Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Benevolenter Verfechter von Entwicklung?

Artikel-Nr.: DE20160314-Art.07-2016

Benevolenter Verfechter von Entwicklung?

Die kollektive Amnesie des Westens

Vorab im Web - Die Geschichte vom Westen als dem selbstlosen Vorkämpfer gegen die Armut funktioniert nur, wenn wir uns der kollektiven Amnesie hingeben. Wir sollten aufhören, uns als uneigennützige Vorreiter der Armen auszugeben. Vor allem die Jahrzehnte nach der Überwindung des Kolonialismus warten immer noch auf ihre Aufarbeitung. Sie waren nicht gerade eine ruhmreiche Epoche für die westliche Entwicklungspolitik, schreibt Jason Hickel.

Wenn sie auf internationale Angelegenheiten zu sprechen kommen, lieben es westliche PolitikerInnen, ihr Engagement für Entwicklung zu zelebrieren. In ihrer Flaggschiff-Rede zur Entwicklungspolitik hatte die ehemalige US-Außenministerin Hilary Clinton Geschichten darüber parat, wie die US-Hilfe das Leben armer Menschen in Indonesien, Nikaragua und Südafrika umkrempelt. Der französische Außenminister Laurent Fabius rühmte kürzlich das entwicklungspolitische Engagement seines Landes in den ehemaligen westafrikanischen Kolonien. Und auf dem UN-Gipfel zu nachhaltigen Entwicklungszielen im letzten Jahr sprach David Cameron stolz über die britischen Leistungen in puncto Gewährleistung von „Frieden und Sicherheit“ in den armen Ländern.

● Als Entwicklungsorientierung ein Dorn im Auge war

Doch dieses Narrativ von der westlichen Selbstlosigkeit funktioniert nur, wenn wir uns einer kollektiven Amnesie hingeben. Für eine weniger märchenhafte Version der westlichen Rolle in der Entwicklungspolitik müssen wir auf die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zurück blicken.

Nach dem Ende des europäischen Kolonialismus in Afrika und Asien und mit der kurzen Unterbrechung der US-Interventionen in Lateinamerika im Zeichen der Roosevelt‘schen Good-Neighbor-Politik setzte in den Entwicklungsländern eine rasche Steigerung der Einkommen und eine Verringerung der Armut ein. Seit Anfang der 1950er Jahre orientierten sich Länder wie Guatemala, Indonesien und Iran an dem keynesianischen Modell der gemischten Wirtschaft, das auch im Westen so gut funktioniert hatte. Sie nutzten strategisch Landreformen, um den Kleinbauern zu helfen, Arbeitsgesetze, um die Löhne der Arbeiter zu fördern, Zölle, um die lokale Wirtschaft zu schützen, und die Nationalisierung von Ressourcen, um den öffentlichen Wohnungsbau, das Gesundheitswesen und das Bildungssystem zu unterstützen.

Dieser Ansatz, der als „developmentalism“ (etwa: Entwicklungsorientierung) bekannt war, beruhte auf den beiden Werten der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und sozialen Gerechtigkeit. Er war nicht perfekt, funktionierte aber ganz gut. Nach dem Ökonomen Robert Pollin führten die entwicklungsorientierten Politiken für mindestens 20 Jahre zu hohen Steigerungsraten des Pro-Kopf-Einkommens von durchschnittlich 3,2% - mehr als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt des 20. Jahrhunderts. Im Ergebnis begann die Kluft zwischen dem Westen und dem Rest der Welt erstmals in der Geschichte geringer zu werden. Es war ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger.

Mosaddegh, Arbenz, Goulart – getilgt aus dem kollektiven Gedächtnis

Man möchte meinen, die westlichen Staaten wären durch diesen Erfolg elektrisiert gewesen, doch sie waren gar nicht ‘amüsiert’. Die neue Politik bedeutete, dass multinationale Konzerne nicht länger den leichten Zugang zu billigen Arbeitskräften, Rohstoffen und Märkten hatten, an den sie sich während der kolonialen Ära gewöhnt hatten.

Die Westmächte, vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich, waren nicht gewillt, dem zuzusehen. Statt die entwicklungsorientierte Bewegung zu unterstützen, entfesselten sie eine jahrzehntelange Kampagne zum Sturz gewählter Regierungen und installierten starke Männer, die ihren Interessen freundlich gesinnt waren – eine lange und blutige Geschichte, die fast komplett aus unserer kollektiven Erinnerung getilgt wurde.

Es begann 1953 im Iran. Der demokratisch gewählte Premierminister Mohammad Mosaddegh legte ein breites Spektrum armutsorientierter („pro-poor“) Reformen vor, die teilweise die Rückeroberung der Kontrolle der Ölreserven des Landes von der Anglo-Iranischen Ölgesellschaft (heute: BP) vorsahen. Großbritannien wies diesen Versuch zurück und antwortete umgehend. Mit der Hilfe des CIA stürzte Churchill Mosaddegh in einem Staatsstreich und ersetzte ihn durch einen absolutistischen Monarchen, Mohammed Reza Pahlevi, der Mossadeghs Reformen zurückdrehte und fortan den Iran mit westlicher Unterstützung 26 Jahre lang regierte.

