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Wider das Freihandelsdogma der EU

Artikel-Nr.: DE20150626-Art.18-2015

Wider das Freihandelsdogma der EU

Merkantilismus und mörderische Inkohärenz

Vorab im Web - Die Europäische Union (EU) verhandelt nicht nur über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Sie schließt immer neue Freihandelsabkommen mit anderen Drittländern ab, darunter mit zahlreichen Entwicklungsländern. Dadurch werden diese oft sehr armen Länder dazu gebracht, ihre Wirtschaft zu liberalisieren und ihre Märkte immer weiter für Produkte und Dienstleistungen aus der EU zu öffnen, schreibt Jean Feyder*).

Diese Abkommen verstärken die neoliberale Politik, die die westlichen Länder seit mehreren Jahrzehnten vor allem afrikanischen Ländern auferlegt haben, vor allem über die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Auch die Welthandelsorganisation (WTO) hat zu einer immer stärkeren „Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt“ beigetragen.

● Desaströse Folgen

Diese Politik hat desaströse Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, auf die Wirtschaft dieser Länder und auf die Steuereinkommen ihrer Regierungen. Unsere Exporte von Nahrungsmitteln zu Dumpingpreisen zerstören weiter ganze Sektoren ihrer Landwirtschaft. Millionen Kleinbauern mit ihren Familien werden ruiniert. Der Industrie geht es kaum besser. Gemäß einer 2012 von der ILO veröffentlichten Studie hat Afrika zwischen 1980 und 2005 25 % seiner industriellen Arbeitsplätze verloren. In vielen Ländern, wie in Senegal, Uganda oder Sambia, ist die Textilindustrie völlig zusammengebrochen, eine Folge der 2004 unternommenen weltweiten Liberalisierung des Textilhandels.

Die Tragödie, die Tag für Tag im Mittelmeer passiert und Tausende von Menschenopfern fordert, sollte Anlass sein, diese Politik mit erneuter Aufmerksamkeit zu überprüfen. Eine bestimmte Zahl dieser Flüchtlinge fliehen aus Ländern wie Syrien oder Eritrea, auf Grund der explosiven politischen Lage in ihren Heimatländern. Aber viele kommen aus den Ländern Subsahara-Afrikas, um der Armut, dem Hunger und der Perspektivlosigkeit ihres Lebens zu entkommen.

Die luxemburgische Regierung hat diese Flüchtlingsfragen auf die Tagesordnung ihrer im zweiten Halbjahr 2015 anstehenden EU-Präsidentschaft gesetzt. Hat sie die Einsicht, nicht nur auf die Symptome dieses Problems einzugehen, sich bloß mit dem Ausbau der Festung Europas und der Verteilung der Asylbewerber zu befassen, sondern auch dessen tieferen Ursachen zu prüfen?

● Unter schamlosem Druck

Auch das Jahr 2015, das zum „Europäischen Jahr für Entwicklung“ proklamiert wurde, sollte zum Anlass genommen werden, das Paradigma des Freihandels in Frage zu stellen. Umso mehr als sich die Europäische Union sich anschickt, eine neue Phase in ihren Handelsbeziehungen mit den afrikanischen Ländern einzuleiten. So hat sie 2014 Freihandelsabkommen mit drei afrikanischen Regionen abgeschlossen, die sog. Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs: „Economic Partnership Agreements“).

Diese Abkommen kamen unter schamlosen Druck zustande. Vor zwei Jahren nämlich drohte die EU-Kommission Ländern mit mittlerem Einkommen, wie Ghana und der Elfenbeinküste, ihren Vorzugszugang zum EU-Markt zu sperren, sollten sie nicht bereit sein, das Abkommen bis zum 1. Oktober 2014 zu unterschreiben. Durch das Abkommen mit Westafrika werden 75% der Zolllinien liberalisiert, die eigentlich 82% des Wertes des Handelsvolumens entsprechen. Die Liberalisierung erfolgt in drei Etappen über einen Zeitrahmen von 20 Jahren, aber zum größten Teil in 15 Jahren.

Der Landwirtschaft kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie etwa 60% der Arbeitsplätze in Westafrika stellt. Ein bedeutender Teil der landwirtschaftlichen Produkte wird aus dem Abkommen herausgehalten und als sensible Produkte angesehen. Aber die Zölle von Milchpulver und Getreide werden auf null heruntergesetzt. Für die meisten anderen Produkte gelten bereits sehr niedrige Zölle von weniger als 20% in Folge der Anpassungsprogramme. Die EU hingegen schützt ihre sensiblen Agrarprodukte, wie Milchprodukte, eingefrorenes Fleisch, Zucker und Getreide, immer noch mit Zöllen zwischen 50 und 87%. Und da die EU der Landwirtschaft weiter Beihilfen zukommen lässt, kann sie ihre Dumpingexporte weiterführen.

