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Post-2015: Umkämpftes Gerechtigkeitsprinzip

Artikel-Nr.: DE20140307-Art.07-2014

Post-2015: Umkämpftes Gerechtigkeitsprinzip

Das A und O für Klima und Entwicklung

Vorab im Web - Das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung (CBDR: „Common but differentiated responsibility“) gilt als einer der Meilensteine des Erdgipfels von Rio 1992. Die Regierungen hatten damals ihren unterschiedlichen Beitrag zur Umweltzerstörung anerkannt – und damit auch ihre unterschiedliche Verantwortung, für die Wiederherstellung des Ökosystems und die Anpassung an Umweltschäden zu bezahlen. Inzwischen steht dieses Prinzip zwischenstaatlicher Gerechtigkeit im Zentrum heftiger politischer Konflikte, berichtet Jens Martens.

Während die in der Gruppe der 77 (G77+China) zusammengeschlossenen Länder des globalen Südens das Prinzip möglichst unverändert bewahren möchten, lehnen die USA und andere Industrieländer es in der bisherigen Form ab. Aber ohne eine Einigung wird es weder beim Post-2015-Gipfel in New York noch beim Klimagipfel 2015 in Paris zu einem Durchbruch kommen.

● Verhandlungen nach dem Mikado-Prinzip

Vergleicht man die gegensätzlichen Positionen der Regierungen zur Zukunft des CBDR-Prinzips, erscheint ein Kompromiss kaum möglich. Vor allem in den Klimaverhandlungen schienen viele Regierungen bisher nach der Mikado-Regel zu verfahren: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Der Konflikt ist alles andere als neu. Die USA haben bereits in Rio 1992 zu Protokoll gegeben, dass sie jede Interpretation des CBDR-Prinzips ablehnen, aus der sich für die USA internationale Verpflichtungen oder irgendeine Form von Haftung ableiten ließen.

Die 133 Länder der G77 halten am CBDR-Prinzip dagegen nicht nur unverrückbar fest, sondern wollen es über den klassischen Umweltbereich hinaus in der gesamten Post-2015-Agenda verankern. Aus Sicht der G77 dient das Prinzip aber ausschließlich zur Unterscheidung von Industrie- und Entwicklungsländern. Jedes Infrage stellen dieser Kategorien wertet sie bisher als Versuch, die Brandmauer (firewall) zwischen diesen Ländergruppen einzureißen, und als Generalangriff, der die Länder des Südens spalten und ihre Verhandlungsmacht schwächen soll.

Der Konflikt spiegelt sich auch in den aktuellen UN-Verhandlungen über universelle Nachhaltigkeitsziele (SDG: „Sustainable Development Goals“) wider. Dabei ist die Idee der SDGs mit dem CBDR-Prinzip durchaus vereinbar. Denn indem die SDGs universell gültig und auf alle Länder anwendbar sein sollen, unterstrichen die Regierungen ihre gemeinsame Verantwortung. Indem die Ziele gleichzeitig die unterschiedlichen nationalen Realitäten, Kapazitäten und Entwicklungsstufen berücksichtigen sollen, respektieren sie das Teilprinzip der unterschiedlichen Verantwortung entsprechend ihrer jeweiligen ökonomischen Leistungsfähigkeit.

● Geteilte statt gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung?

Im aktuellen ???042ae6a3060bcff01??? vom Februar 2014 liest sich dies allerdings etwas anders. Dort wird jeder Hinweis auf das CBDR-Prinzip vermieden. Stattdessen ist die Rede von der „geteilten Verantwortung“ und der Erwartung, dass die Schwellenländer als Teil der Post-2015 Agenda „neue Verantwortung“ übernehmen.

Indien betonte in der Offenen Arbeitsgruppe der UN-Generalversammlung zu den SDGs Anfang März 2014 dagegen, dass ein wirklich universelles Set von Zielen konkrete Verpflichtungen der Industrieländer vor allem im Umweltbereich und bei der Förderung nachhaltiger Konsumweisen und Lebensstile impliziert. Wer für universelle SDGs eintritt, müsse akzeptieren, dass die Länder unterschiedliche Verantwortlichkeiten hätten: „Universalität ist gleichbedeutend mit Differenzierung, und das CBDR-Prinzip erfasst diese Dualität gut. Differenzierung, wie im Prinzip der CBDR wäre dann die Basis für die Entwicklung von Zielsetzungen (“targets”) im Rahmen der universell wichtigen Ziele.

Vergleicht man die Positionen der Regierungen jenseits ihrer reflexhaften Reaktionen auf das Reizwort „CBDR“, erscheinen die Gegensätze dennoch nicht unüberbrückbar:
* Der Grundgedanke des CBDR-Prinzips wird von keinem Land abgelehnt, auch nicht von den USA. Umstritten ist nicht die Differenzierung der Länder per se, sondern ihre Kategorisierung in nur zwei (anachronistische) Staatengruppen.
* Auch die Idee der gemeinsamen Verantwortung wird von allen Ländern grundsätzlich geteilt und spiegelt sich in diversen internationalen Vereinbarungen und Konventionen wider (etwa dem UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt).
* Die Differenzierung aller Länder nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wird von den OECD-Ländern gefordert und in zunehmendem Maße auch von Ländern des Südens unterstützt, insbesondere von den LDCs und Südafrika. In den Klimaverhandlungen koppeln sie ihre Unterstützung aber an die gleichzeitige Differenzierung der Länder nach ihrer historischen Verantwortung (beziffert in den kumulierten Treibhausgasemissionen).

