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Nachhaltige Lähmung statt nachhaltige Entwicklung

Artikel-Nr.: DE20160719-Art.16-2016

Nachhaltige Lähmung statt nachhaltige Entwicklung

Die Weltwirtschaft zur Jahresmitte

Die wirtschaftliche Aktivität in der Weltwirtschaft bleibt kraftlos und ohne Aussicht auf Besserung im laufenden Jahr. Zu diesem Schluss gelangen gleichlautend zwei Flaggschiff-Reports der Vereinten Nationen und der Weltbank (s. Hinweise). Beide korrigieren ihre Wachstumsprognosen gegenüber dem Jahresbeginn um 0,5% nach unten: Gerademal 2,4% soll das Weltsozialprodukt 2016 zulegen – genauso wenig wie im Vorjahr. Eine Übersicht von Rainer Falk.

Zentrale Ursache dieser De-facto-Stagnation ist für die Autoren des UN-Berichts „World Economic Situation and Prospects“ (WESP) die anhaltende Schwäche der aggregierten Nachfrage in den Industrieländern, während niedrige Rohstoffpreise, steigende Haushalts- und Zahlungsbilanzungleichgewichte und restriktive Politiken die Aussichten für viele rohstoffexportierende Länder in Afrika, in Russland und Lateinamerika weiter gedämpft haben. Hinzu kamen vielerorts extreme Wetterverhältnisse, politische Herausforderungen und Spannungen sowie massive Kapitalabflüsse aus vielen Entwicklungsregionen.

● Vor sich hin dümpelnde Weltwirtschaft

Auch die Verfasser der „Global Economic Prospectives“ der Weltbank diagnostizieren, dass sich die Abwärtsrisiken seit Anfang des Jahres zugespitzt haben und beklagen die negativen Rückwirkungen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer. Während die UN-Autoren jedoch für mehr wirtschaftspolitische Koordinierung und Zusammenarbeit, vor allem unter den stärksten Ökonomien, plädieren, belässt es die Weltbank weitgehend bei der abgedroschenen Forderung nach „Strukturreformen“, die „mittel- und langfristig“ wieder zu mehr Wachstum und „Vertrauen“ der Investoren führen würden. Einig sind sich beide Berichte in der Warnung, dass eine Verstetigung der blutleeren Weltkonjunktur nicht zuletzt die Realisierung der Nachhaltigen Entwicklungsziele gefährden würde – nachhaltige Lähmung statt nachhaltige Entwicklung also.

Außerhalb der OECD-Welt nimmt die wirtschaftliche Entwicklung weiterhin einen differenzierten Verlauf. Hartnäckiger als erwartet ist die Rezession in Brasilien und Russland. Für die Russische Föderation wird 2016 im Gefolge fiskalischer Knappheiten, rückläufigen privaten Konsum- und Investitionsverhaltens und vor allem der andauernden Sanktionen des Westens ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um 1,9% vorhergesagt. In Brasilien wird mit einer Schrumpfung um 3,4% gerechnet, angesichts der politischen Krise des Landes, steigender Inflation, zunehmender Haushaltsdefizite und hoher Zinssätze.

● Der Süden fällt wieder zurück

Das Wachstum in den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) wird 2016 auf höchstens 4,8% und 2017 auf 5,5% geschätzt, beides deutlich unter der 7%-Marge, die in den SDGs als Mindestmaß zur Erreichung der Armutsziele gesetzt wurde. Dies könnte sich negativ für die öffentlichen Ausgaben in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Anpassung an den Klimawandel auswirken und auch Fortschritte bei der Reduzierung der Armut zu Nichte machen.


