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Die Armut, die Weltwirtschaft und die MDGs

Artikel-Nr.: DE20160331-Art.08-2016

Die Armut, die Weltwirtschaft und die MDGs

Ein kritischer Blick nach vorn

Vorab im Web - Ein neues Buch (s. Hinweis) setzt sich kritisch mit den UN-Millennium-Entwicklungszielen (MDGs) aus dem Jahr 2000 auseinander und verbindet dies mit einem Blick auf die neue Entwicklungsagenda, die inzwischen als Sustainable Development Goals (SDGs) bzw. Agenda 2030 den entwicklungspolitischen Diskurs bestimmt. Die Ergebnisse sind für all diejenigen von Interesse, die sich für die Überwindung der weltweiten Armut einsetzen, schreibt Reinhard Hermle.

Aus Unzufriedenheit über die Erfolgsarien über Wirkungen der MDGs, die oft gesungen wurden, führte das Comparative Research Programme on Poverty (CROP) 2012 in Bergen/Norwegen einen Workshop durch, bei dem es um drei erkenntnisleitende Fragen ging: Ist Armut (erstens) tatsächlich im Einklang mit den internationalen rechtlichen und politischen Verpflichtungen gesunken? Welche Rolle spielten (zweitens) die MDGs bei der Erzielung wichtiger Veränderungen? Und welche Erkenntnisse können (drittens) aus der Analyse für eine neue Entwicklungsagenda abgeleitet werden?

● Reformerische bis systemkritische Nachhaltigkeitskonzepte

Die Workshop-Beiträge und –Ergebnisse bilden die Grundlage der 10 Essays, die in dem Buch zusammengefasst sind. Sie versuchen, aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen Antworten auf die dem Workshop gestellten Fragen zu geben, und gliedern sich in drei Kapitel: Die Herausforderung der weltweiten Armut; Konzeption und Weiterführung von Entwicklungszielen; Sozio-politische Alternativen. Dabe wird ein breites analytisches Panorama enfaltet, das von reformerischen bis zu radikalen, systemkritischen Entwürfen für nachhaltige Entwicklung reicht. Übersichtsartikel wechseln mit Beiträgen, die spezifische Aspekte vertiefen, z.B. die Erfahrungen und Persepktiven der Armen durch Feldforschung oder Brasilien als Fallbeispiel.

Auch wenn die Tatsache, dass sich die AutorInnen im Wesentlichen auf Daten bis zum Jahr 2012 beziehen, im Lichte des Anspruchs der Publikation als Schwäche gesehen werden könnte, wäre wahrscheinlich auch auf der Basis der gesamten Laufzeit der MDGs bis 2015 kein substanziell anderer Befund herausgekommen. Die Texte werden abgerundet durch zahlreiche Tabellen und Schaubilder. Ein Index erleichtert dem interessierten Leser die Suche nach spezifischen Informationen.

Schon bei der Suche nach Antworten auf die erste Frage sehen die Forscher beträchtliche methodologische Probleme hinsichtlich der Verfügbarkeit und Verlässlichkeit der Messgrößen und statistischen Grundlagen. Da als Quellen vor allem Weltbank und nationale Regierungen in Frage kamen, vermuten sie einen Trend zu eher optimistischen Ergebnissen bei der Armutsbekämpfung. Schon die von der Weltbank definierte Armutsgrenze (1 Dollar/Tag, 2005 angehoben auf 1,25 Dollar/Tag) sei als Basiswert problematisch weil umstritten, unpräzise und eigentlich unbrauchbar als aussagekräftiger Messwert für Armut. Zwar wird die Erreichung des Ziels, den Anteil der in extremer Armut Lebenden zu halbieren, konzediert, weil – wie sattsam bekannt – allein China durch bemerkenswerte Fortschritte im Kampf gegen die Armut dafür gesorgt hat.

Dieser Befund auf der Basis eines statistischen Durchschnitts verschleiert jedoch die faktisch fortbestehenden krassen Armutsverhältnisse in vielen Ländern des globalen Südens und insbesondere in Afrika südlich der Sahara, wo der Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen noch im Steigen begriffen ist. Daraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, bei künftigen Entwicklungszielen als Maßstab die absolute Zahl und nicht den Anteil der in Armut lebenden Menschen zu wählen, wie es jetzt in den SDGs gemacht wurde.

