Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Schwellenländer in Schwierigkeiten

Artikel-Nr.: DE20150826-Art.22-2015

Schwellenländer in Schwierigkeiten

Zurück zu den Fundamentals

Vorab im Web - Nach einem 15 Jahre langen Hype hat sich jetzt eine neue konventionelle Weisheit Bahn gebrochen: Die Emerging Markets bzw. die Schwellenländer stecken in tiefen Schwierigkeiten. Doch rückläufige Wachstumsraten, Währungseinbrüche, Korruptionsskandale und andere Probleme sind keine Überraschung, sondern Folgen weltwirtschaftlicher Gegenwinde und unterschiedlicher Fundamentaldaten in diesen Ländern, schreibt Dani Rodrik.

Viele Analysten haben das hohe Wachstum in Ländern wie Brasilien, Russland, der Türkei und Indien einfach endlos in die Zukunft extrapoliert und von den neuen Lokomotiven der Weltwirtschaft geredet. Jetzt ist das Wachstum in fast allen dieser Länder zurück gegangen, und die Investoren ziehen ihr Geld ab – teilweise ausgelöst durch die Erwartung, die Federal Reserve Bank (FED) der USA würde im September die Zinsen anheben. Die Währungen brachen zusammen, während Korruptionsskandale und andere politische Schwierigkeiten in Ländern wie Brasilien und der Türkei die herrschende wirtschaftliche Erzählung hinweg gefegt haben.

● Keine kohärente Wachstumsstory

Im Nachhinein besehen wurde klar, dass es in der Tat keine kohärente Wachstumsstory gegeben hat, die auf die meisten Schwellenländer zutraf. Wer etwas an der Oberfläche kratzt, findet hohe Wachstumsraten, die nicht durch eine produktive Transformation, sondern von heimischer Nachfrage getrieben wurden, die ihrerseits durch einen zeitweiligen Rohstoffboom und nicht-nachhatige Niveaus der öffentlichen und – öfter noch – privaten Kreditaufnahme befeuert wurde.

Natürlich gibt es inzwischen viele Weltfirmen in den Schwellenländern, und auch das Wachstum der Mittelschichten ist unbestreitbar. Doch nur ein geringer Anteil der Arbeitskräfte in diesen Ökonomien ist in produktiven Unternehmen beschäftigt, während informelle, unproduktive Firmen den Rest absorbieren.

Man vergleiche dies mit der Erfahrung einiger Länder, die erfolgreich aufgeschlossen haben und in den Status eines Industrielandes „aufgestiegen“ sind, und man kann das fehlende Element sehen. Südkorea und Taiwan wuchsen auf der Basis einer schnellen Industrialisierung. In dem Maße wie südkoreanische und taiwanesische Bauern zu Industriearbeitern wurden, erlebten beide Ökonomien – und mit Verzögerung auch ihre politischen Systeme – eine Transformation: Südkorea und Taiwan wurden schließlich reiche Demokratien.

Im Gegensatz dazu vollzogen die meisten der heutigen Schwellenländer eine verfrühte Deindustrialisierung. Dienstleistungen sind nicht im gleichen Maße handelbar wie verarbeitete Güter, und mit den meisten geht nicht dieselbe technologische Dynamik einher. Im Ergebnis erwiesen sich Dienstleistungen bislang als ein schwacher Ersatz für exportorientierte Industrialisierung.

● Was schafft strukturelle Transformation?

Doch die Emerging Markets verdienen nicht diese Schwarzseherei, mit der sie heutzutage bedacht werden. Die eigentliche Lehre aus dem Zusammenbruch des Schwellenländer-Hypes besteht darin, den Wachstumsgrundlagen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und die Vielfalt der Umstände innerhalb einer Gruppe von Ökonomien anzuerkennen, die unnötigerweise in einen Topf geworfen wurden.

Die drei Wachstumsfundamentals in Entwicklungsländern sind (a) der Erwerb von Qualifikation und Bildung durch die Arbeitskräfte, (b) die Verbesserung von Institutionen und Governance, und (c) die strukturelle Transformation von Aktivitäten niedriger zu hoher Produktivität (was typischerweise die Industrialisierung ausmacht). Das schnelle Wachstum im Stil Ostasiens erforderte in der Regel eine starke Dosis struktureller Transformation über mehrere Jahrzehnte hinweg – mit stetem Fortschritt bei Erziehung und Institutionen, die die längerfristigen Grundlagen für die Annäherung an die fortgeschrittenen Ökonomien bereitstellten.

