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Paradigmenwechsel im Entwicklungsjahr 2015?

Artikel-Nr.: DE20141215-Art.43-2014

Paradigmenwechsel im Entwicklungsjahr 2015?

Ein Durchbruch ist (noch) nicht in Sicht

Vier parallele, aber zusammenhängende Verhandlungsprozesse gibt es derzeit auf multilateraler Ebene: der zu einer Post-2015-Entwicklungsagenda, der für ein neues Klimaschutzabkommen, eine Aktualisierung der Frauen-Agenda und ein neuer Anlauf unter dem Motto „Finanzierung für Entwicklung“. Gleichzeitig gehen die Anstrengungen weiter, die Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) doch noch zu erreichen. Wenn alles gut geht, könnte es bis Dezember 2015 eine einheitliche globale Agenda für nachhaltige Entwicklung geben. Wenn nicht, wird sich die Situation weiter verschlechtern, schreibt Gabriele Köhler.

Mindestens 2,2 Milliarden Menschen sind nach dem UNDP-Index (s. Hinweis) von multidimensionaler Armut betroffen und wahrscheinlich eine Milliarde von Hunger. Die Ungleichheit bei Einkommen, Vermögen und Gesundheitsversorgung wächst ständig. Es gibt gegenwärtig 40 Millionen Flüchtlinge, die in akuter Not sind. Die Erde leidet unter einem möglicherweise irreversiblen Klimawandel und dem Verlust an biologischer Vielfalt – beides durch Mensch und System gemacht.

● Auf der Suche nach dem vielgerühmten Paradigmenwechsel

Die internationale Gemeinschaft und die Vereinten Nationen haben für die neue Entwicklungsrunde einen Paradigmenwechsel versprochen. Und sicherlich – gewisse inhaltliche Fortschritte sind unübersehbar. Die vorgeschlagenen 17 Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs; s. Hinweis), die in langwierigen Verhandlungen von der Open Working Group (OWG) und den neun Major Groups (s. Hinweis) entworfen wurden, sind weit umfassender als die MDGs. Menschenrechte, Governancefragen, Umwelt und wirtschaftliche und soziale Entwicklung werden als zusammenhängend anerkannt – in einer Weise, wie sie vor Jahrzehnten von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte intendiert war.

Der Verhandlungsprozess bis 2015


Gegenüber den MDGs gibt es Verbesserungen in zweierlei Hinsicht: Erstens sind die sozialen Dimensionen von Entwicklung wie Bildung und Gesundheitsversorgung in einer stärker rechteorientierten Weise formuliert – weg von einer bloß quantitativen, anteiligen Erhöhung, hin zur Universalisierung des Zugangs. Zweitens gibt es eine thematische Erweiterung über die soziale Entwicklung hinaus in Politikbereiche, die die Bedeutung von Industrialisierung – besser sollte man vielleicht von Industriepolitik reden – und Produktivität behandeln. Der SDG-Entwurf bezieht sich auf Wertschöpfungsketten und die Notwendigkeit, den geschaffenen Mehrwert innerhalb der produzierenden Volkswirtschaft zu halten. Politische Rechte und Good Governance sind eigenständige Ziele. Aufbauend auf dem Ergebnis von Rio+20 gibt es mehrere spezielle Ziele zum Klimawandel und zu Umwelt. Die beiden herausragenden Ziele sind der Ruf nach Gleichheit innerhalb und zwischen Ländern und nach nachhaltigen Produktions- und Konsumstrukturen.

● Der Synthese-Bericht Ban Ki-moons

Anfang Dezember 2014 veröffentlichten die UN dann den Synthese-Bericht des Generalsekretärs (s. Hinweis), der die nächste Runde der Verhandlungen begleiten soll. Seiner Veröffentlichung ging ein großer Hype voraus: Würde er radikal genug ausfallen und über den OWG-Entwurf hinausgehen, würde der Generalsekretär Analysen, politische Führung und Inspiration anbieten?