● Eindimensionales Armutsverständnis

Inhaltlich wird die Eindimensionalität des den MDGs zugrunde liegenden Verständnisses von Armut als Einkommensarmut kritisiert. Dies stelle einen Rückschritt gegenüber dem Armustverständnis des Weltsozialgipfels in Kopenhagen 1995 dar, wonach Ursachen und Folgen von Deprivation, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Mangel an politischer Teilhabe mit einbezogen sein sollten. Würde man von einem solchen Verständnis von Armut ausgehen, wäre die Lage eheblich schlimmer als es die die Zahlen für die Einkommensarmut suggerieren. Dies ergäbe auch bei der Bewertung der Wirkung der MDGs ein völlig anderes Bild.

Die Bedeutung der MDGs als auslösender Faktor für entscheidenden Politikwandel (Frage 2) halten die Forscher für eher begrenzt, da die Rolle staatlichen Handelns und strukturelle Fragen des internationalen Systems sowohl in analytischer wie praktischer Hinsicht ausgeblendet oder nicht hinreichend genug beachtet worden seien. Extreme Armut könne nicht überwunden werden, wenn Staaten an Politiken und Entwicklungsstrategien festhielten, die immer wieder und weiter zur Schaffung von Armut beitrügen.

Genau dies aber geschehe insbesondere in Ländern, die neoliberale und marktradikale Politikansätze verfolgten. Wie Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) und andere identifizieren auch die AutorInnen dieses Buches die global wachsenden Einkommensdisparitäten als das vielleicht größte Hindernis für eine erfolgreiche Überwindung von Armut. Folglich halten sie eine Verbesserung der primären Einkommensumverteilung auf Länderebene durch Lohnpolitik, Transfereinkommen oder progressive Steuern für eine notwendige Flankierung von Strategien der Armusbekämpfung. Solche blieben freilich in vielen Fällen sowohl bei neoliberalen als auch staatsinterventionistischen und keynesianischen Politiken ebenso unterentwickelt wie die Berücksichtigung von Faktoren des Umwelt- und Klimaschutzes und des Faktors Macht und Machtverteilung. Politikgestaltung, die nicht die Wirkung von Machtverhältnissen auf das Entstehen von Verarmung und das Fortbestehen von Armut berücksichtigt, wird im Kampf gegen Armut nur wenig oder lediglich oberflächlich und kurzfristig etwas ausrichten.

Die Grenzen der Armutsbekämpfung

Selbst eine auf Länderebene gut umgesetzte Armutsminderungsstrategie wird wenig dauerhaft erfolgreich bleiben, wenn die internationalen Rahmenbedingungen nicht stimmen. An der ODA-Front hat sich etwas getan, und diese positive Entwicklung kann wahrscheinlich dem durch die MDGs erzeugten Momentum zugeschrieben werden. Anders sieht es jedoch beim internationalen Handel und bei den Investitionsabkommen aus. Hier gebe es Stillstand oder Rückschritte. Entsprechend lautet das Fazit der AutorInnen, dass die unbefriedigende Umsetzung der MDGs hinsichtlich der Armutsbekämpfung nicht zuletzt einem globalen Wirtschaftssystem zuzuschreiben sei, das sich gegen die Interessen der Länder des globalen Südens und die Nöte der in Armut lebenden Menschen richte. Daran habe die MDG-Agenda nichts geändert.

Was die lessons learned und den Ausblick auf die SDG-Debatte (Frage 3) angeht, so orientieren sich die AutorInnen an dem Entwurf der Open Working Group vom August 2014, plädieren für ein erweitertes, multidimensionales Verständnis von Armut, heben insbesondere das besondere Problem der Kinderarmut hervor und drängen auf den Einschluss makroökonomischer Politiken und Maßnahmen, die auf gute Arbeit, gleiche Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen und Systeme einer sozialen Grundsicherung abzielen.

Eine der radikaleren Visionen speist sich aus kapitalismuskritischen Diskursen und mündet in ein Plädoyer für die Einführung eines allgemeinen und bedingungslosen Grundeinkommens für alle. Eine andere tritt in der Tradition sozialstaatlicher Theorien ein für einen starken Staat mit Entwicklungsorientierung und die Versöhnung der Interessen von Mittelklasse und in Armut lebender Menschen im Sinne zunehmender sozialer Solidarität.

Manche Überlegungen der AutorInnen spiegeln sich in den am 25. September 2015 in New York beschlossenen 17 „Zielen nachhaltiger Entwicklung“. Das Buch ist eine wichtige Lektüre für jeden, der sich eingehender mit der Frage befassen will, wie sich weltweite Armut überwinden lässt.

Hinweis:
* Alberto Cimadamore, Gabriele Koehler & Thomas Pogge (eds.): Poverty and the Millennium Development Goals. A critical look forward, 286 pp, Zed Books: London 2016. Bezug: Buchhandel

Posted: 31.3.2016

Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Hermle, Die Armut, die Weltwirtschaft und die MDGs. Ein kritischer Blick nach vorn, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 31. März 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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