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Trotz Weltmarkt und kapitalistischer Krisen

Artikel-Nr.: DE20150225-Art.06-2015

Trotz Weltmarkt und kapitalistischer Krisen

Vorabdruck: Die Emanzipation des Südens (I)

Die wirtschaftlichen Verschiebungen zwischen den alten Industrieländern und den Schwellen- und Entwicklungsländern des Südens sind eine vergleichsweise neue Erscheinung – und es ist keineswegs ausgemacht, dass dieser Prozess im Tempo der letzten 25 Jahre weitergeht. Denn auch die Länder des Südens sind vor Krisen und Rückschlägen nicht gefeit, schreibt Jörg Goldberg in seinem neuen Buch „Die Emanzipation des Südens“.*)

Die Widersprüchlichkeit und Ungleichzeitigkeit bei der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise im Süden macht Voraussagen über die weitere Entwicklung nach dem Muster: China „wird 2030 die USA als die weltweit größte Wirtschaft ersetzt haben“ (World Bank 2012), fragwürdig. Diese Kritik trifft auch jene Anhänger der Weltsystem-Analyse, die „historische Muster und Zentrenbildung, Peripherisierung und hegemonialen Wandel im Weltsystem« (Komlosy 2013) aus der Vergangenheit in die Zukunft verlagern wollen.

● Das Elend der Langzeitprognosen

Trotzdem sind solche Projektionen Legion, wobei diese in der Regel nicht viel mehr tun, als aktuell sichtbare Trends linear in die Zukunft zu verlängern. Krisen und Umbrüche wie die nach 2008 fallen dabei als singuläre, unvorhersehbare Ereignisse unter den Tisch. Für die Folgen der aktuellen Krise formuliert z. B. die 50-Jahre-Prognose der OECD von 2012 die „Arbeitshypothese“, dass diese Krise das Wachstum nur kurzfristig („aktuell und für die nächsten paar Jahre“) beeinflussen werde und „keinen dauerhaften Einfluss auf den langfristigen Wachstumstrend“ habe. (OECD 2012) Diese Annahme ist heute, sieben Jahre nach Ausbruch der Krise und drei Jahre nach Aufstellung der Projektion, hinfällig. Vielleicht wären die OECD-Autoren etwas
vorsichtiger gewesen, wenn sie die Analyse von Ho und Mauro gekannt hätten, die nach Durchsicht einer Reihe von Langfristprognosen zu dem Ergebnis kommen, „dass die Prognostiker dazu tendieren, die Dauerhaftigkeit von hohen Wachstumsraten zu überschätzen …“. (Ho/Mauro)

Die Annahme, Wachstumstrends könnten über 50 Jahre hinweg auch nur ungefähr vorhergesehen werden, geht an der Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise völlig vorbei. Dass ganze Regionen, die sich über einen längeren Zeitraum rasch entwickelt haben, auch wieder drastische Rückschläge erleiden können, machen die (in diesem Buch dargestellten) Beispiele aus Lateinamerika und Afrika deutlich. Man sollte im Gegenteil davon ausgehen, dass die lineare Fortsetzung aktueller Trends die am wenigsten wahrscheinliche Entwicklungsvariante ist.

Globale Wachstumstrends bis 2060


Die Prognose der OECD weist einige Auffälligkeiten auf: So liegt das erwartete Wachstum Frankreichs deutlich über dem Deutschlands, das Indiens über dem Chinas, obwohl die Situation zur Zeit der Prognose dafür keine Grundlage bot: Der Grund ist das große Gewicht des Bevölkerungsfaktors (Zunahme und Altersstruktur) im Prognosemodell der OECD. Insgesamt aber ergibt sich das erwartete Bild: Schon 2030 wird das BIP Chinas (zu Kaufkraftparitäten) um mehr als die Hälfte über dem der USA liegen, die EU wird nur noch marginal mehr produzieren als Indien. Das globale BIP wird sich bis 2060 mehr als vervierfacht haben, das wirtschaftliche Gewicht des Südens wird schon 2030 das des Westens um mehr als das Doppelte übersteigen (OECD 2012).

