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Transformation in struktureller Abhängigkeit?

Artikel-Nr.: DE20160923-Art.21-2016

Transformation in struktureller Abhängigkeit?

Trade & Development Report 2016

Vorab im Web - Seit der Verabschiedung der 2030-Agenda durch die Vereinten Nationen redet alle Welt von „struktureller Transformation“; doch kaum einer weiß so recht, was damit gemeint ist. In ihrem neuen Trade & Development Report (TDR) bietet die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) ein Konzept an, wie der neue Slogan zu füllen wäre. Ohne eine politische Generalüberholung der Weltwirtschaft und neue Entwicklungsstrategien im Süden - so das Fazit - ist strukturelle Transformation kaum denkbar. Rainer Falk hat sich den „Flagschiff“-Report angesehen.

Der Ausgangspunkt des TDR 2016 (Untertitel: „Structural transformation for inclusive and sustained growth“; s. Hinweis) ist das schwächelnde Wachstum der Weltwirtschaft, die sich bis heute von der globalen Finanzkrise und der anschließenden Großen Rezession nicht voll erholt hat; in Wirklichkeit erleben wir die bislang schwächste Erholung nach einer großen Krise. Am schwersten belastete bisher die wirtschaftliche Verlangsamung in den Industrieländern das globale Wachstum; doch inzwischen sind auch die Entwicklungsländer von dem Abwärtssog erfasst worden. Um die Weltwirtschaft wieder aufs Gleis zu setzen, fordern die UNCTAD-Ökonomen wirksamere Makropolitiken, eine stärkere Regulierung des Finanzsystems und aktive Industriepolitiken.

● Die aktuelle Schwächeperiode überwinden

„Überall auf der Welt sehen sich die Politiker einer schwierigen Kombination aus sich dahin schleppenden Investitionen, nachlassender Produktivität, stagnierendem Handel, wachsender Ungleichheit und steigender Verschuldung gegenüber“, erklärte UNCTAD-Generalsekretär Mukhisa Kituyi anlässlich der Veröffentlichung des Berichts. Lösungen erforderten „einen ehrgeizigen Neuansatz und keine lauen Reaktionen nach dem Motto Business-as-usual“.

In den Industrieländern, so die Autoren, sind eine zu restriktive Fiskalpolitik und eine vielerorts exzessive Austerität für die seit Menschengedenken schwächste Erholung von einer Wirtschaftskrise verantwortlich – und dies nach einer langen Periode schwachen Lohnwachstums, die zu ungenügender Nachfrage der Haushalte und schwachen Ausgaben für produktive Investitionen geführt hat.

Das Wachstum in den USA wird sich in diesem Jahr auf 1,6% verlangsamen, ähnlich wie in der Eurozone, während die Wirtschaft in Japan weiterhin stagniert. In Großbritannien hatte sich das Wachstum zwar wieder belebt, wird aber durch die Brexit-Entscheidung erneut zurück geworfen, obwohl die daraus resultierenden Ansteckungsgefahren nach wie vor schwierig zu prognostizieren sind.

Der Verlust des wirtschaftlichen Schwungs in den Industrieländern zieht auch die Entwicklungsländer in seinen Bann. Dort wird das durchschnittliche wirtschaftliche Wachstum in diesem Jahr unter 4% liegen, ungefähr 2,5% unter dem Vorkrisenwachstum. Es gibt beträchtliche regionale Unterschiede: Während Lateinamerika in der Rezession ist, wächst Asien langsamer, aber stetig weiter.

Das globale Wachstum insgesamt dürfte in diesem Jahr unter jene 2,5% abrutschen, die 2014 und 2015 erreicht wurden. Doch die UNCTAD-Ökonomen würden sich nicht wundern, würde der Rückgang noch stärker werden. Das Wachstum des Welthandels hat sich sogar noch dramatischer verlangsamt und ist in diesem Jahr auf gerade mal 1,5% gefallen, womit es einen vollen Prozentpunkt unter dem Wachstum des globalen Outputs liegt. Der Bericht argumentiert, dass dies vor allem an der mangelnden globalen Nachfrage und den stagnierenden Reallöhnen liege. Wenn die Politiker den negativen Effekten der ungehinderten globalen Marktkräfte nichts entgegensetzen, könnte eine Wende zum Protektionismus einen Teufelskreis nach unten auslösen.

