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Der Oxfam-Skandal - Ein multiples Lehrstück

Artikel-Nr.: DE20180319-Art.05-2018

Der Oxfam-Skandal - Ein multiples Lehrstück

Die Besten oder die Schlechtesten?

Vorab im Web - Die Beschuldigungen gegen Oxfam-Mitarbeiter wegen sexuellen Missbrauchs kamen ans Licht, weil Oxfam eines der besten Berichtssysteme in der Hilfeindustrie hat. Sexuelle Belästigung, Ausbeutung und Übergriffe sind im gesamten Hilfesektor an der Tagesordnung, von der kleinsten Freiwilligenorganisation bis zu den größten UN-Organisationen. Der Oxfam-Skandal verweist somit auf ein systemweites Problem, das einen radikalen Wandel in der institutionellen Kultur erfordert – nicht die Abstempelung einer besonderen Organisation zum Sündenbock, schreibt Dyan Mazurana.

Heute ist Oxfam die Zielscheibe weltweiter Verurteilung, weil, so die Behauptung, Mitarbeiter angestellt wurden, die sich sexuellen Fehlverhaltens schuldig gemacht haben, und diese Missetaten hernach unter den Teppich gekehrt wurden. Doch Realität ist, das Oxfam Global heute eine der besten internationalen Hilfsorganisationen ist, wenn es um die Berichterstattung, die Untersuchung und das Vorgehen gegen sexuelle Belästigung, Ausbeutung und Missbrauch seitens seiner Mitarbeiter geht. Meine Kollegin Phoebe Donelly und ich haben kürzlich eine zweijährige Studie zu sexuellen Belästigungen und Übergriffen von humanitären Hilfskräften und Entwicklungshelfern durchgeführt (s. Hinweis). Unsere Ergebnisse werfen ein wichtiges Licht auf die heutigen Krisen um Oxfam und den humanitären Sektor.

● Drei Lehren

Es gibt drei wichtige Lehren aus diesen Recherchen:

Erstens ist die Frage sexueller Belästigung, Ausbeutung und Übergriffe ein sektorweites Problem. Das ist ein lauter Weckruf an die humanitäre Hilfeindustrie. Die Zeit ist um! Wir stellten fest, dass sexuelle Belästigung und Übergriffe durch Hilfepersonal weit verbreitet ist, wobei viele Opfer mehrfache Erfahrungen mit Missbrauch berichteten. Doch dies bleibt stark unterberichtet und wird zu wenig anerkannt. Die besten Daten kommen von einer groß angelegten Befragung (mit 1005 Rückmeldungen) durch das Women’s Humanitarian Network, welches herausfand, dass 24% der Antwortenden berichteten, während eines humanitären oder entwicklungspolitischen Einsatzes sexuell belästigt worden zu sein. Frauen stellen die große Mehrheit des Hilfepersonals, das Opfer sexueller Belästigung und Übergriffe ist. Auch Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Hilfskräfte berichteten von sexuellen Belästigungen, Beleidigungen, Drohungen und Übergriffen. Die Opfer kommen aus unterschiedlichen Nationen und haben verschiedene Bildungsniveaus und Erfahrungen.

Zweitens ist wie in den berichteten Oxfam-Fällen die große Mehrheit der Täter männlich. Sie sind im Vergleich zu ihren Opfern oft in Leitungs- oder höheren Positionen. Männliches Sicherheitspersonal stellt eine andere Tätergruppe.

Drittens gibt es in wenigen Hilfsorganisationen ein formelles Training, eine Politik und Prozeduren zur Vorbeugung, Untersuchung und Reaktion auf sexuelle Übergriffe, und selbst wenn, dann werden sie oft nicht befolgt. Wir stellten fest, dass weibliches und LGBT-Hilfskräfte, die berichteten, oftmals unzufrieden mit der Antwort ihrer Organisationen waren. In der Tat hatten oft sie negative berufliche und persönliche Konsequenzen zu tragen und nicht ihre Belästiger, die oft in ihren Positionen verblieben und ihre Untaten ungestraft fortsetzen konnten. Selten praktizierten die Organisationen die Art von Fürsorge und Reaktion, die die Opfer gebraucht hätten. Viel öfter wurden die Opfer beschuldigt, entlassen, auf schwarze Listen gesetzt und stigmatisiert.