Bei diesen Prognosen werden die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ebenso außer Acht gelassen wie wirtschaftliche und politische Konflikte, die mit den erwarteten Machtverschiebungen sowohl im Inneren wie im Äußeren notwendig verbunden sind: „Tatsächlich werden eine Reihe von Faktoren vernachlässigt, darunter die Gefahr von Schuldenkrisen, Handelskonflikten und möglichen Engpässen als Folge eines nicht nachhaltigen Verbrauchs von natürlichen Ressourcen und Umweltleistungen.“ (ebd.) Vernachlässigt wird ebenfalls – und hier kommt das Hauptthema dieses Buches, die gesellschaftliche Vielfalt, ins Spiel – die unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit der Gesellschaften, mit diesen Krisen umzugehen bzw. sie zu steuern, wie zuletzt die Krise von 2008 ff. belegt: Obwohl es sich zweifellos um eine weltweite Krise handelt, sind doch Verlauf, Folgen und Wirkungen so unterschiedlich, dass man an der einheitlichen Wirkungsmacht des Weltmarkts zweifeln könnte. Die Auswirkungen der weltwirtschaftlichen Krisen werden in den jeweiligen Ländern und Regionen entscheidend durch die innere Verfasstheit der Ökonomien und Gesellschaften bestimmt.

● Wirtschaftskrisen und globale Finanzmärkte

Zu den kurz- und mittelfristigen Risikofaktoren der künftigen Entwicklung gehören zunächst die Wirkungen der ungelösten Finanzmarktkrise im Westen. Diese ist, wie vielfach gezeigt, Folge der Hypertrophie der Finanzmärkte, d.h. des Widerspruchs zwischen Finanzakkumulation und Realakkumulation. Der Trend zur Finanzialisierung der Wirtschaft hat seine Grundlage in den Ländern des Westens. Dass dieser Widerspruch nicht gelöst wurde, sondern seit mittlerweile (2015) mehr als sieben Jahren die globale wirtschaftliche Entwicklung bestimmt, spiegelt sich in der Politik der Notenbanken wider, die versuchen, jeder Erschütterung und Dysfunktionalität der Finanzmärkte durch die Schaffung von Liquidität und durch extrem niedrige Zinsen zu begegnen. Trotzdem bleibt die reale Investitionstätigkeit in den Ländern des Westens auf einem historisch extrem niedrigen Niveau.

Die Länder des Südens haben diese Krise u.a. deshalb besser überstanden, weil sie institutionell anders ausgestattet waren und sich vor den Fernwirkungen der Finanzmarktkrise teilweise schützen konnten. Außerdem verzeichnen einige der großen Schwellenländer hohe Leistungsbilanzüberschüsse und verfügen über große Devisenreserven, was sie gegenüber den Bewegungen der internationalen Finanzmärkte teilweise abschirmt. Das gilt aber nicht für alle Länder des Südens, einige, wie z. B. Indien oder Brasilien, haben Leistungsbilanzdefizite und sind auf den Zustrom von Auslandskapital angewiesen. Dieser ist aber volatil, d. h. Wirtschafts- und Geldpolitik dieser Länder müssen auf die Bewegungen der internationalen Kapitalmärkte Rücksicht nehmen. Es ist nicht ausgemacht, dass sie sich auch in Zukunft den Auswirkungen der labilen internationalen Finanzmärkte entziehen können.

Zudem müssen die aufstrebenden Staaten, in dem Maße, wie sie sich in den Weltmarkt integrieren und diesen aktiv beeinflussen wollen, bestimmte Liberalisierungsmaßnahmen durchführen, was zu einem Kontrollverlust durch die nationale Wirtschaftspolitik führen kann. Ein Beispiel ist die Frage der Konvertibilität der chinesischen Währung: Wenn China sich unabhängiger machen will von der Dominanz der Leitwährung US-Dollar, dann führt mittelfristig kaum ein Weg an der Konvertibilität der Renminbi vorbei. Damit wird die chinesische Währung aber bis zu einem gewissen Grade abhängig von spekulativen Bewegungen an den Devisenmärkten. Auch die nationalen Finanzsysteme werden sich tendenziell in die globalen Strukturen integrieren müssen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Länder des Südens sich – nur weil es 2008 ff. geklappt hat – auch weiterhin vor der Labilität der von den westlichen Staaten und Finanzinstitutionen beherrschten Finanzmärkte schützen können. Die ungelöste Krise der Finanzmärkte bedroht mittelfristig auch die Länder des Südens.