● Faire Finanzierungsanteile

Um den fairen Finanzierungsanteil der Länder entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu bestimmen, müssen aber mindestens zwei weitere Aspekte berücksichtigt werden. Nach dem Vorbild der nationalen Steuersysteme sollte für alle Länder ein Existenzminimum festgelegt werden. Mit ihm kann sichergestellt werden, dass die Mittel, die im eigenen Land zur Armutsbekämpfung, zur Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie für ökologische Aufgaben benötigt werden, nicht „angetastet“ werden. Außerdem sollten nach dem Vorbild der Steuerprogression Länder mit höherem BIP pro Kopf einen überproportional höheren Beitrag leisten als ärmere Länder.

Ein simples Beispiel für eine solche Differenzierung der Länder bietet die Beitragsskala der Vereinten Nationen. Sie basiert auf dem Bruttonationaleinkommen der Länder, berücksichtigt aber Anpassungen für Länder mit niedrigem Einkommen und hochverschuldete Länder. Zugleich sieht sie einen eher symbolischen Mindestbeitragssatz von 0,001%, einen Maximalsatz für die LDCs von 0,01% sowie einen Höchstsatz (für die USA) von 22% vor. Unter den 30 Hauptbeitragszahlern der UN befinden sich inzwischen zehn Länder, die nicht zum Kreis der klassischen Industrieländer gehören, darunter sechs Mitglieder der G77 (s. Tabelle).

Die Top-30 Beitragszahler der UNO 2014

Land Beitragssatz 2014 in %
1. USA22,000
2. Japan10,833
3. Deutschland7,141
4. Frankreich5,593
5. Großbritannien5,179
6. China5,148
7. Italien4,448
8. Kanada2,984
9. Spanien2,973
10. Brasilien2,934
11. Russland2,438
12. Australien2,074
13. Republik Korea1,994
14. Mexiko 1,842
15. Niederlande1,654
16. Türkei1,328
17. Schweiz1,047
18. Belgien0,998
19. Schweden0,960
20. Polen0,921
21. Saudi-Arabien0,864
22. Norwegen0,851
23. Österreich0,798
24. Dänemark0,675
25. Indien0,666
26. Griechenland0,638
27. Venezuela0,627
28. Vereinigte Arabische Emirate0,597
29. Finnland0,519
30. Portugal 0,474
Quelle: UN Dok. ST/ADM/SER.B/889, 27.12.2013. G77-Länder fett

Der Vorteil dieser Beitragsskala ist, dass sie bereits von allen 194 UN-Mitgliedsstaaten als Formel der Lastenteilung akzeptiert wird. Sie könnte daher auch als Faustformel für neue Lastenteilungsregeln in der Post-2015-Agenda dienen.

● Kompromissbedarf bei zwei Konfliktlinien

Um zu einem Konsens über die Zukunft des CBDR-Prinzips zu kommen, müssten die Regierungen vor allem in zwei Konfliktbereichen Kompromissbereitschaft signalisieren:

Die Länder der G77 müssten anerkennen, dass sie kein monolithischer Block sind, sondern in ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit und ihrem Beitrag zur globalen Umweltbelastung ebenso stark differieren wie dies in der Gruppe der klassischen Industrieländer der Fall ist. Daraus ergeben sich für die Zukunft entsprechend differenzierte (finanzielle) Verantwortlichkeiten für die Mitglieder der G77.

Die klassischen Industrieländer, allen voran die USA und die EU, müssten entsprechend ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der Post-2015-Agenda breit sein. Zugleich müssten sie im Sinne des Verursacherprinzips ihre historische Verantwortung für Umweltschäden und Erderwärmung politisch anerkennen und neben der massiven Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen auch zu Ausgleichsleistungen gegenüber den Ländern des Südens bereit sein.

Angesichts der Tatsache, dass Länder wie Deutschland internationale Zusagen in der Vergangenheit nicht erfüllt haben (Beispiel: 0,7%-Ziel), ist das Misstrauen bei den Ländern der G77 entsprechend groß. Um dem zu begegnen, müssten die Länder des Nordens mit vertrauensbildenden Maßnahmen in Vorleistung treten – sie müssten quasi den ersten Mikado-Stab bewegen. Nur wenn auf diese Weise der Teufelskreis kollektiver Verantwortungslosigkeit durchbrochen wird, kann noch verhindert werden, dass es beim Post-2015-Verhandlungsmikado am Ende nur Verlierer gibt.

Hinweis:
* Jens Martens, Gemeinsame Ziele – unterschiedliche Verantwortung. Das Gerechtigkeitsprinzip in den Klima- und Post-2015-Verhandlungen, Bonn-Osnabrück, Februar 2014 (Bezug: über www.globalpolicy.org).

Veröffentlicht: 7.3.2014

Empfohlene Zitierweise:
Jens Martens, Post-2015: Umkämpftes Gerechtigkeitsprinzip. Das A und O für Klima und Entwicklung, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 7. März 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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