Das Pro-Kopf-Wachstum ist in vielen Entwicklungsländern besonders stark gefallen. In Afrika rechnet man für 2015-2017 mit einem Wachstum pro Kopf der Bevölkerung von gerade mal 0,4%. In diesem Zusammenhang weisen die „Global Economic Prospects“ der Weltbank darauf hin, dass die wirtschaftliche Abkühlung im Süden auch zu einer abnehmenden Konvergenz zwischen Nord und Süd in der Weltwirtschaft führt, d.h. vor allem die Schwellenländer, deren hohes Wachstum in den letzten Jahren einen starken Aufholeffekt gegenüber den Industrieländern beinhaltete, fallen wieder zurück. „Während vor der Krise (von 2008; RF) ein durchschnittliches Schwellenland erwarten konnte, innerhalb einer Generation das Einkommensniveau der Industrieländer zu erreichen, hat das niedrige Wachstum der letzten Jahre diese Aufholphase um mehrere Jahrzehnte verlängert“, heißt es in dem Bericht.

Nach den Berechnungen der Weltbank konnten die Schwellenländer in den fünf Jahren vor der Finanzkrise davon ausgehen, dass es durchschnittlich 42,3 Jahre bis zur Erreichung des US-Pro-Kopf-Einkommens dauern würde. Inzwischen würde dies angesichts der zurückgegangenen Wachstumsraten 67,7 Jahre dauern. Noch dramatischer ist der Rückfall für die sog. Frontier-Ökonomien im Mittelfeld zwischen Schwellenländern und LDCs. Für sie würde sich die Aufholperiode von 43,1 auf 109,7 Jahre verdoppeln. Es bleibt freilich abzuwarten, wie stark sich diese Tendenz in den nächsten Jahren befestigt. Immerhin zeigt sie, dass der Traum, die Weltwirtschaft würde nach Jahrhunderten der Auseinanderentwicklung wieder zusammenwachsen, nicht für bare Münze genommen werden kann.

● Längerfristige Belastungen

Die stagnativen und Krisentendenzen in der Weltwirtschaft sind kein kurzfristiges Phänomen, sondern dürften zumindest mittelfristig nicht überwunden werden. Auch für 2017 rechnen die UN-Ökonomen nur mit einem minimalen Anziehen des globalen Wachstums auf 2,8%, was deutlich unter dem Vorkrisentrend liegt. Die verlängerte Periode niedrigen Produktivitätswachstums und schwacher Investitionen lastet auch auf dem längerfristigen Wachstumspotential der Weltwirtschaft.

Eine Belastung für die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft bleiben auch die Abwärtsrisiken, die sich jederzeit zuspitzen und eine neue Krise auslösen können. Vor allem die großen Entwicklungsländer bleiben anfällig für die Volatilität der Kapitalflüsse und Wechselkursschwankungen, die sich als Reaktion auf zunehmende Unterschiede in den globalen Zinssätzen intensivieren könnten. Ein weiterer Verfall der Rohstoffpreise könnte die Last des Schuldendienstes vor allem für rohstoffabhängige Länder untragbar machen. Aber auch andernorts wächst die Gefahr neuer Schuldenkrisen, so warnen sowohl die Weltbank als auch die UNO.

● Ein kleiner Lichtblick

Die weltwirtschaftlichen Aussichten sind allerdings nicht überall nur pessimistisch eingefärbt. Ein kleiner Lichtblick liegt für die UN-Ökonomen darin, dass die globalen energiebedingten Kohlenstoffemissionen im Jahr 2015 stagniert haben. Dies verweise auf die mögliche Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Wachstum der CO2-Emissionen, wie sie der WESP Anfang dieses Jahres simulierte (s. W&E 01/2016). Und auch die Investitionen in Erneuerbare Energien erreichten 2015 einen neuen globalen Rekord. Erhöhte Selbstverpflichtungen der Staaten und politische Fördermaßnahmen in vielen Entwicklungsländern trugen dazu nicht unerheblich bei.

Hinweise:
* UN-DESA: World Economic Situation and Prospects (WESP). Update as of mid-2016, 25 pp, United Nations: New York, Juni 2016. Bezug: über www.un.org/en/development/desa (aktualisiert den WESP vom Januar 2016)
* World Bank: Global Economic Prospects. Divergences and Risks, 194 pp, The World Bank Group, Washington DC, June 2016. Bezug: über www.worldbank.org

Posted: 19.7.2016

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Nachhaltige Lähmung statt nachhaltige Entwicklung, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 19. Juli 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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