● Gemeinsame Agrarpolitik weiter exportorientiert

Die 2013 durchgeführte Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) bleibt weiter auf Export orientiert. Heute importiert Westafrika bereits 25% seiner Nahrungsmittel. Die EU konnte zwischen 2000 und 2010 ihre Exporte von Nahrungsmitteln nach Westafrika praktisch verdoppeln. Deren Wert stieg von 1,5 Mrd. auf 2,9 Mrd. €.

Die Ratifizierung des Abkommens mit Westafrika zuerst durch das Europäische Parlament wurde bereits zweimal verschoben und jetzt auf Dezember 2015 festgesetzt, da einige westafrikanische Staaten, wie Nigeria, dieses Abkommen noch nicht unterschrieben haben. CONCORD, die Plattform der europäischen Entwicklungs-NGOs hat im April einen Bericht zur Politikkohärenz mit dem Titel „Wer profitiert von diesem Abkommen?“ veröffentlicht. Dort wird festgestellt, dass die westafrikanische und europäische Zivilgesellschaft gegen diese Abkommen ist und dass die EU mit einer Hand zurücknimmt, was sie mit der anderen gibt, was eine klare Inkohärenz dieses Abkommens mit den Entwicklungszielen Westafrikas darstellt. In seinen Empfehlungen lädt der Bericht die Parlamentarier dazu ein, dieses Abkommen nicht zu ratifizieren. Eine Folgenabschätzung über die Entwicklung und die Menschenrechte sollte durchgeführt werden und das in Zusammenarbeit mit allen Betroffenen. In Luxemburg entwickelt die Zivilgesellschaft eine Kampagne, um diesem Appell Nachdruck zu verleihen, auch gegenüber seinen eigenen EU-Parlamentariern.

● Junckers Verantwortung

Auch Jean-Claude Juncker schrieb 2010, damals noch Premierminister Luxemburgs: „Während auf der einen Seite die Entwicklungspolitik sich bemüht, den Ärmsten der Armen auf dem Weg zu einem besseren Leben zu helfen, wird oft, eigentlich regelmäßig, zwei Konferenzräume weiter in Ausübung von Machtpolitik in Reinkultur für die Wirtschaftsinteressen westlicher Konzerne gefochten, eine Politik, aus welcher Konsequenzen mit ungleich größerer Wirkung für Entwicklungsländer entstehen. Immer wieder müssen wir feststellen, dass was mir mit der rechten Hand gegeben wurde, mit der linken doppelt und dreifach wieder genommen wurde; dass um die Ertragsfähigkeit eines Konzerns bei uns um einige Cent zu erhöhen, ganze Märkte in Afrika untergraben und zerstört werden.“

Es wäre im Interesse Europas, und Jean-Claude Juncker sollte jetzt als Kommissionspräsident dazu beitragen, dieser kurzsichtigen, merkantilen EU-Handelspolitik und mörderischen Inkohärenz ein Ende zu setzen. Es käme darauf an, es den Afrikanern zu ermöglichen, ihre eigenen Produktionskapazitäten aufzubauen, sowohl in der Landwirtschaft wie in der Industrie, damit möglichst zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen und dezente Einkommensmöglichkeiten entstehen. Unsere Handelsbeziehungen müssen dem enormen Unterschied in Entwicklung und Produktivität in allen Wirtschaftsbereichen, vor allem der Landwirtschaft, Rechnung tragen und demnach weiter auf dem Prinzip der Nichtreziprozität beruhen, wie der CONCORD-Bericht das vorschlägt. Die Afrikaner müssen ihre Märkte neu regulieren und ihre Kleinproduzenten schützen können.

Als die EU-Kommission ein Handelsabkommen mit Moldavien abschließen sollte, bemerkte die EU-Kommission: „Moldawien ist das ärmste Land Europas, und es hat nicht die notwendige Wettbewerbsfähigkeit, um gegenseitige Verpflichtungen in einem Freihandelsabkommen mit der EU einzugehen.“ Der CONCORD-Bericht fragt: Warum weigert sich die EU, Westafrika diese Behandlung zukommen zu lassen, das ärmer ist als Moldawien?

Jean Feyder war Botschafter Luxemburgs, zuletzt in Genf bei den dort ansässigen internationalen Organisationen. Er veröffentlichte das Buch „Mordshunger“ (s. W&E 10/2010), dessen 2. Auflage jüngst erschienen ist.

Posted: 26.6.2015

Empfohlene Zitierweise:
Jean Feyder, Wider das Freihandelsdogma. Merkantilismus und mörderische Inkohärenz, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 26. Juni 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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