Der Synthese-Bericht enthält einige ermutigende Vorschläge für:
* menschwürdige („decent“) Jobs (§ 45, 54, 72)
* Arbeitsrechte für alle (§ 50)
* sozialen Schutz (§ 50) und einen Sockel sozialer Grundsicherung (§ 91)
* die Überwindung sozialer Exklusion (§ 91)
* die Rolle öffentlicher Finanzen (§ 90) und die Verantwortung des Staates für öffentliche Güter (§ 108)
* die Steigerung der Öffentlichen Entwicklungshilfsgelder (ODA; § 90)
* mehr Konzilianz der Internationalen Finanzinstitutionen
* eine bessere internationale Koordinierung der makroökonomischen Politik der wichtigsten Volkswirtschaften; antizyklisches makroökonomisches Management (§ 113)
* die Bekämpfung illegitimer Finanzflüsse (§ 115)
* die Verbesserung des Steuersystems (z.B. Finanztransaktionssteuer, CO2-Steuern, Flugticket-Abgabe) und anderer Steuermechanismen (§ 112)
* eine institutionalisierte Rechenschaftspflicht zu wirtschaftlicher und ökologischer Governance (§ 104) und die Schaffung einer Technologie-Bank (§ 126).
Kritisch gesehen werden auch die „Ungerechtigkeiten, die das internationale System zum Nachteil der Entwicklungsländer plagen“ (§ 95), die Ausgaben für die Militärhaushalte und die nachteilige Lizenzvergabepraxis (§ 119).

Gleichwohl stehen die Fragen der Ungerechtigkeit, der Geschlechtergerechtigkeit, der ungleichen Machtbeziehungen, der nachhaltigen Produktions- und Konsumstrukturen, die der SDG-Prozess erfolgreich voranbrachte, trotz seines hochtrabenden Titels „Der Weg zu Menschenwürde“ nicht im Zentrum des Reports. Wichtige Bereiche, die der SDG-Entwurf behandelte, kommen gar nicht vor – etwa eine Analyse der globalen Wertschöpfungsketten, die aufzeigen könnte, wie nachteilige Handelsbeziehungen die Armut der Entwicklungsländer vertiefen, oder das Konzept der Sorgeökonomie („care economy“), das so wichtig für Geschlechtergleichheit und Empowerment ist wie auch für das Recht auf Gesundheit und Bildung oder zur Sicherung menschenwürdiger Arbeit und sozialen Schutzes für alle.

Vergeblich sucht man eine klare Illustration der Politikmassnahmen, die notwendig wären. Menschenwürdige Jobs ist eine reduktionistische Formulierung. Sie beinhaltet nicht das Recht auf menschenwürdige Arbeit und produktive Beschäftigung, was wiederum aktive Beschäftigungspolitik, menschenwürdige gesicherte Arbeitsplätze und Löhne, Geschlechtergerechtigkeit, und das Recht auf soziale Sicherung erfordern würde. In der Steuerdiskussion findet man keine neuen oder mutigen Vorschläge, etwa zu einer Vermögens- oder Erbschaftssteuer oder angemessenen Abgaben auf Rohstoffabbau, um der massiven Konzentration von Kapital und der ausbeuterischen Extraktion natürlicher Ressourcen (einschließlich Landraub) entgegenzuwirken und den fiskalischen Spielraum zu erweitern, damit Regierungen öffentliche Güter und Dienstleistungen angemessen finanzieren können.

● Fragmentismus ohne umfassenden politischen Ansatz

Politische Vorschläge finden sich über den ganzen Text verstreut, unsystematisch und fragmentiert – es ist ein eher Mikro- als ein Makroansatz. Man vermisst umfassendes politisches Denken, wie man es von einer Synthese aus dem UN-System erwarten könnte. Die UN-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten (DESA) oder das UN-Entwicklungsprogramm hätten in dieser Hinsicht sicherlich reichhaltige – und keynesianisch inspirierte –politische Ideen bereitstellen können.

Auf der anderen Seite wäre es illusorisch, von dem Synthese-Bericht mutige Politikvorschläge zu erwarten, da er keine Analyse bietet. Er enthält keine Erklärung dafür, warum und wie das globale System Armut, Exklusion, Umweltzerstörung und politische Unterdrückung hervorbringt – und dadurch letztendlich auch zu gewalttätigen Prozessen beiträgt. Ohne eine solche Analyse kann er gar nicht systematische politische Beratung anbieten. (Interessanterweise kommt ein kritischer Standpunkt derzeit aus unerwarteter Quelle: In vielen neueren Statements analysiert und kritisiert der Papst den zügellosen Kapitalismus, der einem „Dritten Weltkrieg auf Raten“ gleichkäme und den eine verantwortliche Gesellschaft in die Schranken weisen müsse.) Somit muss der Paradigmenwechsel hin zu einer wirklich transformativen, ganzheitlichen, analytisch fundierten Agenda der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gerechtigkeit, die mit einem Menschenrechtsansatz verschränkt ist, erst noch entstehen.

Formal wird es vom Willen, den Fähigkeiten und Aktivitäten der UN-Mitgliedsstaaten und dem Präsidenten der UN-Generalversammlung sowie der moralischen Autorität des UN-Sekretariats abhängen, ob es zu einem Paradigmenwechsel kommt. Das wiederum hängt entscheidend davon ab, ob die UN und die Mitgliedsstaaten den neun Major Groups und der Zivilgesellschaft erlauben werden, weiterhin gleichberechtigt an dem Verhandlungsprozess teilzuhaben. Das ist im Moment nicht gesichert.

