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Das "Tokyo No" zum Investor-Staat-Verfahren

Artikel-Nr.: DE20141215-Art.44-2014

Das "Tokyo No" zum Investor-Staat-Verfahren

Vor 50 Jahren hat Lateinamerika Nein gesagt

Vor 50 Jahren haben auf der Weltbank-Jahrestagung in Tokio 21 Entwicklungsländer Nein zu einer Konvention gesagt, unter der ein neuer Teil der Weltbank-Gruppe geschaffen werden sollte, das spätere International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID). Unter den 21 waren alle anwesenden lateinamerikanischen Staaten sowie die Philippinen und der Irak. Ein Rückblick von Robin Broad.

Das historische Nein zu einer Institution, vor der ausländische Konzerne Regierungen unter Umgehen einheimischer Gerichte verklagen können, wurde als El No de Tokyo oder Tokyo No bezeichnet. Es war vielleicht das einzige Mal, dass alle Vertreter Lateinamerikas mit Nein stimmten. Und so schreibe ich teilweise, um den 50. Jahrestag des Tokyo No zu begehen, aber auch, weil es Zeit ist anzuerkennen, dass das Nein von 1964 historisch gerechtfertigt war.

● Wogegen stimmten die 21?

Um nicht zu paraphrasieren, zitiere ich den damaligen Vertreter Chiles, der stellvertretend für die lateinamerikanischen Länder sprach, direkt: „Die Rechts- und Verfassungssysteme aller lateinamerikanischen Länder, die Mitglied der Bank sind, bieten dem ausländischen Investor derzeit dieselben Rechte und denselben Schutz wie ihren eigenen Bürgern; sie verbieten Konfiszierung und Diskriminierung und fordern, dass jede Enteignung aus gerechtfertigten Gründen im öffentlichen Interesse begleitet sein muss von fairer Entschädigung, die in letzter Instanz von den Gerichten festzulegen ist.

Das neue System, das jetzt vorgeschlagen wird, würde dem ausländischen Investor, kraft der Tatsache, dass er ein Ausländer ist, das Recht geben, einen souveränen Staat außerhalb seines nationalen Territoriums zu verklagen und dessen Gerichte zu suspendieren. Diese Bestimmung verstößt gegen die Rechtsprinzipien unserer Länder und würde de facto ein Privileg für den ausländischen Investor konstituieren, dass den Bürgern des betreffenden Landes eine Position der Unterlegenheit zuweist.“

Kurzum: Das neue Investor-Staat-Streitschlichtungssystem war sowohl unnötig als auch unfair.

Trotz der Nein-Stimmen ging der ICSD-Vertrag durch. Doch zur Information: Brasilien beispielsweise trat nie bei und hat auch nie und nirgendwo einer Staat-Investor-Streitschlichtung zugestimmt.
Diejenigen, die die Welthandelsorganisation (WTO) und deren Streitschlichtungsmechanismus beobachten, mögen folgende Ironie bemerken: Eine grundlegende Regel des heutigen neoliberalen Drucks in Richtung „Ultraglobalisierung“, wie er in der WTO stattfindet, ist die Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Investoren. Die Ironie besteht freilich darin, dass die Existenz des ICSDS nahezulegen scheint, dass es solche Ultra-Globalisierer nicht problematisch finden, wenn ausländische Investoren gegenüber inländischen privilegiert werden.

● Die Geschichte gibt ihnen Recht

Die Tokyo-No-Kritik erwies sich als wahre Voraussicht, wenn man die Geschichte des ICSID in den folgenden Dekaden betrachtet. Das ICSID rückte im Gefolge der Welle von neoliberalen bi- und multilateralen Handels- und Investitionsverträgen seit Beginn der 80er Jahre ins Zentrum. 40 Jahre nachdem der erste Fall 1972 vor dem ISCID verhandelt wurde, gab es bis 2012 schon 48 neue Fälle.

Während die Anzahl der Fälle explodierte, intensivierte sich auch die Kritik – vor allem durch souveräne Staaten, aber in wachsendem Maße auch durch Handelsanwälte. Ihre Argumente besagen, dass die ICSID-Urteile erstens zunehmend einseitig zugunsten der Investoren sind (klingt vertraut?) und zweitens zu eng an „Handels“-Rechten (d.h. des privaten Investors) orientiert sind.

In dem Maße wie die ICSID-Fälle zunahmen, verband sich die verbale Kritik mit praktischen Handeln. Bolivien, Ecuador und Venezuela – alle Teil des ursprünglichen Tokyo No, aber dann doch beigetreten – haben ICSID verlassen. Südafrika erarbeitet gerade ein neues Investitionsrecht, dass es ausländischen Konzernen nur erlaubt, solche Fälle vor nationale Gerichte zu bringen. Indien führt eine Überprüfung seiner Verträge durch angesichts verschiedener Konzernklagen, und Indonesien hat sein Absicht angekündigt, seine bilateralen Investitionsverträge zu überprüfen. Australien lehnte es ab, diese Konzernrechte in das Freihandelsabkommen mit den USA von 2005 aufzunehmen. Und kürzliche Leaks über Investorenrechte in der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) und in der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) lassen die Zweifel an solchen Investor-Staat-Regeln wachsen, vor allem auch in der Europäischen Union, in Frankreich und Deutschland.

Doch würde die globale Ökonomie ohne solche Investorenrechte und das ICSID nicht untergehen? Würden ausländische Investitionen nicht austrocknen? Definitiv nicht! Siehe Brasilien, ein führendes Gastland von ausländischen Investitionen, das jedoch nie ein Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren akzeptiert hat.

Prof. Robin Broad lehrt an der American University, Washington DC. Ihr Text erschien zuerst im Triple Crisis Blog.

Posted: 15.12.2014

Empfohlene Zitierweise:
Robin Broad, Das "Tokyo No" zum Investor-Staat-Verfahren: Vor 50 Jahren hat Lateinamerika Nein gesagt , in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 15. Dezember 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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