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Wiederauferstehung der Strukturanpassung in Europa

Artikel-Nr.: DE20150914-Art.23-2015

Wiederauferstehung der Strukturanpassung in Europa

Griechenland: Der Staat des Memorandums

Vorab im Web - Das dritte Griechenland-Memorandum atmet – stärker als die Vorgänger – den Geist der Strukturanpassungspolitik der 1980er und 1990er Jahre, die den verschuldeten Ländern Afrikas und Lateinamerikas zwei verlorene Jahrzehnte beschert hat. Erst nach Aufgabe dieser unangepassten Politiken und einer wirksamen Schuldenstreichung gelang es (im Kontext steigender Rohstoffpreise und verstärkter Wirtschaftsbeziehungen zu Asien), diesen Entwicklungsrückschlag aufzuholen. Ein Vergleich von Jörg Goldberg.

Die wichtigste Schwäche der Programme war ihr „One-size-fits-all“-Charakter, d.h. die Vorstellung, dass Wirtschaft weltweit nach dem gleichen Muster funktioniere, wobei die Bretton-Woods-Institutionen das angelsächsische ‚Modell‘ vor Augen hatten. Auch das dritte Griechenland-Memorandum folgt dieser Dogmatik, ohne allerdings in sich schlüssig zu sein. Wie Varoufakis in seiner Kommentierung (Text und Kritik des Memorandum of Understanding - MoU >>> hier) unterstreicht: Dieses ist „noch nicht einmal neoliberal, denn Neoliberale würden für niedrigere Steuern … plädieren, um die Wirtschaftstätigkeit zu stimulieren und den Steuerkuchen zu vergrößern.“

● Lehren der Strukturanpassungspolitik in Afrika und Lateinamerika

Kernpunkt der folgenden Kritik soll der Nachweis sein, dass das Memorandum-Programm allein schon deshalb nicht funktionieren kann, weil es die historisch gewachsenen Strukturen und Institutionen der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft ignoriert und im Ergebnis deren Schwächen verstärkt, statt sie zu überwinden. Die gesellschaftlichen Institutionen Griechenlands haben einen anderen historischen Hintergrund als die Westeuropas; ein Programm, das davon ausgeht, dass die griechische Wirtschaft und Gesellschaft ähnlich funktioniert wie in Westeuropa/Nordamerika, muss scheitern. Dies ist die Lehre der Strukturanpassungspolitik in Afrika und Lateinamerika: Den verschuldeten Ländern wurde eine Politik des ‚schlanken Staats‘ und der Marktliberalisierung verpasst mit dem Ergebnis, dass die fragilen Staaten weiter geschwächt und deligitimiert wurden und der zögerlich entstehende ‚moderne‘ Sektor zurück in die Informalität gedrängt wurde.

Die Ähnlichkeit des griechischen Programms mit der gescheiterten Strukturanpassungspolitik fällt auch afrikanischen Beobachtern auf: „Die Afrikaner könnten inzwischen den Europäern ihre ‚technische Hilfe‘ anbieten, wie man die Strukturanpassungsmaßnahmen überlebt. Schließlich sind sie Spezialisten geworden auf diesem Gebiet des Überlebens!“, spottet der kongolesische Schriftsteller Muepu Muamba (in AfrikaSüd 4/2015).

Dass das dritte Memorandums schon aus institutionellen (nicht nur ökonomischen) Gründen nicht funktionieren kann, geht implizit aus der Einleitung des Textes hervor: „Ein Erfolg erfordert die Ownership der Reformagenda seitens der griechischen Autoritäten“, wird dort – fett gedruckt – konstatiert (S. 1). „Griechenland benötigt ein abgestimmtes Erholungsprogramm und die Entwicklung einer Wachstumsstrategie, die Greek-owned und Greek-led ist.“ (S. 2) Jeder weiß, dass diese Bedingungen nicht gegeben sind.

