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Eine Entwicklungsagenda statt Sicherheitspolitik

Artikel-Nr.: DE20170305-Art.05-2017

Eine Entwicklungsagenda statt Sicherheitspolitik

EU-Migrationspolitik und Afrika

Vor einem Jahr verließ der 22 Jahre alte Patrick Douala, die größte Stadt Kameruns, um Fußballstar in Europa zu werden. Als talentierter Mittelfeldspieler und ehrgeiziger junger Mann war Patrick überzeugt, Europa würde ihm helfen, seine Träume zu realisieren. Doch als er in Agadez/Niger, ein Haupttransitpunkt für Migranten, die die zentrale Mittelmeerroute nehmen, erwies sich die Realität als schlimmer denn erwartet. Von Nassim Majidi und Herve Nicolle.

Patrick und zwei männliche Verwandte, die sich auch aus Douala aufmachten, wurden von organisierten Kriminellen angegriffen, ausgeraubt und gefangen gehalten. Schließlich endete ihre abenteuerliche Reise in Algerien, wo sie in ein lokales Polizeigefängnis kamen. Sie wurden im Rahmen eines von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) finanzierten Rückkehrprogramms nach Niger zurückgebracht. Patrick war verzweifelt. „Wir wissen nicht, was wir unseren Leuten in Douala erzählen sollen. Sie alle haben Geld für unsere Reise gespart, und wir alle sind gescheitert,“ erklärte er uns. Er ist einer von 350.000 meist westafrikanischen Migranten, die sich 2016 über Agadez auf den Weg nach Libyen oder Algerien machten. In Reaktion auf den Zufluss verhandelte die Europäische Union einen Vertrag mit Niger im Rahmen des Migration Partnership Framework, um “den Fluss irregulärer Migranten zu drosseln”.

● Lösungen für den ‚Migrationsdruck‘

Über ein Jahr nach dem Gipfel in Maltas Hauptstadt 2015 traf sich die EU-Spitze Anfang Februar erneut in La Valletta, um sich mit den „Ursachen der Migrationsbewegungen“ entlang der zentralen Mittelmeerroute zu beschäftigen und „Lösungen für den Migrationsdruck“ auf Europa zu finden. In ihrem letzten Versuch, „Menschenhandel und illegale Migration“ einzudämmen, hat die italienische Regierung kurz vor dem Treffen 215 Mio. US-Dollar an Niger, Libyen und Tunesien zugesagt. Von diesen Transitländern wird erwartet, dass sie Grenzpatrouillen einrichten und die Flüchtlinge vom Erreichen der europäischen Küsten abhalten.

Das diesjährige Treffen endete mit der Deklaration von Malta, die zur „Unterstützung der libyschen nationalen Küstenwache“ aufruft, und „illegale Zuwanderung in die EU“ zu verringern, ein Ansatz, der von Ärzte ohne Grenzen als „wahnhaft“ in einem Land bewertet wird, in dem Migranten missbraucht werden und Gewalt und Ausbeutung erfahren.

Die derzeitigen reaktiven Maßnahmen haben insbesondere die Migrationsstrategie der EU gegenüber Partnern in Westafrika geprägt. Unsere jüngsten Recherchen in Niger deuten aber darauf hin, dass sie auf falschen Annahmen beruhen.

● Migration als eine “Anomalie”

Erstens sind es nicht die Ärmsten der Armen, die auswandern. Viele sind wie Patrick gebildet und verfügen für ihre Reise über eine Summe, die einem jährlichen Durchschnittslohn in Kamerun entspricht. Rein ökonomische Ansätze zur Zurückdrängung der Migration durch die Reduzierung der Armut und die Schaffung von Arbeitsplätzen werden das Problem wieder kurz- noch langfristig ändern, wenn nicht andere Triebkräfte berücksichtigt werden.

Zweitens folgt die Entscheidung zur Migration nicht ausschließlich Kosten-Nutzen-Erwägungen. Die Verlockung des „Möglichen“ spielte eine signifikante Rolle in der Entscheidung von Patrick und seiner Familie, und zwar unabhängig von den verfügbaren Informationen, der Risiken, Restriktionen und Hindernisse. Somit blenden Erklärungen, die solche Entscheidungen, die man nur einmal fällt, auf rein rationale Gründe zurückführen, nicht unmittelbar greifbare Ursachen aus, wie individuelle Bestrebungen, soziale Exklusion und kulturelle Hintergründe, die insgesamt zu der Entscheidung auszuwandern beitragen.