Dass der Aufschwung des Südens kein allgemeiner und unaufhaltsamer Prozess ist, zeigen die Schwierigkeiten, in die drei von den fünf ‚Buchstaben‘ der Abkürzung BRICS 2014 geraten sind: In Brasilien haben sich im Zeichen eines deutlich verlangsamten Wachstums soziale Konflikte zugespitzt, Russland befindet sich in einem Handelskrieg mit der westlichen Welt, und Südafrika sieht sich – zusammen mit ebenfalls zugespitzten sozialen Konflikten – der Gefahr einer zunehmenden Deindustrialisierung mit entsprechenden Arbeitsplatzverlusten ausgesetzt.

Ein zweiter krisenbedingter Risikofaktor hängt mit der Konjunktur Chinas zusammen. Es wurde oben gezeigt, dass das chinesische Wachstumsmodell investitionsgetrieben ist. Dies beinhaltet mittelfristig die Möglichkeit einer klassischen Überproduktionskrise – es ist bislang nicht gelungen, die niedrige Konsumquote nachhaltig zu steigern. Die hohen Investitions- und Sparquoten gehen einher mit einer hohen inländischen Verschuldung der Unternehmen. Partielle Erscheinungen von Überproduktion und Überkapazitäten in einzelnen Sektoren können bislang durch entsprechende Eingriffe der Notenbank überdeckt werden – eine allgemeine Überproduktionskrise aber wäre schwieriger zu beherrschen. Auch wenn richtig ist, dass die Ökonomie Chinas nicht marktgesteuert ist, bleiben jene grundlegenden Widersprüche bestimmend, die mit dem Zwang zur Akkumulation und sozialen Konflikten verbunden sind.

Abgesehen von den sozialen Auseinandersetzungen, die bei einer deutlichen Abschwächung des immer noch hohen Wachstums befürchtet werden – von einem Produktionseinbruch ganz zu schweigen –, wären auch die globalen Folgen einschneidend. Die UN wiesen 2013 darauf hin, dass schon eine Verlangsamung des chinesischen Wachstums auf jährlich fünf Prozent dasjenige in den übrigen Entwicklungsländern um drei Prozent reduzieren würde. In Afrika und Lateinamerika wäre dies mit einer Stagnation der Pro-Kopf-Einkommen verbunden. Die vom Rohstoffexport abhängigen Schwellen- und Entwicklungsländer – und das ist die Mehrheit – würden wieder zurückfallen.

Die Risiken eines scharfen Einbruchs der Konjunktur in Ostasien mit dauerhaften Rückwirkungen auf den ganzen Süden erscheinen gegenwärtig noch nicht allzu groß. Denn der Nachholbedarf an Infrastrukturen, an produktiven Investitionen, beim Massenkonsum und bei den Sozialsystemen ist so groß, dass eine Erschöpfung der Wachstumsspielräume vorerst nicht in Sicht ist. Die insgesamt hohe politische Steuerungsfähigkeit der meisten Ökonomien des Südens spricht dafür, dass diese auch ausgeschöpft werden können, auch wenn mit der weiteren kapitalistischen Durchdringung dieser Länder eine Zunahme von Krisen und Ungleichgewichten zu erwarten ist.

Auf einen weiteren Krisenfaktor macht Thomas Piketty aufmerksam: Bei unveränderten politischen Kräftekonstellationen würde sich die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse und damit auch der Einkommen tendenziell vergrößern, wenn das wirtschaftliche Wachstum langfristig niedriger ist als die Kapitalrenditen: „Wird sich die Welt der Jahre um 2050 oder 2100 in den Händen vor Börsenhändlern, Top-Managern und Besitzern großer Vermögen befinden, werden Ölländer, die Bank of China oder gar Steuerparadiese, die auf die eine oder andere Weise all diese Akteure schützen, das Sagen haben? Es wäre abwegig, sich diese Frage nicht zu stellen und prinzipiell ein langfristiges
‚ausgeglichenes‘ Wachstum anzunehmen.“ (Piketty)