● Wachsende Profite – schwache Realinvestitionen

„Die Enthusiasten effizienter Märkte hatten versprochen, dass die finanzielle Deregulierung die produktiven Investitionen anschieben würden, doch dieses Versprechen wurde nicht eingelöst“, so der Hauptautor des TDR, Richard Kozul-Wright, der zugleich die UNCTAD-Abteilung für Globalisierung und Entwicklungsstrategien leitet. „Stattdessen gingen steigende Profite einher mit steigenden Dividenden, Rückkaufgeschäften und Firmenfusionen und –aufkäufen (M&A), aber nicht mit neuen Anlagen und Ausrüstungen oder etwa Forschung und Ausbildung.“

Strukturelle Transformation ist nicht denkbar ohne einen starken Investitionsschub. Doch die Konzerne reinvestieren ihre Profite einfach nicht in Produktionskapazitäten, Arbeitsplätze oder sich selbst tragendes Wachstum. Wie Abb. 1 zeigt, sind die Investitionen im privaten Sektor trotz steigender Profitanteile heute in der Tat 3% geringer als vor 35 Jahren, wobei dieses Muster – dem Bericht zufolge – durch die lockere Geldpolitik und die billigen Kredite zur Ankurbelung der Konjunktur noch verstärkt wurde.

1 Privatinvestitionen und Profite in IL, 1985-2015


2 Nettokapitalfluss bei Ländergruppen, 2000-2016


Der Bericht warnt eindringlich davor, dass die Entwicklungsländer in wachsendem Maße anfällig für die volatilen Kapitalmärkte geworden sind, einschließlich spekulativer Blasen und Kapitalflüsse. Auch in den Schwellenländern hat finanzielle Deregulierung stattgefunden; auch dort haben die Konzerne begonnen, das Verhältnis von Profiten zu Investitionen (sog. profit-investment-nexus) zu reduzieren – mit negativen Konsequenzen für langfristiges Wirtschaftswachstum. In Ländern wie Brasilien, Malaysia und der Türkei ist diese Rate seit Mitte der 1990er Jahre stark gefallen, stellt der Bericht fest. Der Nettokapitalfluss der Entwicklungsländer ist nun seit dem 2. Quartal 2014 negativ, wobei in 2015 unter dem Strich rund 650 Mrd. Dollar abflossen und im ersten Quartal 2016 nochmal 185 Mrd. Dollar (s. Abb. 2).

Die UNCTAD warnt, dass trotz einer gewissen Beruhigung im zweiten Quartal 2016 das Risiko deflationärer Abwärtsspiralen bestehen bleibt: Kapitalflucht, Währungsabwertungen und zusammenbrechende Anlagepreise könnten das Wachstum weiter behindern und die Regierungseinnahmen einschränken. Mehrere Rohstoffexporteure sehen sich bereits einer schwierigen Schuldenlage gegenüber, und ohne ein geordnetes Schuldenerleichterungsverfahren könnte sich die Lage schnell zuspitzen. Alarmierend ist vor allem die Explosion des Niveaus der Unternehmensschulden in Schwellenländern, die sich inzwischen auf über 25 Billionen Dollar belaufen.

Hinzu kommt, dass die Explosion der Unternehmensschulden einher ging mit der Akkumulation von Finanzanlagen und der Umlenkung von Investitionen in hochgradig zyklische und rentenintensive Sektoren, die für den Aufholprozess nur von geringer strategischer Bedeutung sind, etwa der Öl- und Gassektor, der Bergbau, Elektrizität, Immobilien und außerindustrielle Dienstleistungen. Der Bericht plädiert für die Schließung von Steuerschlupflöchern für Konzerne, kombiniert mit fiskalischen und regulatorischen Maßnahmen zur Ermutigung langfristiger Investitionen.