Die Mitgliedsstaaten sind indessen kein monolithischer Block. Einige sind darauf aus, die 17 SDGs substanziell zu verwässern oder gar zu unterminieren und insbesondere das Gleichheits- und das Nachhaltigkeitsziel zu streichen. Einige Industrieländer sähen gerne eine Spaltung der G77 (Entwicklungsländer). Einige hoffen, dass die Verhandlungen in eine Sackgasse geraten und im September 2015 die Ausformulierung der neuen Entwicklungsagenda einer Handvoll mächtiger Staatschefs übertragen wird.

● Wie und wo weiter?

Da die UN an Schlagkraft und Einfluss verliert, sind auf globaler Ebene neue Konstellationen und selbsternannte politische Allianzen aufgetaucht, die ebenfalls Bedeutung für die Verhandlungen gewinnen könnten. Dazu gehören die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) auf der einen Seite und die G7 auf der anderen. Beide Gruppen dürften auf ihren Gipfeln eine politische Position zu den SDGs formulieren, die G7 im Juni in Deutschland und die BRICS im Juli in Russland.

Diese Treffen gehen unmittelbar dem Gipfel zu Entwicklungsfinanzierung im Juli in Addis Abeba voraus. Die BRICS könnten ein Verhandlungselement in Form der neuen BRICS-Bank einbringen, das die Agenda der Entwicklungsfinanzierung im Interesse der Länder mit niedrigem Einkommen voranbringen könnte. Die G7 dürfte wahrscheinlich eher die eigene Kontrolle über die Finanzmärkte und die Internationalen Finanzinstitutionen verteidigen und den ideologischen Druck für Austerität verstärken.

Die Europäische Union war Anfang der 2000er Jahre formbildend für die MDGs, weil es in mehreren EU-Ländern fortschrittliche EntwicklungsministerInnen gab. Seither hat sich der Wind nach rechts und zu offenem Neoliberalismus gedreht. Die EU-Präsidentschaft wird 2015 bei Lettland und Luxemburg liegen, womit dann eher politisch schwache Länder an der Spitze des europäischen Konsensbildungsprozesses stünden.

Es wäre politisch naiv anzunehmen, dass diese Konstellationen einen wirklichen Paradigmenwechsel herbeiführen würden. Somit wird erneut entscheidend sein, ob es eine hinlängliche Vertretung der Zivilgesellschaft geben wird, um sich, zusammen mit progressiven Staaten, den präzedenzlosen Angriffen auf die Menschenrechte und die menschliche Entwicklung entgegenzustellen und den Wechsel durchzusetzen.

Hinweise:
* Open Working Group proposal for Sustainable Development Goals, verfügbar unter: sustainabledevelopment.un.org/sdgsproposal.html.
* The Road to Dignity by 2030: Ending Poverty, Transforming All Lives and Protecting the Planet. Synthesis Report of the Secretary-General On the Post-2015 Agenda, 47 pp, United Nations: New York, December 2014. Verfügbar unter: sustainabledevelopment.un.org/content/documents/5527SR_advance%20unedited_final.pdf
* UNDP-Index: Der Multidimensionale Armutsindex des UNDP zeigt, dass in 91 Entwicklungsländern 1,5 Milliarden Menschen in Armut leben, wobei neben der Einkommenssituation auch Gesundheit, Bildung und Lebensstandards einbezogen werden. Weitere annähernd 800 Millionen Menschen sind vom Rückfall in die Armut bedroht.
* Major Groups: Die 1992 in Rio beschlossene Agenda 21 listet neun Sektoren der Gesellschaft als Hauptgruppen auf, die für eine nachhaltige Entwicklung relevant sind: Frauen, Kinder und Jugendliche, Indigene Völker, Nichtregierungsorganisationen, Kommunen, Arbeiter und Gewerkschaften, Wirtschaft und Industrie, Wissenschaft und Technologie, Bauern.

Gabriele Köhler lebt als Entwicklungsökonomin in München (www.gabrielekoehler.net). Sie ist derzeit Senior Research Associate am UN-Forschungsinstitut für Soziale Entwicklung (UNRISD) und Vorstandsmitglied bei Women in Europe for a Common Future (WECF) und bei der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen.
Posted: 15.12.2014

Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Köhler, Paradigmenwechsel im Entwicklungsjahr 2015? Ein Durchbruch ist (noch) nicht in Sicht, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 15. Dezember 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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