Ressourcenknappheit, ökologische Krisen und globale Konflikte

Die größte Schwäche der linearen Wachstumsprognosen ist die Ausklammerung bzw. Unterschätzung der ökologischen Dimension. Denn dass bei einer Vervierfachung der Produktion auch die ökologischen Spielräume – und das ist weit mehr als die Klimaproblematik – überbeansprucht werden, liegt auf der Hand, selbst wenn Einsparpotentiale mobilisiert werden können. Schon heute macht sich die Überbeanspruchung des Planeten in Form von vermehrten Naturkatastrophen, einem Anstieg des Meeresspiegels und der Knappheit von Ackerland und Wasser Luft. Meinhard Miegel weist darauf hin, dass die Menschheit für ihre wirtschaftlichen Aktivitäten schon jetzt „anderthalb Globen“ benötigt. Auf der Grundlage der OECD-Prognose würden 2030 drei und 2060 sechs Erdbälle erforderlich sein: „Wir leben in einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, genannt Kapitalismus, die ihre Fundamente aktiv untergräbt!“

Es ist kaum vorstellbar, dass diese Fundamente bei einer Vervierfachung der Produktion bis 2060 halten werden. Allein die Land- und Wasserfrage dürfte sich – bei zunehmendem Anspruch an Agrarflächen und wachsender Urbanisierung – als ökologischer und ökonomischer (Bodenpreise) Engpass erweisen, was die Frage der Eigentumsrechte an Grund und Boden aufwirft. Da Grund und Boden nicht beliebig vermehrbar sind, müsste zumindest hier das Eigentumsrecht eingeschränkt werden. Trotzdem scheint die Steigerung der Produktion (der Titel der erwähnten Wachstumsstudie lautet: „Wachstum: Jetzt und für immer?“, Ho/Mauro 2014) die einzige ökonomische Option der Zukunft zu sein. Selbst die hoch entwickelten Länder sollen der OECD-Prognose zufolge bis 2040 ihre jährliche Produktion annähernd verdoppeln. Dies ist ohne ökologische „Engpässe“, die ja in einigen Teilen der Welt bereits heute sichtbar sind, nicht möglich. Davon zu abstrahieren, ist nicht nur unseriös, sondern gibt der Politik auch falsche Signale.

Ähnlich blauäugig erscheint die Vernachlässigung von globalen oder regionalen Konflikten. Eine Verschiebung der globalen Machtverhältnisse, wie sie die OECD-Prognose unterstellt, dürfte in einer Welt der Territorialstaaten kaum ohne machtpolitische Konflikte ablaufen. Dass die alten Wirtschaftsmächte des Westens, insbesondere die ehemalige Hegemonialmacht USA, ihrer ökonomischen „Marginalisierung“ tatenlos zusehen werden, ist nicht zu erwarten, „wie die aktuelle Vorwärtsverteidigung der absteigenden Hegemonialmacht mit ihren multiplen Interventions- und Kriegsschauplätzen deutlich vor Augen führt.“ (Miegel 2014) Dass dies ohne größere militärische Konflikte ablaufen wird, ist eine sehr optimistische Annahme (Komlosy 2013). Ebenso unwahrscheinlich ist, dass der Aufstieg der großen Schwellenländer und der damit verbundene jeweilige regionale Führungsanspruch bei den kleineren Nachbarländern einfach hingenommen werden wird. Dies ist umso unwahrscheinlicher, als bei globalen Interessenskonflikten in zunehmendem Maße auf nationale, ethnische und religiöse Identitäten zurückgegriffen wird.

Obwohl die Ursachen in der Regel ökonomischer und sozialer Natur sind, so beinhalten national, ethnisch und religiös gefärbte Auseinandersetzungen immer eine Tendenz zur Verselbständigung: Wirtschaftliche, politische und soziale Konflikte können zumindest zeitweise durch Kompromisse befriedet werden, nicht aber ethnisch-religiös gefärbte. Die Mobilisierung nationaler und religiöser Vorurteile zur Durchsetzung von Interessen erschwert die Konfliktregulierung. Unter solchen Bedingungen wird es schwer, Konflikte unter Verweis auf zunehmende gegenseitige ökonomisch-ökologische Abhängigkeiten zu begrenzen bzw. Kompromisse zu finden: Wenn es um grundlegende „Werte“ geht – dieses Muster ist bei der Agitation für diverse ‚humanitäre‘ Interventionen auch hierzulande bekannt –, dürfen wirtschaftliche oder politische Rücksichten keine Rolle spielen. Das Bedürfnis, sich seiner Identität durch Abgrenzung gegen andere zu versichern, wächst in dem Maße, wie die Gruppen sich näher rücken (müssen). Das gilt im Kampf für ‚Freiheit und Demokratie‘ ebenso wie beim Schutz des ‚wahren Glaubens‘ oder bei der Verteidigung der ‚richtigen‘ Lebensweise.