Ausschaltung des Parlaments und Fernsteuerung durch die EU

Während der Ministerpräsident für die Syriza-Regierung unterstreicht: „Ich glaube nicht an das Papier“ (FR, 19.8.15), erklärte Dora Bakoyannis, Außenministerin der konservativen Vorgängerregierung, am 13.8. in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass „die Steuerpolitik eine Steuerpolitik ist, die wirklich kein Wachstum erlaubt.“

Es gibt in Griechenland keine relevante politische Kraft, die dieses Programm unterstützt – daher enthält es Bestimmungen, die das griechische Parlament ausschalten und griechisches Recht missachten. Die Abwesenheit von „Ownership“ ist geradezu ein Markenzeichen des Programms. Die Fernsteuerung durch die EU ist denn auch das Hauptproblem, mehr noch als die ökonomischen Inhalte, die so bekannt sind, dass sie hier nur stichwortartig in Erinnerung gerufen werden:
* Aushebelung des Tarifvertragsrechts, Beschränkung des Streikrechts;
* weiterer massiver Sozialabbau, insbesondere auf dem Gebiet der Renten,
* Erhöhung der Massensteuern und des Steuerdrucks selbst auf kleine und kleinste Einkommen;
* Privatisierung.

Stärker als in den vorangegangenen Memoranden wird ein Umbau der griechischen Verwaltung, ihre „Modernisierung“ und „Entpolitisierung“ angestrebt. Dabei wird tief in die Kompetenzen des griechischen Staates eingegriffen: Das meistgebrauchte Wort des MoU ist „technical assistance“, das nicht weniger als 31 mal auftaucht, so dass Varoufakis es ironisch als Beschäftigungsprogramm für internationale Berater bezeichnet.

● Heerscharen internationaler „Berater“

Wenn auch nur ein Teil davon umgesetzt wird, werden hunderte von internationalen „Beratern“ in die griechischen Regierungseinrichtungen einziehen (mehr als früher), von denen die wenigsten mit den Verhältnissen vor Ort und mit der griechischen Sprache vertraut sein dürften. Die griechischen ‚Counterparts‘, die in den letzten Jahren bis zur Hälfte ihrer Einkommen verloren haben, werden mit hochbezahlten internationalen Fachleuten konfrontiert werden, mit denen sie zusammenarbeiten sollen. Heerscharen von ausländischen Experten werden Reformprojekte anstoßen, die wegen der Unangepasstheit an die lokalen Verhältnisse nicht funktionieren können. Es spricht wenig dafür, dass Varoufakis‘ Wunsch „Mögen sie willkommen sein – trotz der Kosten für die griechischen und europäischen Steuerzahler – und sich als hilfreicher erweisen als ihre Vorgänger in den vergangenen fünf Jahren“ in Erfüllung geht. Wahrscheinlicher sind Konflikte und Reibungsverluste, die selbst nützliche Reformen erschweren.

● Steuerdruck und informeller Sektor

Wie problematisch die ‚Modernisierung‘ des griechischen Kapitalismus nach dem Muster „One-size-fits-all“ ist, kann am Beispiel der steuerpolitischen ‚Reformen‘ des Memorandums gezeigt werden. Während praktisch keine Maßnahmen vorgesehen sind, die darauf abzielen, die Kapital- und Steuerflucht großer Unternehmen und Vermögen zu stoppen (die Erhöhung der Tonnagesteuer für griechische Reeder wird zu Standortverlagerungen führen), liegt der Schwerpunkt der Maßnahmen erneut auf der Verstärkung des Steuerdrucks bei Massensteuern und auf der Verschärfung von repressiven und Strafmaßnahmen, von denen selbst jene Steuerschuldner nicht ausgenommen werden, die tatsächlich mittellos sind.