Anders als die ostasiatischen Ökonomien können sich die heutigen Schwellenländer nicht auf industrielle Exportüberschüsse als Triebkräfte für strukturelle Transformation und Wachstum stützen. Sie sind somit gezwungen, sich stärker auf längerfristige Fundamentals wie Bildung und Institutionen zu verlassen. Das schafft Wachstum, und ist in der Tat unabdingbar, doch bestenfalls 2-3% jährlich, und nicht 7-8% wie in Ostasien.

Vergleichen wir China und Indien. China wuchs, indem es Fabriken baute und diese mit wenig gebildeten Bauern füllte, was einen unmittelbaren Schub an Produktivität hervorbrachte. Indiens komparativer Vorteil liegt in relativ qualifikationsintensiven Dienstleistungen, wie der Informationstechnologie, die nicht mehr als eine kleine Schicht der weitgehend unqualifizierten Arbeitskraft des Landes absorbieren kann. Es wird mehrere Jahrzehnte brauchen, bis das durchschnittliche Qualifikationsniveau in Indien so weit gestiegen ist, dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität deutlich steigt. So lag das mittelfristige Wachstumspotential in Indien in den letzten Jahrzehnten deutlich unter dem Chinas. Ein signifikanter Schub bei Infrastrukturausgaben und politischen Reformen mag einen Unterschied machen, kann aber die Lücke nicht schließen.

Auf der anderen Seite kann es im Wettlauf um Wachstum von Vorteil sein, die Schildkröte statt den Hasen zu spielen. Länder, die sich auf eine stetige und umfassende Akkumulation von Qualifikationen und verbesserte Governancestrukturen stützen, mögen nicht so schnell wachsen, doch stabiler und weniger krisenanfällig sein und letztlich sicherer zu den fortgeschrittenen Ländern aufschließen.

● Politisch-institutionelle Kulturen

Chinas wirtschaftliche Erfolge sind unbestreitbar. Aber es bleibt ein autoritäres Land, in dem die Kommunistische Partei ihr politisches Monopol behält. Somit sind die Herausforderungen der politischen und institutionellen Transformation ungleich größer als in Indien. Die Unsicherheit mit der sich ein langfristiger Investor in China konfrontiert sieht, ist entsprechend größer.

Oder vergleichen wir Brasilien mit anderen Schwellenmärkten. Unter diesen Ländern wurde Brasilien jüngst offensichtlich am härtesten getroffen. Der Korruptionsskandal um die führende staatliche Ölgesellschaft Petrobras hat zu einer wirtschaftlichen Krise geführt, die die Währung hat abrutschen lassen und das Wachstum zum Erliegen gebracht hat.

Doch demonstriert die politische Krise Brasiliens auch die Reife des Landes, und die ist offensichtlich ein Zeichen der Stärke und nicht der Schwäche. Die Fähigkeit der Staatsanwälte zur Untersuchung von Zahlungsunregelmäßigkeiten reicht bis in die höchsten Ränge der brasilianischen Gesellschaft und Regierung, ohne das es zu politischer Einmischung käme oder der Prozess in eine Hexenjagd ausartete. So etwas wäre selbst für viele fortgeschrittene Länder beispielhaft.

Der Kontrast zur Türkei könnte nicht schlagender sein. Korruption von viel größerem Ausmaß, unter Einschluss des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Familie, wurde dort nicht belangt. Eine Untersuchung türkischer Staatsanwälte gegen Erdogan im Jahre 2013 war klar politisch motiviert (und angetrieben durch Erdogans Feinde in der von Fethullah Gülen geführten Bewegung, eines islamischen Predigers im selbstgewählten Exil), was der Regierung den notwendigen Vorwand gab, die Untersuchung zu unterbinden. Die türkische Wirtschaft hat nicht annähernd so stark gelitten wie die brasilianische, aber ihre Verrottung wird größeren langfristigen Schaden verursachen.

Billige Finanzierung von außen, hohe Kapitalzuflüsse und der Rohstoffboom trugen dazu bei, viele derartiger Schwächen zu überdecken und befeuerten das Wachstum 15 Jahre lang. Wenn die Weltwirtschaft in den kommenden Jahren stärkeren Gegenwind erzeugt, wird es leichter werden, Länder zu unterscheiden, die ihre wirtschaftlichen und politischen Fundamentaldaten wirklich gestärkt haben, und solche, die falschen Erzählungen gefolgt sind und auf die zweifelhafte Stärke schwankender Launen von Investoren gesetzt haben.

● © Project Syndicate. Übersetzung: W&E

Dani Rodrik ist Professor für International Political Economy an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University. Er ist Autor von One Economics, Many Recipes: Globalization, Institutions, and Economic Growth und The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy.

Posted: 26.8.2015

Empfohlene Zitierweise:
Dani Rodrik, Schwellenländer in Schwierigkeiten: Zurück zu den Fundamentals, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 26. August 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.