● Eine neue Weltwirtschaftsordnung?

Im ersten Kapitel (dieses Buches) wurde gezeigt, dass die mit dem Aufstieg des Südens verbundenen Veränderungen in den globalen Kräfteverhältnissen die nach 1945 entstandene Weltwirtschaftsordnung bis jetzt nicht grundlegend verändert haben. Wade schrieb 2008/2009 am Ende einer Übersicht über globale Strategien der Entwicklungsländer: „… wenn China die technologische, ja sogar militärische Kapazität erwirbt, um zum Konkurrenten des Westens zu werden, werden die Veränderungen der internationalen Agenda wirklich interessant.“ Angetrieben durch die Folgen der Krise 2008 ff., die Wade noch nicht berücksichtigen konnte, ist dieser Zeitpunkt schneller gekommen als erwartet. Die globale Agenda hat sich aber nur insofern verändert, als die Durchsetzung allgemeingültiger, multilateraler Regeln immer schwerer geworden ist. Während sich die Struktur der globalen Institutionen und Organisationen darstellt wie vor 70 Jahren, funktioniert sie nur noch eingeschränkt. Den Schwellen- und Entwicklungsländern gelingt es, die Vorhaben der immer noch westlich dominierten globalen Agenda zu blockieren bzw. die Spielregeln dort zu modifizieren, wo die Interessen der großen Akteure des Südens auf dem Spiel stehen. Die Folge ist eine Krise des Multilateralismus, nicht aber neue globale Regeln.

Die Hoffnung der UN, dass „eine stärkere Beteiligung des Südens, der umfangreiche finanzielle, technologische und personelle Ressourcen sowie wertvolle Lösungen kritischer weltweiter Probleme beisteuern kann, … alle zwischenstaatlichen Prozesse mit neuem Leben erfüllen (könnte)“ (UNDP 2013, S. 9), hat sich bislang nicht erfüllt. Die großen neuen Wirtschaftsmächte, argumentiert Andreas Nölke, haben teilweise „von den bestehenden Institutionen der Weltwirtschaft erheblich profitiert“ bzw. konnten sich jene Elemente heraussuchen, die für sie nützlich waren, während sie sich jenen entziehen konnten, die ihren Spielraum beschränkten. Daher gab es bisher nie ernsthafte Versuche, die Funktionsweise der globalen Ordnung grundlegend zu verändern, im Sinne jener Forderungen nach einer neuen, gerechteren „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (NWWO), die die Gemeinschaft der südlichen Länder in den 1970er Jahre aufgestellt hatte, wegen ihrer Schwäche bzw. der Stärke des Westens aber nicht durchsetzen konnte. (Die UN-Generalversammlung hatte 1974 eine "Erklärung über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung" verabschiedet, mit den Eckpunkten Rohstoffpolitik, internationaler Handel, Industrialisierung, Schuldenentlastung, Erneuerung des Weltwährungssystems und Entwicklungshilfe. Im Mittelpunkt stand die Stabilisierung der Rohstoffpreise.)

Diese Asymmetrie in den internationalen Kräfteverhältnissen ist heute nicht mehr gegeben, die großen Länder des Südens sind selbst zu mächtigen globalen ‚playern‘ geworden. „Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher“, meint Nölke, „dass die großen Schwellenländer, welche nun mit erheblich mehr Verhandlungsmacht ausgestattet sind, zwar wieder Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung artikulieren, jedoch praktisch auf pragmatische ooperation in bestehenden Regulierungsinstitutionen (wie die G8 bzw. G20) hinarbeiten.“ Das ist aber in Wirklichkeit – wie auch Nölke sieht – nicht so erstaunlich: Die kapitalistischer Logik folgenden neuen Wirtschaftsmächte verfügen über ausreichende Ressourcen, um ihre Interessen international durchsetzen zu können bzw. über Spielräume, sich dem globalen Druck dort zu entziehen, wo sie ihn als hinderlich ansehen. Dies ist der Hintergrund für die Schwächung bzw. Blockierung multilateraler Regeln, wobei Nölke der Ansicht ist, dass auch in Zukunft „eine weitere Stärkung der globalen liberalen Institutionen (nicht zu erwarten ist), da eine solche Stärkung potenziell problematische Auswirkungen für Unternehmen in großen Schwellenländern haben können.“