● Gute Regeln – viele Berichte

Im Rahmen unserer Forschungen fragten wir die Leute nach best practices beim Umgang mit sexueller Belästigung und Übergriffen in diesen Organisationen. Die interviewten Leute erwähnten wiederholt das Oxfam-Safeguarding-Team, das wir in unserem Bericht als best practice hervorhoben. Jetzt kommen die Anschuldigungen ans Licht, und wir stehen zu dieser Einschätzung.

Es gibt einen einfachen Grund, warum Hilfsorganisationen (wie Unternehmen oder Regierungen), die die besten Berichtsregelungen für sexuelle Verfehlungen haben, auch die höchsten Berichtsraten in Bezug auf diese Verbrechen haben. Wenn ein Opfer eines Verbrechens kein Vertrauen hat, dass ihr Bericht ernst genommen, sensibel und vertraulich besprochen und danach gehandelt wird, wird sie einfach schweigen. Deshalb haben beispielsweise Schweden und Kanada höhere Berichtsraten bei sexueller Gewalt als der Süd-Sudan oder Libyen.

Ich glaube fest daran, dass wir das heute auch in der Welt der Hilfe sehen. Oxfam Global hat eines der besten Safeguarding-Teams unter den internationalen Organisationen überhaupt. Im Ergebnis wissen seine Mitarbeiter, wie Missbrauchsfälle zu berichten sind und sind bereit, dies zu tun, während die Organisation Teams hat, die untersuchen und reagieren. Sicher gab es Verfehlungen bei Oxfam, doch wir müssen präzise identifizieren, wo und warum sie passierten.

Beginnen wir 2011 in Haiti, einer der Hauptfacetten des aktuellen Skandals. In Reaktion darauf hat Oxfam im folgenden Jahr eine ‚Safeguarding-Abteilung‘ geschaffen. Es ist eine von drei unabhängigen Funktionen in der ‚Internen Audit-Abteilung‘ von Oxfam, die das Treuhand- und Leitungsteam der Organisation durch die unabhängige Überwachung von Aktivitäten, Prozessen und Systemen Oxfams unterstützt.

● Wie Oxfams Safeguarding funktioniert

Die Aufgabe des Safeguarding-Teams ist es zu helfen, dem Missbrauch unter Mitarbeitern, Freiwilligen und Partnerorganisationen vorzubeugen. Es konzentriert sich auf sexuelles Fehlverhalten, aber auch auf verschiedene Formen des Missbrauchs von Kindern oder verletzlichen Erwachsenen. Ein Schlüsselanliegen ist der Aufbau von Vertrauen in der Praxis der Organisationen, so dass Individuen sich ermutigt fühlen, Missbrauchsfälle zu berichten. Wenn die Menschen dem System nicht vertrauen oder ein solches System überhaupt nicht existiert, wird es überhaupt keine Berichte geben.

Seit das Safeguarding-Team 2012 geschaffen wurde, sind die Vorfälle um 100% pro Jahr gestiegen. 2015/16 hat Oxfam 64 Fälle berichtet. Vor Einrichtung der Safeguarding-Abteilung konnten die meisten Fälle nicht verfolgt werden, weil die Opfer wegen des Mangels an Vertrauen in den Prozess keine Untersuchung wollten. Jetzt untersucht das Safeguarding-Team 93-95% der berichteten Fälle. Das ist beeindruckend.

Das Safeguarding-Team versucht, für die Opfer erreichbar zu sein. Es hat in jedem der sechs Regionalzentren von Oxfam einen Anlaufpunkt, der in der Regel mit höherem Personal besetzt ist, das darin ausgebildet ist, wie man mit den Opfern sexueller Gewalt umgeht. Die Einzelnen möchten sich Menschen anvertrauen, die sie kennen und denen sie vertrauen, und damit das funktioniert hatte Oxfam bis zum letzten Jahr nahezu 80 ausgebildete Länder-Anlaufpersonen. Jede davon hatte klare Kommunikationsstränge zum Hauptquartier.