Schließlich tendieren Geber und Staaten dazu, Entwicklung immer nur innerhalb von Grenzen und Nationalstaaten zu denken. Durch diese Brille wird Migration als eine Anomalie wahrgenommen, die durch die Wiederherstellung des Status-quo-ante korrigiert werden muss. Die Schließung des Migrationszyklus wird zum Hauptinstrument in einer solch einseitigen Entwicklungsperspektive, in der nördliche Länder formulieren, welches die „Lösungen“ sind, und sie dann in den südlichen Ländern umsetzen.

Doch was ist, wenn Migration die Norm ist und nicht die Abweichung von der Norm? Und was wäre, wenn das zugleich eine Lösung für die derzeitige sog. Migrationskrise wäre? Wir müssen kritischer denken, um unsere Verantwortung wirkungsvoll wahrzunehmen.

Die Zirkulation von Menschen, Vieh und Gütern stand historisch gesehen im Zentrum der sozio-ökonomischen Strukturen Subsahara-Afrikas. Die Fähigkeit umherzuziehen steht nicht nur im Zentrum des Überlebens für die meisten Subsistenzgemeinschaften in der Region, sondern auch eine zentrale kulturelle, soziale und wirtschaftliche Antriebskraft – trotz der Errichtung von Grenzen.

So ist auch Migration über Agadez kein Novum. Die Stadt ist historisch bekannt für ihren Transsahara-Handel, hat immer – unabhängig von politischen Grenzen – als Kreuzung zwischen Subsahara-Afrika, Niger und Nordafrika gedient. Neu ist, dass europäische Länder die Kontrolle über legale Migrationswege ausüben, die regionalen Dynamiken durch Macht und ökonomischen Einfluss und im Prozess der Zerstörung lokaler Ökosystem umgestalten. Der EU-Ansatz gegenüber Mobilität scheint direkt durch einen Entwicklungsansatz beeinflusst zu sein, der auf der Annahme basiert, dass Entwicklung unerwünschte Migration stoppen sollte und wird.

● Was also ist die Alternative?

Die EU muss einen transnationalen Ansatz unterstützen und transformative Interventionen mit einem klaren Entwicklungsansatz verknüpfen, der an die Stelle der derzeitigen Sicherheitsagenda tritt. Ein Geber, den wir für unsere Recherchen in Agadez interviewten, argumentierte überzeugend und gegen die eigene Intuition: „Sie (die afrikanischen Länder) sollten das Geld der europäischen Steuerzahler für Straßen und Infrastruktur ausgeben. Der Bau einer Autobahn in der Wüste mag in Europa nicht populär sein, aber er ist wahrscheinlich der beste Weg zur Entwicklung der Region, zur Begünstigung des grenzübergreifenden Wirtschaftsaustausches und zur Linderung des Risikos endloser Tragödien in der Wüste oder im Mittelmeerraum.“

In einem solchen Szenario würden junge Leute wie Patrick nicht ein volles Jahreseinkommen verlieren oder mit tödlichen Bedrohungen während der Reise konfrontiert sein. Solch eine Investition wird zu mehr natürlicher und sicherer Migration zwischen den Ländern Subsahara-Afrikas und ihren nördlichen Nachbarn auf dem Kontinent führen, wie es die Geschichte hindurch der Fall war.

Nassim Majidi ist Gründer und Kodirektor des Think Tanks Samuel Hall, Forscher am CERI von Sciences Po und am African Centre for Migration and Society an der Witwatersrand University in Südafrika. Hervé Nicolle ist Gründerin, Kodirektorin und Chefökonomin bei Samuel Hall. Ihr Text erschien zuerst auf english.aljazeera.net.
Poested: 5.3.2017

Empfohlene Zitierweise:
Nassim Majidi/Hervé Nicolle, Eine Entwicklungsagenda statt Sicherheitspolitik, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 5. März 2017 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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