Die bisher sichtbaren Veränderungen in der Architektur des Weltmarkts und von ‚global governance‘ sind daher bislang begrenzt bzw. punktuell geblieben. Die G7 der westlichen Länder wurde durch die G20 abgelöst, die die großen Schwellen- und Entwicklungsländer einbezieht. Diese Gruppe definiert sich selbst als „das führende Forum für unsere internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit“. Trotz neuer Mitglieder bleiben aber die Starken unter sich. Auf der sechsten Tagung der BRICS-Länder 2014 (genau 70 Jahre nach der Gründung des Systems von Bretton Woods 1944) wurde die Errichtung einer Entwicklungsbank und eines Währungsfonds beschlossen, die das Gegenstück zu den reformunfähigen, US-dominierten Einrichtungen Weltbank und Internationaler Währungsfonds bilden sollen – zunächst mit bescheidener Finanzausstattung. Ob das, wie Elmar Altvater (W&E-Hintergrund August 2014) hofft, „die Geburtsstunde einer autonomen politischen Formierung des globalen Südens gegen den globalen Norden“ ist, bleibt abzuwarten.

Derzeit sieht es jedenfalls nicht so aus, als ob der Aufbau alternativer Regelungsansätze eine Priorität der großen Länder des Südens wäre. Denn auch wenn das bestehende globale Regelungssystem die Muttermale des Westens trägt, so können die großen Länder des Südens damit ganz gut leben, weil sie westliche Auflagen – wenn nötig – umgehen können. Daher, so meint Nölke, bestünde seitens der großen Länder des Südens kein wirkliches Interesse an neuen global gültigen Regeln. Dies ist eine sehr pessimistische Sichtweise, da sie in der Konsequenz auf den Abbau globaler Regeln hinausläuft, auf „ein neues Zeitalter der Großmächtekonkurrenz“, auf „Renationalisierungstendenzen und … neue Nationalismen mit zunehmendem Protektionismus, Balkanisierung und Xenophobie“ (Adams/Luchsinger: W&E-Hintergrund Juni 2014). Dies wäre mittelfristig eine katastrophische Perspektive.

● Neue Vielfalt statt überkommene Konsense

Die aktuellen Krisen in Ökonomie, Ökologie und Politik zeigen, dass viele Probleme nur im Rahmen von globalen Vereinbarungen geregelt werden können, die so transparent und partizipativ zustande kommen, dass sie von allen Akteuren akzeptiert werden können. Auch wenn derzeit einiges für Nölkes pessimistische Variante, die Blockade multilateraler Regelungen, spricht, so beruht diese Annahme auf der einfachen Fortschreibung bisheriger Entwicklungen. Dies aber ignoriert die Tatsache, dass die Wirtschaftsmächte des Südens in dem Maße, wie sie (als Regierungen und als transnationalen Unternehmen) zu eigenständigen globalen Akteuren werden, ihrerseits in verstärkte wirtschaftliche Abhängigkeit von globalen Entwicklungen geraten. Eine international handelbare chinesische Währung, global tätige indische Banken, global agierende brasilianische Unternehmen können sich nicht mehr darauf beschränken, sich aus der bestehenden internationalen Wirtschaftsordnung die ‚Rosinen‘ zu picken und sich überall dort, wo sie keine Vorteile sehen, den oft noch freiwilligen Regeln zu entziehen. Konzerne, die selbst Auslandsinvestitionen tätigen, die technologische Innovationen generieren, die in internationalen Produktionsketten nicht mehr nur untergeordnete Funktionen ausüben, werden gezwungen sein, sich aktiv um die Gestaltung globaler Regeln zu kümmern. Wenn die Qualifikation der eigenen Arbeitskräfte zunimmt, die Löhne und sozialen Standards steigen, werden aktive Beiträge auch der Schwellenländer in den Auseinandersetzungen um globale Arbeitsstandards unabdingbar werden.

