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Die Millenniumslüge

Artikel-Nr.: DE20140917-Art.32-2014

Die Millenniumslüge

Die Erzählung von der abnehmenden Armut ist falsch

Vorab im Web – Die Botschaft kommt aus allen Ecken: Die Armutsraten nehmen ab, und die extreme Armut wird bald ausgerottet sein. Die Weltbank, die Regierungen der Industrieländer und auch die Millenniumskampagne der Vereinten Nationen stimmen in dieser Frage überein. Beruhigt Euch, sagen sie, die Welt wird besser dank der Ausbreitung des Marktkapitalismus und westlicher Entwicklungshilfe – eine bequeme Sicht, die aber leider nicht stimmt, schreibt Jason Hickel.

Die Armut verschwindet nicht so schnell, wie sie sagen. Sie ist nach einigen Maßzahlen sogar deutlich schlimmer geworden. Wenn wir die Armut wirklich ernsthaft ausrotten wollen, müssen wir mit der Schönfärberei aufhören und uns einigen harten Tatsachen stellen.

Falsche Zählweise

Die lauteste Erzählung zur Armutsminderung kommt von der UN-Millenniumskampagne. Aufbauend auf der Millenniumserklärung von 2000, bestand das Hauptziel der Kampagne darin, die globale Armut bis 2015 um die Hälfte zu reduzieren – ein Ziel, von dem stolz die vorzeitige Realisierung behauptet wird. Doch wenn wir hinter die feierliche Rhetorik schauen, wird deutlich, dass diese Behauptung grob irreführend ist.

Die Regierungen versprachen die Beendigung extremer Armut erstmals auf dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom. Sie verpflichteten sich, die Zahl der unterernährten Menschen vor 2015 um die Hälfte zu verringern, was angesichts der Weltbevölkerung zu dieser Zeit eine Reduktion um 836 Millionen bedeutet hätte. Viele Kritiker führten an, dass dieses Ziel inadäquat sei, da die extreme Armut mit richtigen Umverteilungspolitiken schneller beendet werden könnte.

Doch statt die Ziele robuster zu machen, verwässerten sie die führenden Politiker klammheimlich. Thomas Pogge von der Yale University wies darauf hin, dass das Ziel bei der Unterzeichnung der Millenniumdeklaration als Millennium-Entwicklungsziel 1 (MDG 1) reformuliert wurde und in die Halbierung des Anteils der Menschheit, der von weniger als einem Dollar pro Tag lebt, geändert wurde. Durch die Verschiebung des Fokus auf das Einkommensniveau und den Übergang von absoluten Zahlen zu Anteilswerten war das Ziel viel einfacher zu erreichen. Angesichts der Rate des Bevölkerungswachstums reduzierte sich das neue Ziel um 167 Millionen. Doch das war nur der Anfang.

Nach Annahme von MDG 1 durch die UN-Generalversammlung wurde das Ziel zwei weitere Male verwässert. Erstens änderten sie es von der Halbierung der verarmten Bevölkerung der Welt in die Halbierung der verarmten Bevölkerung in Entwicklungsländern – wodurch der demografische Faktor noch stärker zu Buche schlug. Zweitens verschoben sie das Ausgangsjahr von 2000 nach hinten auf 1990, wodurch im Nachhinein die in China während der 1990er Jahre erreichte Armutsreduktion mit einbezogen wurde, die in keinster Weise etwas mit der Millenniumskampagne zu tun hatte.

Der statistische Effekt dieser Maßnahmen verringerte das Ziel um weitere 324 Millionen, so dass aus dem anfänglichen Ziel der Reduzierung der Armut um 836 Menschen auf magische Weise 345 Millionen wurde – weniger als die Hälfte der ursprünglichen Zahl. Nach der dramatischen Redefinition des Ziels kann man nun behaupten, dass die Armut halbiert wurde, obwohl dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Die triumphalistische Erzählung vom Tod der Armut beruht also auf der Illusion einer betrügerischen Zählweise.

Armselige Zahlen

Doch es geht noch weiter. Nicht nur die Zielzahlen wurden verändert, auch die Definition von Armut selbst wurde auf eine Weise bearbeitet, die der Erzählung von der Armutsreduktion nutzt. Was als Schwelle der Armut – die sog. Armutsgrenze – gilt, wird normalerweise für jede Nation selbst berechnet und reflektiert, was ein menschliches Wesen zum Überleben braucht. 1990 stellte Martin Ravallion, ein australischer Ökonom bei der Weltbank fest, dass sich die Armutsgrenze bei einer Gruppe von ärmsten Ländern der Welt bei 1 Dollar pro Tag bewegt. Auf Ravallions Empfehlung hin nahm die Weltbank dies erstmals als Internationale Armutsgrenze (IPL: international poverty line) an.

Aber die IPL erwies sich als nicht unproblematisch. Unter Benutzung dieser Schwelle kündigte die Weltbank 2000 in ihrem Jahresbericht an, dass „die absolute Zahl der von 1 Dollar oder weniger Lebenden weiter zunimmt. Weltweit wuchs die Zahl von 1,2 Milliarden in 1987 auf 1,5 Milliarden heute, und wenn der Trend anhält, wird sie bis 2015 1,9 Milliarden erreichen.“ Das waren alarmierende Neuigkeiten, vor allem weil sie nahelegten, dass die marktwirtschaftlichen Reformen, die Weltbank und IWF den Ländern des Globalen Südens während der 80er und 90er Jahre im Namen der „Entwicklung“ auferlegt hatten, die Verhältnisse verschlimmert hatten.