Im folgenden Jahr taten die USA in Guatemala genau das gleiche. Jacobo Arbenz, der zweite demokratisch gewählte Präsident des Landes wollte ungenutzte Teile großer Landbesitztümer an landlose Maya-Bauern verteilen, wobei die Besitzer voll entschädigt werden sollten. Doch die amerikanisch dominierte United Fruit Company war damit nicht einverstanden und drängte Eisenhower zum Sturz von Arbenz. Nach dem Putsch wurde Guatemala 42 Jahre lang von einer US-gestützten Diktatur beherrscht, unter der über 200.000 Mayas massakriert wurden und eine der höchsten Armutsraten Lateinamerikas verzeichnet wurde.

Auch Brasilien traf ein US-unterstützter Putsch; er bestrafte Präsident Goulart für seine Landreformen, Unternehmenssteuern und andere armutsorientierte Maßnahmen, die westlichen Firmen missfielen, und ersetzte ihn durch eine Militärdiktatur, die 21 Jahre überdauerte. Präsident Sukarno in Indonesien wurde wegen ähnlicher Politiken gestürzt und durch eine Diktatur ersetzt, die – mit britischer und US-amerikanischer Unterstützung mehr als eine Million Bauern, Arbeiter und Aktivisten tötete (einer der schlimmsten Massenmorde des Jahrhunderts) und 31 Jahre an der Macht blieb.

● Ein Entwicklungsmodell zu Fall gebracht

Und dann natürlich gab es noch Chile: Die USA halfen, Präsident Allende zu Fall zu bringen, den leise auftretenden Arzt, der höhere Löhne, fairere Renten und soziale Dienstleistungen für die Armen versprochen hatte und durch einen Diktator ersetzt wurde, dessen Wirtschaftspolitik 45% der Chilenen in die Armut stürzte.

Einige Regionen kamen niemals in den Genuss des „developmentalism“, so schnell war der westliche Interventionismus. In Uganda brachte Großbritannien den mörderischen Idi Amin an die Macht, der die fortschrittliche ‚Charta des einfachen Mannes‘ („Common Man’s Charter“) zu Fall brachte, bevor sie umgesetzt werden konnte. Im Kongo wurde Patrice Lumumba, der erste gewählte Führer des Landes, durch Belgien und die CIA ermordet, als klar wurde, er würde die ausländische Kontrolle über die ressourcenreiche Provinz Katanga beschränken. Die Westmächte installierten an seiner Stelle Mobuto Sese Seko – die Karikatur eines korrupten Diktators, der das Land mit Milliarden von Dollars an US-Hilfe fast 40 Jahre lang drangsalierte. Unter Mobutus Herrschaft ging das Pro-Kopf-Einkommen jedes Jahr um 2,2% zurück; die einfachen Kongolesen litten an schlimmerer Armut als unter belgischer Kolonialherrschaft.

In Westafrika weigerte sich Frankreich nach dem Ende des Kolonialismus, die Kontrolle über die Ressourcen der Region aufzugeben. Mit Hilfe eines geheimen franko-afrikanischen Netzwerkes torpedierten sie die ersten Wahlen in Kamerun und installierten einen handverlesenen Präsidenten nach der Vergiftung von dessen Hauptwidersacher. In Gabun installierten sie die Diktatur Omar Bongos und hielten ihn 41 Jahre im Austausch für den Zugang zum Öl des Landes an der Macht.

Wir könnten noch viele Beispiele mehr aufzählen – bis hin zu dem jüngsten, vom Westen unterstützten Putsch in Haiti. Man ist versucht, dies alles als eine einzige Liste von Verbrechen zu sehen, die ernsthafte Zweifel an dem westlichen Anspruch weckt, im Ausland Demokratie und Menschenrechte zu fördern. Doch es ist mehr als das. Es ist Ausdruck einer konzertierten Anstrengung der Westmächte, die entwicklungsorientierte Bewegung zu zerstören, die nach dem Kolonialismus im Globalen Süden aufblühte. Sie wollten einfach keine Entwicklung tolerieren, die ihren Zugang zu Märkten und Ressourcen beschränkt hätte.

Im Ergebnis dieser Geschichte gibt es nun mehr Ungleichheit zwischen dem Westen und dem Rest als am Ende des Kolonialismus. Und 4,2 Milliarden Menschen leben heute noch in erbärmlicher Armut. Niemand wurde wegen der Putsche und Morde, die die viel versprechensten Entwicklungsversuche des Globalen Südens und Unabhängigkeitsträume zunichtemachten, jemals vor Gericht gestellt. Wahrscheinlich wird dies auch niemals geschehen. Doch wir müssen anerkennen, dass die Verbrechen stattfanden und aufhören zu behaupten, dass die USA, Frankreich und Großbritannien benevolente Vorkämpfer der Armen sind.

© The Guardian

Posted: 14.3.2016

Empfohlene Zitierweise:
Jason Hickel, Benevolenter Verfechter von Entwicklung? Die kollektive Amnesie des Westens, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 14. März 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

© Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Die Vervielfältigung von Informationen oder Daten, insbesondere die Verwendung von Texten, Textteilen oder Bildmaterial bedarf der vorherigen Zustimmung der W&E-Redaktion.