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Die politische Ökonomie des Kapitalozän

Artikel-Nr.: DE20170305-Art.06-2017

Die politische Ökonomie des Kapitalozän

150 Jahre "Das Kapital" von Karl Marx

Vorab im Web - In seinem Hauptwerk „Das Kapital“, dessen Erscheinen sich 2017 zum 150. Male jährt, hat Karl Marx vieles nicht thematisiert, was den Zeitgenossen heute auf den Nägeln brennt. Aber er hinterließ tausend Hinweise, wie die Widersprüche, Krisen und Konflikte der Globalisierung von heute zu begreifen sind. Er entfaltete mächtige Kategorien, mit denen die heutigen Probleme der Welt besser verstanden werden können, als mit den gängigen Theorien, erscheinen sie nun neoliberal-neoklassisch gewandet oder postmodern aufgemotzt, schreibt Elmar Altvater.

Marx bezeichnete 1857 in den „Grundrissen“ der Kritik der politischen Ökonomie, also bereits zehn Jahre vor Erscheinen des ersten Bandes des „Kapital“, die Schaffung des kapitalistischen Weltmarkts als die Realisierung einer dem Kapital innewohnenden „propagandistischen Tendenz“. Zwar hat er sich dann in seinem Hauptwerk auf England konzentriert und akribisch den Produktionsprozess des Kapitals studiert (im ersten Band des „Kapital“, der zuerst 1867 vor genau 150 Jahren erschienen ist), immer mit der Maßgabe, sich dem Zirkulationsprozess, allen Dimensionen und Facetten des Gesamtreproduktionspozesses und in dem Zusammenhang auch sehr gründlich dem sich seit dem 15. Jahrhundert herausbildenden Weltmarkt, kolonialer und später imperialistischer Ausbeutung, den Ungleichheiten und den „Weltmarktungewittern“ zuzuwenden.

● De te fabula narratur

Das war ein Programm, das in der Lebensspanne des normalen Sterblichen nicht eingelöst werden kann, auch nicht von Karl Marx. Doch hat er tausend Hinweise hinterlassen, wie das Kapital autopoetisch den Weltmarkt hervorbringt und wie heute die Widersprüche, Krisen und Konflikte der Globalisierung zu begreifen sind. Das „Begreifen“ hat er niemals nur als theoretische Kontemplation, sondern immer auch als praktisch eingreifende Kritik verstanden.

Berühmt geworden ist sein an den deutschen Leser gerichtetes Vorwort des „Kapital“: „De te fabula narratur“, Deine Geschichte wird hier erzählt, wenn die Dynamik der Kapitalakkumulation und ihre Krisen im zu seiner Zeit fortgeschrittensten Land der kapitalistischen Welt thematisiert wird. Denn da auf der britischen Insel ebenso wie auf dem Kontinent, in Asien, Afrika und Nordamerika Kapitalismus herrscht, bestimmen auch dessen Widersprüche, Krisen, Konflikte des deutschen Lesers gesellschaftliches Leben und daher auch dessen in Klassenkonflikten gemachte Zukunft.

Dass das fortschrittliche England Deutschland eine Lektion erteilen kann, klingt fast wie das Versprechen der Modernisierungstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Diese haben nichts als varieties of capitalism, best practices und das Aufholen und Einholen der entwickelteren Nationen im Kopf. Für die heute verbreitete „vergleichenden Kapitalismusforschung“ interessiert sich Marx jedoch nicht. Ihm ging es nicht um Blaupausen für eine im globalen Wettbewerb angestrebte Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Standorten. Das ist die politische Schneise, auf der sich Standortpatriotismus und neue Nationalismen in den Vordergrund der politischen Bühne schieben und die „Kritik der politischen Ökonomie“ – so lautet ja der Untertitel des „Kapital“ - in den nicht einsehbaren Hintergrund verdrängen.

● Der ‚Springpunkt‘ der Kapitalismusanalyse

Marx interessiert sich vielmehr, das schreibt er gleich zu Beginn des „Kapital“, für den „Springpunkt“ der kritischen Kapitalismusanalyse, und das ist der Doppelcharakter der Arbeit. Alles ökonomische Tun, in der Produktion, Zirkulation und im Austausch hat einen doppelten Charakter. Arbeit produziert Gebrauchswerte zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, seien sie notwendig oder auch nicht, und Tauschwerte, die im modernen Kapitalismus gegen Geld, am besten mit einem Mehrwert verkauft werden können, gleichgültig an wen und wo auch immer. Nur wegen des Doppelcharakters ist die Expansion des Kapitals über alle Grenzen von Raum und Zeit, von Politik und Kultur, von Anstand und Moral überhaupt möglich geworden. Das Kapital hat bekanntlich weder Vaterland noch Muttersprache; es hat sich ein Weltsystem mit lingua franca und einer world culture in der Retorte der Klassenkämpfe gemixt.

So wenig linguistische, politische, kulturelle Eigenheiten und Traditionen gelten, so wenig kümmert sich das Kapital um die Natur, obwohl sie doch wegen des Doppelcharakters allen Tuns gar nicht wegzudenken ist. Sie zählt nur als Ressourcensammlung der Tauschwertproduktion, der Inwertsetzung. Am besten ist es, wenn die Natur, wie Marx schreibt, als „Gratisgabe“ angeeignet werden kann. Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen zur grenzenlosen Tauschwertproduktion. Auch das letzte Fleckchen auf Erden muss in Wert gesetzt werden, so billig wie es eben geht. Es waren „four cheaps“, schreibt Jason Moore in seiner Analyse des Kapitalismus als globales ökologisches System, die den ökonomischen Aufschwung der vergangenen Jahrhunderte ermöglicht haben: Billige Arbeit, billige Energie, billige Lebensmittel und billige Rohstoffe. Auf dieses für die kapitalistische Welt so bequeme Füllhorn der four cheaps zurückgreifen zu können, ist das Mantra.

