Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Einspruch: Ein soziales Europa ist möglich

Artikel-Nr.: DE20150929-Art.26-2015

Einspruch: Ein soziales Europa ist möglich

Beiträge zur linken Europadebatte

Vorab im Web - Angesichts des erpresserischen Griechenland-Programms der Eurogruppe scheint die europäische Linke ihre Geduld mit dem europäischen Integrationsprojekt zu verlieren. Das „emanzipatorische Potential“ der europäischen Integration habe sich erschöpft, schrieb Peter Wahl unlängst und forderte den „Abschied von den europapolitischen Illusionen der Linken“ (W&E 07-08/2015). Hartwig Hummel widerspricht.

Offen bleibt dabei allerdings, ob der in linken Kreisen diskutierte selektive „Um- und Rückbau“ von Europäischer Union und Eurosystem bis hin zum „Left Exit“ (so Andreas Nölke kürzlich in den Blättern für deutsche und internationale Politik) unter den bestehenden „machtpolitischen Kräfteverhältnissen“ (Wahl) überhaupt umzusetzen ist und angesichts seiner Kosten und Risiken tatsächlich zur Verbesserung der sozialen Lage für die Menschen in Europa führt.

● Hoffnung nicht aufgeben

Wie wollen denn gerade die kleineren und wirtschaftsschwächeren EU-Mitglieder ohne den Rückhalt der EU den globalen Finanzmärkten widerstehen? Und wie schnell hat sich die von Peter Wahl noch im Frühjahr (W&E 03-04/2015) angedeutete „Chance, sich eine Auffangposition jenseits des Euro aufzubauen“ besonders im Hinblick auf Russland und China als illusionär erwiesen – angesichts der russischen Wirtschaftskrise und der chinesischen Börsenkrise?

Andere haben die Hoffnung auf das emanzipatorische Potential der europäischen Integration noch nicht aufgegeben. So diskutieren seit mehreren Jahren reformorientierte Vordenker und Praktiker aus Wissenschaft, Politik, Parlamenten und Gewerkschaften im Umfeld der Forschungsinitiative NRW in Europa (FINE) und der rotgrünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen darüber, dass und wie ein "soziales Europa" möglich gemacht werden kann. Diese Debatte ist in einem unlängst erschienenen Sammelband dokumentiert (s. Hinweis).

Die Herausgeber teilen die Kritik am europäischen Management der Wirtschafts- und Finanzkrise, die Andreas Nölke für den Fall Griechenland treffend so auf den Punkt gebracht hat: es sei „unsozial“, „undemokratisch“, „antieuropäisch“ und „unwirksam“. Hart ins Gericht gehen die Wissenschaftler mit der Troika-Politik. Torsten Müller arbeitet heraus, wie sehr die Troikapolitik an den europarechtlichen Kompetenzregelungen vorbei tief in die Lohn- und Tarifpolitik der südeuropäischen Programmländer eingreift und wie wenig diese Politik einer demokratischen Kontrolle unterliegt. Ansgar Belke entlarvt den Fiskalpakt als ungeeignet und wirkungslos zur Überwindung der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise. Er weist nach, dass "das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (VÜD) eine Achillesferse des Fiskalpakts darstellt", auch wegen der von ihm konkret herausgearbeiteten Manipulationsmöglichkeiten bei den zugrundeliegenden Daten.

● Normative Grundbausteine der europäischen Integration

Autoren und Herausgeber resignieren jedoch nicht vor einem vermeintlich übermächtigen und reformfeindlichen Neoliberalismus, sondern verweisen auf die Dialektik der europäischen Integration. Sie argumentieren, dass die wirtschaftliche Integration Europas fest mit dem Versprechen sozialen Fortschritts verbunden war und weiter verbunden bleibt, sowohl beim anfänglichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch bei der Integration der Transformationsstaaten nach dem Ende des Kalten Kriegs. Die Legitimation, also die politische Durchführbarkeit der europäischen Wirtschaftsintegration bedarf daher weiter auch einer sozialen Absicherung.