● Binnennachfrage Schlüssel zu globalem Wachstum

Im Zentrum einer wirksameren Makropolitik hat nach Auffassung der UNCTAD-Ökonomen die Wiederbelebung der heimischen Nachfrage zu stehen. Die Industrieländer können dazu beitragen, nachhaltiges globales Wachstum anzustoßen, indem sie eine proaktive Fiskalpolitik (unter Einschluss von Infrastrukturinvestitionen) mit einer unterstützenden Geldpolitik und Umverteilungsmaßnahmen kombiniert, so der TDR. Zur Umverteilungspolitik gehören Einkommenspolitik, Mindestlohngesetze, progressive Besteuerung und wohlfahrtsfördernde, auf die lokalen Bedingungen zugeschnittene Sozialprogramme.

Auch die Entwicklungsländer sollten dem Bericht zufolge die Binnennachfrage stärken und Regulierungsinstrumente nutzen, um sich vor den Risiken der Finanzialisierung zu schützen, und ihren politischen und fiskalischen Spielraum bewahren, um unvorhergesehene ökonomische Schocks zu managen. Viele dieser Maßnahmen bedürfen allerdings einer besseren Politikkoordination auf internationaler Ebene, vor allem zwischen den systemisch wichtigen Ökonomien der G20.

● Strukturelle Transformation im Süden

Angesichts der stotternden Entwicklung der Weltwirtschaft und des Übergreifens des Abwärtssogs auf den Süden werden auch Aufholprozesse („Catching up“) in der Weltwirtschaft wieder schwieriger und stellt die These von der Konvergenz zwischen Entwicklungs- und Industrieländern im Zeichen der Globalisierung erneut in Frage. Der aktuelle TDR bilanziert deshalb die bisherige industrielle Entwicklung des Südens und fragt nach den entwicklungsstrategischen Konsequenzen für heute.

Nach dem Bericht haben einige Regionen, vor allem Ostasien, die Entwicklung von Produktivität und Einkommen durch den Aufbau starker industrieller Exportsektoren erfolgreich vorangetrieben. Im Ergebnis stieg dort der Anteil der Verarbeitenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt auf über 30%. Dies konnte andernorts jedoch nicht wiederholt werden, selbst nicht in den Nachbarländern Südostasiens, wie der Report zeigt.

Wiederum andernorts ist die Industrialisierung stecken geblieben, wobei es in Ländern mittleren Einkommens zunehmend schwieriger wird, die nächste Stufe wirtschaftlicher Entwicklung zu erreichen (sog. middle-income-trap). In mehreren Fällen fand eine „verfrühte Deindustrialisierung“ statt, oft ausgelöst durch drastische Politikwechsel, die unangebrachtes Vertrauen in die Märkte setzten. In diesen Fällen gingen lange Perioden des Rückgangs oder der Stagnation der Produktivität einher mit dem Rückgang des Anteils des verarbeitenden Sektors an Produktion und Beschäftigung und einem scharfen Fallen der Investitionen, vor allem im öffentlichen Sektor. Nicht zuletzt deshalb halten die UNCTAD-Autoren auch nichts von den konventionellen Ratschlägen zu Strukturreformen. Diese kombinieren oftmals eine überbewertete Währung mit dem Druck auf die Löhne und erzielen so keine nachhaltigen Ergebnisse.

