türkei mit einer Wachstumsrate von 8,5% international in der Spitzengruppe. Mit schwierigerer internationaler Finanzierung ging das Wachstum 2012 allerdings stark zurück – auf etwa 2,6%. Das türkische Wachstumsmodell ist nicht nur sehr instabil, sondern auch durch hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, einen hohen Anteil ungeschützter Arbeitsverhältnisse und soziale Ungleichheit gekennzeichnet.

Dr. Joachim Becker ist a.o. Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Veröffentlicht: 26.2.2013

Empfohlene Zitierweise:
Joachim Becker, Wirtschaftwunderland Türkei? Aufstrebender Markt zwischen Europa und Nahost, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 26. Februar 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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