Mehrere Beiträge arbeiten heraus, wie der von Peter Wahl als Ausdruck eines „neoliberalen Konstitutionalismus“ kritisierte Vertrag von Lissabon gerade die europäische Sozialpolitik zu einem normativen Grundbaustein der europäischen Integration gemacht hat (Hans-Wolfgang Platzer, Ulrich Preis/Adam Sagan). Das sieht auch die bisherige nordrhein-westfälische Europaministerin Dr. Angelica Schwall-Düren in ihrem Kommentar so: "Während der nun mehr als vier Jahre dauernden Wirtschaftskrise habe ich den Eindruck gewonnen, dass Wettbewerbsfähigkeit und ökonomische Leistungsfähigkeit zu den alles überwölbenden Zielen geworden sind. Diesen Zielen wird alles andere untergeordnet. Vergessen wird dabei, dass der Vertrag über die Europäische Union ausdrücklich das Ziel einer sozialen Marktwirtschaft nennt."

Die Autorinnen und Autoren belassen es aber nicht bei der Kritik an den sozialpolitischen Defiziten der Europapolitik. An vielen konkreten Beispielen zeigen sie auf, wie konkrete sozialpolitische Maßnahmen in Europa aussehen könnten. Dazu gehören:
* eine europaweit koordinierte Mindestlohnpolitik (Thorsten Schulten),
* eine europäische Arbeitslosenversicherung – ein Vorschlag, für den sich nicht zuletzt auch der frühere EU-Sozialkommisar László Andor stark gemacht hatte (Sebastian Dullien),
* arbeitsmarktpolitische Instrumente der Europäischen Union zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit (Joachim Möller),
* die Festigung der sozialen Grundrechte in europäischen Gesetzen, um sie nicht nur der europäischen Rechtsprechung zu überlassen (Reingard Zimmer, Susanne K. Schmidt/Michael Blauberger),
* die ökonomischen Effekte einer Harmonisierung der Wirtschafts- und Steuerpolitik zwischen den Mitgliedstaaten (Paul Welfens),
* alternative Modelle einer parlamentarischen Kontrolle und sozialpolitischen Umsteuerung der neuen wirtschaftspolitischen Regime wie Eurozone, Fiskalpakt und Europäisches Semester (Andreas Maurer).

● Neoliberale Orientierung nicht naturwüchsig

Durch die Beiträge zieht sich das Bemühen, es nicht bei einer rein wissenschaftlichen Behandlung des Themas zu belassen, sondern stets die konkrete Umsetzung der sozialpolitischen Vorschläge im Auge zu behalten. Ein eigenes Kapitel behandelt mögliche Bündniskonstellationen zwischen den europäischen Parteien (Hartwig Hummel). Das Argument lautet hier, dass die „neoliberale Orientierung der Europapolitik, von den Aktivitäten der Kommission über die europäische Gesetzgebung bis hin zu den Urteilen des EuGH, ... nicht als naturwüchsig bzw. systembedingt angesehen werden“ kann, sondern „von der Mobilisierung parteipolitischer Kräfte und einer klugen Bündnispolitik“ abhängt. Dabei spielen derzeit noch die führenden nationalen Parteipolitiker die Hauptrolle, was aber einen Bedeutungszuwachs für Europarteien und transnationale Bündnisse in der Zukunft nicht ausschließt.

Die Herausgeber konfrontierten die wissenschaftlichen Beiträge mit Kommentaren aus der Politik. Zu Wort kommen dabei neben der bereits zitierten Europaministerin Schwall-Düren der konservative österreichische Europaparlamentarier Heinz K. Becker und sein sozialdemokratischer Kollege aus Deutschland, Udo Bullmann, Renate Hornung-Draus von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sowie die beiden Bundestagsabgeordneten Wolfgang Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Joachim Poß von der SPD. Auch wenn die Kommentare auf deutsche und österreichische Stimmen beschränkt sind, zeigen sie konkrete Ansatzpunkte für politische Bündnisse, um das Potential für eine demokratische und sozial ausgerichtete Politik in der EU auszuschöpfen.

Hinweis:
* Alemann, U./ Heidbreder, E.G./ Hummel, H./ Dreyer, D./ Gödde, A. (Hg.), Ein soziales Europa ist möglich. Grundlagen und Handlungsoptionen, Springer VS: Wiesbaden 2015. Bezug: Buchhandel

Posted: 29.9.2015

Empfohlene Zitierweise:
Hartwig Hummel, Einspruch: Ein soziales Europa ist möglich. Beiträge zur linken Europa-Debatte, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 29. September 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.