Das Ganze wurde zu einem PR-Albtraum für die Weltbank. Nicht lange nach der Veröffentlichung des Berichts änderte sich die Geschichte erneut, und es wurde genau die gegenteilige Meldung herausgegeben: Während die Armut während zweier Jahrhunderte ständig zugenommen hatte, wurde jetzt gesagt, habe die Einführung der Politik des freien Marktes die Zahl der verarmten Menschen zwischen 1981 und 2001 um 400 Millionen verringert.

Diese neue Story wurde möglich, weil die Bank die IPL von ursprünglich 1,02 Dollar (Kaufkraftparität PPP von 1985) auf 1,08 Dollar (PPP von 1993) verschoben hatte, was inflationsbereinigt, also real weniger war. Mit dieser winzigen Veränderung – eine Kleinigkeit für einen Ökonomen – wurde die Welt auf magische Weise besser und das PR-Problem der Bank war gelöst. Diese neue IPL war dann diejenige, die die Millenniumskampagne übernahm.

Die IPL wurde ein weiteres Mal 2008 verändert und auf 1,25 Dollar (PPP) erhöht. Und erneut verbesserte sich die Geschichte über Nacht. Nach der 1,08-IPL sah es so aus, als habe sich die Armut zwischen 1990 und 2005 um 316 Millionen verringert. Doch mit der neuen IPL, die real sogar unter der alten lag, erhöhte sich die Zahl auf 437 Millionen. Dies schuf die Illusion, dass zusätzlich 121 Millionen Menschen aus den Klauen erniedrigender Armut gerettet worden wären.

Eine ehrlichere Sicht auf Armut ist nötig

Wir müssen diese Armutsmetrik ernsthaft überdenken. Die Dollar-pro-Tag-IPL beruht auf den nationalen Armutsgrenzen von 15 ärmsten Ländern, doch diese Grenzen stellen eine dürftige Grundlage dar angesichts der Tatsache, dass viele von ihnen von Beamten auf der Basis von sehr wenig Daten erstellt wurden. Wichtiger noch: Sie sagen nichts darüber aus, wie die Armut in wohlhabenderen Ländern aussieht. Eine Erhebung in Sri Lanka fand 1990 heraus, dass 35% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze lebten. Doch die Weltbank sprach unter Nutzung der IPL für dasselbe Jahr von nur 4%. Mit anderen Worten, die IPL scheint die Armut weniger dramatisch zu machen als sie in Wirklichkeit ist.

Die derzeitige IPL reflektiert theoretisch, was man von 1,25 Dollar 2005 in den USA kaufen konnte. Doch die Menschen in den USA wissen, dass es unmöglich ist, von diesem Geld zu überleben – wirklich lächerlich. In der Tat kalkulierte die US-Regierung selbst, dass 2005 die durchschnittliche Person mindestens 4,50 Dollar pro Tag benötigte, einfach um ihren minimalen Ernährungsbedarf zu decken.

Nach Peter Edwards von der Newcastle University müsste man die derzeitige IPL auf 2,50 Dollar etwa verdoppeln, wenn die Leute eine normale Lebenserwartung haben sollen. Aber ein solch höherer Standard würde die Erzählung von der Armutsreduzierung ernsthaft unterminieren. Die Armut pro Kopf würde auf rund 3,1 Milliarden wachsen, mindestens dreimal so viel, wie uns die Weltbank und die Millenniumskampagne glauben machen möchten. Es zeigt auch, dass die Armut schlimmer wird und nicht besser – mit fast 353 Millionen verarmter Menschen mehr als 1981. China herausgenommen, würde diese Zahl auf 852 Millionen nach oben schießen.

Einige Ökonomen gehen noch weiter und plädieren für eine IPL von 5 oder sogar 10 Dollar über der von der Weltbank vorgeschlagenen Grenze. Danach würden heute rund 5,1 Milliarden Menschen – fast 80% der Weltbevölkerung – in Armut leben. Und die Zahl steigt.

● Ruf nach Veränderung

Veränderung ist dringend nötig: Die UN verhandeln derzeit die neuen Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs), die 2015 an die Stelle der Millenniumskampagne treten sollen, und so wie es aussieht, sollen sie dieselbe unehrliche Armutsmetrik wie zuvor übernehmen. Die Geschichte von der Armutsreduzierung wird benutzt, um für Business as usual zu argumentieren: Bleibt beim Status quo, und die Dinge werden sich weiterhin verbessern. Doch wir müssen mehr verlangen. Wenn die SDGs irgendeinen Wert haben sollen, müssen sie mit einer ehrlicheren Armutsgrenze anfangen – mindestens 2,50 Dollar pro Tag – und Regeln setzen, die die Art der Täuschung unterbinden, die die Weltbank und die Millenniumskampagne bis heute praktiziert haben.

Die Ausrottung der Armut in diesem tieferen Sinne wird mehr erfordern, als lediglich mit ein bisschen Hilfe an der Oberfläche des Problems zu kratzen. Sie erfordert die Veränderung der Regeln der globalen Ökonomie, um sie für die Mehrheit fairer zu machen. Die reichen Länder werden sich solchen Veränderungen auf jede Weise widersetzen. Doch epische Probleme erfordern couragierte Lösungen, und angesichts des schnell nahenden Jahrs 2015 muss jetzt gehandelt werden.

Dr. Jason Hickel lehrt an der London School of Economics. Sein Text erschien zuerst auf http://www.aljazeera.com.

Posted: 17.9.2014

Empfohlene Zitierweise:
Jason Hickel, Die Millenniumslüge. Die Erzählung von der abnehmenden Armut ist falsch, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 17. September 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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