● Exportmodelle an den Grenzen

2014 kam Asien alleine für 90% der Exporte verarbeiteter Güter aus den Entwicklungsländern in die restliche Welt auf und für 93% des Süd-Süd-Handels mit verarbeiteten Produkten. Vor allem Länder aus Ost- und Südostasien waren in der Lage, aus ihren Fertigwarenexporten signifikanten Mehrwert zu ziehen. Dennoch ist dieses Modell heute weniger erfolgsversprechend. Die schwache aggregierte Nachfrage rund um die Welt hat die Exportmärkte umkämpfter gemacht und die Konkurrenz verschärft. Der Abwärtsdruck auf Preise und Löhne hat selbst die erfolgreichsten asiatischen Exporteure getroffen. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze, vor allem für Frauen, ist ins Stocken geraten.

Technologisches Upgrading und Mengenvorteile in bestimmten Industrien können Lösungen bieten. Doch die Reichweite globaler Wertschöpfungsketten, in denen die führenden Firmen über eine signifikante Verhandlungs- und Preissetzungsmacht verfügen, macht es für Firmen aus Entwicklungsländern schwierig, auf Märkten in ökonomisch folgerichtiger Weise Fuß zu fassen, während Produktivitätszuwächse durch niedrige Preise wieder verloren gehen können.

● Eine neue Industriepolitik

Die Entwicklungsländer brauchen nach Auffassung der UNCTAD-Ökonomen eine strategische Politik, um ihre Produktions-, Design- und Marketingkapazitäten auszubauen, wenn sie auf den Märkten der Industrieländer Fuß fassen wollen. Eine entwicklungsorientierte Wettbewerbspolitik und Regeln können dazu beitragen, die einheimischen Produzenten zu fördern. Doch eine globale Unterstützung bei der Aufspürung von sektoralen Trends in verschiedenen Bereichen von Wertschöpfungsketten und die Überwachung restriktiver Geschäftspraktiken wären ebenfalls hilfreich. Regionale Märkte und der Süd-Süd-Handel bieten auch neue Exportchancen. Eine ausgeglichene Wachstumsstrategie sollte jedoch den lokalen Märkten stärkere Aufmerksamkeit schenken.

Angesichts des schwierigeren globalen Umfeldes sollten die Entwicklungsländer nicht auf eine schnelle Rückkehr zu dem schnellen Wachstum zählen, das sie in den ersten Jahren des neuen Millenniums genießen konnten. Zu wirklichen Lösungen sind ehrgeizige, aber pragmatische Antworten notwendig, darunter eine Verschiebung von Ressourcen in diversifiziertere Aktivitäten mit höherem Wertschöpfungsgrad.

UNCTAD plädiert schon lange für eine bewusste Industriepolitik in den Entwicklungsländern – einschließlich der Auswahl und der Unterstützung von Schlüsselsektoren durch den Staat. Doch der diesjährige TDR argumentiert für einen verfeinerten Ansatz unter Einschluss des Aufbaus von Linkages und Kapazitäten, um in einer sich schnell wandelnden Welt eine leistungsfähige Produktionsbasis zu schaffen, in der ausreichender Spielraum für Experimentieren und Lernen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, zur Verfügung steht.

Das ist übrigens nicht nur eine Angelegenheit für Entwicklungsländer, sondern auch für die Industrieländer, die mit postindustriellen Befürchtungen einer säkularen Stagnation und einem Niedergang der Mittelklassen zu kämpfen haben. Der Bericht ruft die Politiker zu einem pragmatischeren und weniger ideologischen Herangehen auf. So seien fähige und stabile Regierungsinstitutionen ebenso wichtig wie angemessene öffentliche Ressourcen. Doch auch der Dialog zwischen Regierung und Wirtschaft ist wesentlich. Wesentlich sei z.B. auch, dass der Staat willens und in der Lage ist, seine finanzielle Unterstützung zurückzuziehen oder auszusetzen, wenn die Wirtschaft nicht liefert.

Hinweis:
* UNCTAD: Trade and Development Report 2016: Structural Transformation for Inclusive and Sustained Growth, 214 pp, United Nations: New York and Geneva 2016. Bezug: über www.unctad.org

Posted: 23.9.2016

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, Transformation in strukturellen Abhängigkeit. Trade & Development Report 2016, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 23. September 2016 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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