● Der Weltmarkt und die Transformation des Planeten

Unter dessen Banner wird der Weltmarkt hergestellt, nicht nur von ehrbaren und friedfertigen Kaufleuten, sondern mit roher Gewalt, unter dem Glorienschein imperialer Kultur und mit dem Segen der christlichen Kirchen. Doch wegen des Doppelcharakters der Arbeit und der Produktion von Gebrauchswerten, die nur zustande kommen, wenn Stoffe und Energien transformiert werden, wird bei der Herstellung des Weltmarkts auch der Planet Erde transformiert. In der unüberschaubar gewordenen Globalisierungsliteratur ist es ein blinder Fleck, dass diese Transformation nicht nur ökonomischen, sondern auch Naturgesetzen folgt. Das sind vor allem die Gesetze der Evolution und die Hauptsätze der Thermodynamik. Letztere besagen, dass im Zuge der Stoff- und Energietransformation die Entropie steigt; was einst als Gebrauchswert zur Befriedigung von Bedürfnissen zur Verfügung stand, ist nur noch Abfall, Abluft, Abgas.

Bei der Aneignung der Gratisgaben der Natur wurden – wie die Ökonomen sagen – „external economies“ (die Gratisgaben der Natur) genutzt, bei der Stoff- und Energietransformation sind aber viel größere „external diseconomies“ (Umweltschäden und -katastrophen) entstanden. Nur sind es verschiedene Klassen und Völker in verschiedenen Weltregionen und verschiedene Generationen, die die external economies ernten und Schäden zu ertragen haben und für die external diseconomies aufkommen müssen.

Marx hat diese Dimension des Klassenkonflikts auf globaler oder planetarischer Ebene nicht zum Thema gemacht. Zu seiner Zeit brannten die Schäden, die durch die Globalisierung der kapitalistischen, imperialen Lebensweise in Produktion und Konsumtion verursacht werden, noch nicht so auf den Nägeln wie heute. Aber heute könnte man ein Werk wie das von Friedrich Engels über die Lage der arbeitenden Klassen in England gar nicht mehr schreiben, ohne auf Ressourcengrenzen, auf Peakoil, die Überfischung der Ozeane, das Artensterben und vor allem die Klimakatastrophe einzugehen. Marx hat all dies im „Kapital“ nicht angesprochen. Doch hat er mächtige Kategorien entfaltet, mit denen die heutigen Probleme der Welt besser begriffen werden können, als mit den gängigen Theorieansätzen, erscheinen sie neoliberal-neoklassisch gewandet oder als Varianten keynesianischer Lehre, neo-institutionalistisch oder postmodern aufgemotzt.

● Anthropozän oder Kapitalozän?

Wie theoretisch ertragreich und politisch brisant die Marx‘schen Kategorien sind, hat die Vielfalt der Imperialismus- und Weltmarktanalysen des 20. Jahrhunderts mehr als deutlich gemacht. Doch heute müssen wir begreifen, warum, wie sehr und mit welcher Zukunft wir bei unserem Produzieren und Konsumieren, in Arbeit und Leben die Natur des Planeten Erde kaputt machen. So sehr, dass die Stratigraphen unter den Geologen das zerstörerische menschliche Wirken in den Gesteinsschichten der Erde nachweisen können und daher seit ihrem Jahrestreffen 2016 den Beginn eines neuen Erdzeitalters, des Anthropozän deklariert haben.

Doch haben die Menschen in Nord und Süd, Mann und Frau, die verschiedenen Klassen, die Ein Prozent Superreichen und die vielen Armen in gleicher Weise die Ruinierung des Planeten zu verantworten? Wohl kaum, wir müssen differenzieren. Die immensen und noch niemals in der Menschheitsgeschichte dagewesenen Veränderungen des Planeten sind getrieben mit der gegenüber dem Gebrauchswert gleichgültigen Triebkraft des Tauschwerts, weiterentwickelt als Kapitalform, mit den Krisen und Klassengegensätzen.

Wir müssen die Kategorie des Doppelcharakters ernster nehmen als dies in den geläufigen Theorieansätzen geschieht. Und in den Politikansätzen auch, im Welthandel und bei dessen Regulation durch TTIP, CETA, EU etc., im Weltfinanzsystem bei dessen zerstörerischen Krisen. Im Anthropozän könnte die insgesamt verantwortliche Menschheit den Versuch machen, mit Hilfe eines intelligenten Geoengineering die aus dem Ruder gelaufenen Dinge wieder ins Lot zu bringen. Das wäre vergleichbar der strangulierenden Austeritypolitik als Lösung für die Finanzkrise. Im Kapitalozän müsste die gesellschaftliche Kapitalform in allen ihren Verästelungen verändert werden, um dem Planeten, dem Globus, den menschlichen Gesellschaften auf ihm eine lebenswerte Zukunft zu öffnen.

Poested: 5.3.2017

Empfohlene Zitierweise:
Elmar Altvater, Die politische Ökonomie des Kapitalozän. 150 Jahre "Das Kapital" von Karl Marx, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 5. März 2017 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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