Die Syriza-Regierung hatte versucht, mit Hilfe eines Mix von Kontrollen und Anreizen dort Steuerrückstände zu mobilisieren, wo dies möglich erschien. Das dritte Memorandum macht diese Maßnahmen rückgängig und setzt einzig und allein auf Repression. Es ist absehbar, dass dies zu einer Verstärkung des Steuerwiderstands und zur weiteren Informalisierung der griechischen Wirtschaft führen wird. Dies ist ohnehin ein Merkmal des griechischen Kapitalismus – die Schattenwirtschaft liegt mit etwa einem Viertel des BIP an der Spitze aller OECD-Länder.

Der Kapitalismus in Griechenland war historisch lange Zeit – als Erbe des Osmanischen Reiches, zu dem Griechenland bis zur Errichtung des neugriechischen Staates im 19. Jahrhundert gehört hatte – durch einen starken Fiskalismus geprägt, d.h. durch die Aneignung des Mehrprodukts über den Staat. Im Instrument der Steuerpacht, die auch noch im neugriechischen Staat verbreitet war, verschmolzen private und staatliche Ausbeutungsmechanismen. Der Kampf um die Verteilung des Mehrprodukts war immer auch eine Auseinandersetzung um Besteuerung, ein Konflikt, der durch die vom Memorandum bevorzugte Methode der Repression und der gewaltsamen Durchsetzung einer unter den gegebenen Verhältnissen exzessiven Besteuerung (inklusive der Eintreibung von Steuerrückständen bei kleinen und kleinsten Grundbesitzern, die über kein Einkommen verfügen und der Erleichterung der Beschlagnahme von Wohnungen) erneut verschärft wird. Der ‚modernisierte‘ Steuerstaat des Memorandums tritt der Masse der Bevölkerung als Ausbeutungsinstanz gegenüber, die ohne Rücksicht auf die soziale Lage rigoros Forderungen eintreibt – Forderungen, die wegen der drastisch verschlechterten sozialen und infrastrukturellen Leistungen des Staates nur als illegitim angesehen werden können.

● Beschädigung öffentlicher Strukturen

Dies wird unweigerlich zu einer Verschärfung des Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft und einer weiteren Deligitimierung des Staates führen. Wie bei den afrikanischen und lateinamerikanischen Strukturanpassungsprogrammen ist die Folge nicht die Modernisierung, sondern die Beschädigung öffentlicher Strukturen. Während der Staat des Memorandums gegenüber der Masse der Bevölkerung einerseits immer repressiver als Steuereintreiber auftritt (nicht gegen die großen Vermögensbesitzer, die sich längst internationalisiert haben), baut er weiter soziale Leistungen ab, schwächt das in Griechenland wichtige soziale Netz der Familien, fördert Privatisierungen selbst im Bildungsbereich und reduziert seine Leistungen.

Damit knüpft das Memorandum an schlechte griechische Traditionen an, denen zufolge der Staat als Repressionsorgan, selten als Dienstleister für die Gesellschaft gesehen wurde. Besonders fatal sind die Entmachtung des Parlaments und die faktische Übernahme der Regierungsgewalt durch EU-Institutionen, also durch ausländische Mächte. Diese Außensteuerung knüpft auf fatale Weise an die griechische Geschichte an, in der von der Aufoktroyierung des Königreichs durch Großbritannien bis zur von den USA geförderten Machtübernahme der Obristen im Jahre 1967 die jeweilige Staatsgewalt im Verbund mit ausländischen Mächten agierte.

Dass die Entmachtung der gewählten Regierung, die Besetzung staatlicher Organisationen durch ausländische „Berater“ und die Unterordnung des Gesetzgebungsprozesses unter die vorherige Kontrolle durch die Gläubigerorganisationen in diese unglückselige Tradition gestellt wird, sollte die Autoren des Memorandums nicht überraschen.

Posted: 14.9.2015

Empfohlene Zitierweise:
Jörg Goldberg, Wiederauferstehung der Strukturanpassung. Griechenland: Der Staat des Memorandums, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 14. September 2015 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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