In dem Maße, wie Länder des Südens sich aktiv in die Weltwirtschaft integrieren und anfangen, diese zu beeinflussen, werden sie selbst eigene Vorstellungen zur Gestaltung der globalen Ordnung entwickeln und umsetzen müssen. Keine der neuen Wirtschaftsmächte ist stark genug, um ihre Vorstellungen der Welt – nach dem Muster der USA – aufzwingen zu können. Eine neue Hegemonialmacht ist nicht in Sicht, auch China allein kann diese Rolle nicht spielen. Dazu müssen neue Bündnisse und Koalitionen eingegangen werden. Dies eröffnet auch kleineren Ländern des Südens gewisse Möglichkeiten, da sie ggfls. als Bündnispartner eine Rolle spielen könnten, die über ihr jeweiliges wirtschaftliches Gewicht hinausgeht. Ob diese erneuerte, die bisherige Hegemonialmacht USA auf ihren Platz verweisende globale Ordnung wirklich „eine neue Ära der Partnerschaft“ (UNDP 2013) im Rahmen einer besseren globalen Ordnung einleiten wird, ist derzeit nicht absehbar. Die Interessen der aufstrebenden Wirtschaftsmächte sind zu unterschiedlich. Daher
spricht einiges für die Position von Schmalz/Ebenau: „Insgesamt zeichnet sich eine Epoche ab, die von äußerst unterschiedlichen nationalen und regionalen Akkumulationsstrategien und Machtblöcken mit stark variierenden Regulierungsvorstellungen gekennzeichnet ist. Diese fügen sich zu keiner kohärenten Weltordnung zusammen.“

Trotzdem sind die Aussichten nicht schlecht, dass der wirtschaftliche Aufstieg des Südens im Zeichen vielfältiger, kulturell angepasster Systeme auch auf der Ebene der Weltwirtschaftsordnung Fortschritte auf zumindest drei Ebenen bringen könnte:
* Die Ablösung der Dominanz der USA und ihrer marktradikalen Grundzüge;
* Die Vergrößerung der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Spielräume, welche mehr Raum lässt für angepasste wirtschaftliche und politische Lösungen, möglicherweise auch für grundlegende gesellschaftliche Transformationen. Es geht um eine internationale Ordnung, die Spielräume lässt für die Vielfalt von Institutionen und Kulturen;
* Die Durchsetzung globaler Regeln, bei denen nicht die ökonomische Effizienz und die Interessen privater Konzerne im Vordergrund stehen, sondern die sich an den Prinzipien von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit und der Sicherung von Menschenrechten orientieren.

Es ist nicht zu erwarten, dass die neuen kapitalistischen Weltmarktakteure aus dem Süden grundlegend anders agieren werden als die bisher dominierenden Regierungen und Konzerne des Westens. Immerhin aber wissen sie um die Vielfalt der Institutionen und Kulturen und werden kaum ihrerseits den Versuch unternehmen, die Welt mit irgendeiner Version der ‚Moderne‘ oder einem ‚Consensus‘ zu beglücken. Außerdem sind Politik und Wirtschaft im Süden enger verflochten, was demokratischen Einflüssen auf ökonomische Prozesse
prinzipiell größeren Spielraum lässt. Dies ist kein Garant dafür, dass neue, stärker vom Süden geprägte globale Regeln sich eher an Prinzipien wie Nachhaltigkeit und Menschenrechten statt an ökonomischer Effizienz und Privateigentum orientieren werden. Es kann aber immerhin damit gerechnet werden, dass ökonomische Entscheidungen wieder stärker zum Gegenstand von politischen Prozessen gemacht werden.

Posted: 25.2.2015

Empfohlene Zitierweise:
Jorg Goldberg, Trotz Weltmarkt und kapitalistischer Krisen. Vorabdruck: Die Emanzipation des Südens (I), in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 25. Februar 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org). Es handelt sich um einen Vorabdruck aus dem neuen Buch von Jörg Goldberg: Die Emanzipation des Südens. Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt. Bezug: >>> hier.

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