Der Prozess läuft wie folgt ab. Ein Opfer trägt eine Beschwerde vor, normalerweise bei einem Anlaufpunkt. Dann schickt die Safeguarding-Abteilung einen spezialisierten Ermittler, um mit der Person Kontakt aufzunehmen. Dies geschieht normalerweise in Hauptquartieren, weil Opfer oft Angst haben, dass die Beschwerde nicht vertraulich bleibt und sie Einschüchterungen ausgesetzt werden könnten, wenn sie in dem Büro, in dem sie arbeiten, behandelt wird. Oft wollen die Opfer ihre Erfahrungen nicht einem Kollegen berichten, den sie täglich sehen. Das Safeguarding-Team sammelt dann unterstützendes dokumentarisches Beweismaterial und stellt eine Liste mit weiteren Personen auf, die über den Vorfall aussagen könnten. Oxfam muss die Sorgepflicht für die sich beschwerende Person berücksichtigen und gleichzeitig sorgfältig die Rechte der Beschäftigten befolgen.

Die Ermittler des Safeguarding-Teams schreiben dann einen Bericht, der an einen höheren „Vorentscheider“ gegeben wird, der darüber befindet, ob die ursprüngliche Beschwerde einschließlich möglicher Sanktionen weiter verfolgt wird oder nicht oder auch teilweise aufrecht erhalten wird. Wenn der/die Angeklagte der betreffenden Handlung für schuldig befunden wird, bekommt er/sie mindestens eine schriftliche Verwarnung. Oft besteht die Strafe auch in der Kündigung.

In den Fällen, die in die Schlagzeilen gelangt sind, können wir sehen, dass die Safeguarding-Abteilung ihre Aufgabe erfüllt hat. Die Fälle wurden gemeldet, Untersuchungen wurden angestellt und die ehemalige Safeguarding-Chefin, Helen Evans, erhielt die Belege. Bis zu diesem Punkt funktionierte das System so, wie es sollte. Wo der Fehler nun zu liegen scheint, ist auf der höchsten Führungsebene von Oxfam, wo die Safeguarding-Untersuchungen und –Berichte auf eine Mauer der Untätigkeit und Indifferenz stießen.

● Ein hoher Preis für Offenheit

Hohe Oxfam-Mitarbeiter sind zurückgetreten, und die Organisation insgesamt bezahlt einen hohen Preis für ihr Versagen. Doch während wir zu Recht die Missbrauchsfälle selbst und die Versäumnisse auf höchster Ebene verurteilen, müssen wir lernen, die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Erstens verfügt Oxfam über eine klare Politik gegen sexuelle Ausbeutung und Missbrauch und eine der besten Berichtspraktiken im Hilfesektor. Ironischerweise ist genau dies der Grund dafür, dass die Fälle ans Licht kamen – und man sollte anerkennen, dass die Oxfam-Safeguarding-Teams ihren Job gemacht haben. Zweitens ist das Problem tief verbreitet in einem Sektor, in dem die leitenden Mitarbeiter (gewöhnlich Männer) üblicherweise große Macht und Autorität über die unteren Mitarbeiter (gewöhnlich Frauen) haben, verbunden mit spezifischen Problemen internationaler Mitarbeiter, die noch größere Macht gegenüber verwundbaren Menschen auf der lokalen Ebene haben.

Oxfam mag derzeit als der Schlechteste erscheinen. Doch dieser Eindruck entsteht teilweise deshalb, weil Oxfam der Beste beim Vorgehen gegen sexuelle Ausbeutung und Missbrauch war. Lasst uns die überfällige Enthüllung dieser Fälle nutzen zur bitter notwendigen Überholung der Machthierarchien im Hilfesektor und nicht für eine rachsüchtige Attacke auf eine einzelne Hilfsorganisation, die derzeit im Scheinwerferlicht steht.

Hinweis:
* Stop the Sexual Assault against Humanitarian and Development Aid Workers. A report by Dyan Mazurana, PhD, and Phoebe Donnelly, 72 pp, Feinstein International Center, Tufts University, Sommerville/USA 2017. Bezug: über http://fic.tufts.edu/assets/SAAW-report_5-23.pdf
Posted: 19.3.2018

Empfohlene Zitierweise:
Dyan Mazurana: Der Oxfam-Skandal - Ein multiples Lehrstück, Die Besten oder die Schlechtesten?, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 19. März 2018 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

Nachtrag der Redaktion:

Inzwischen hat Oxfam weitere Verbesserungen an seinem Safeguarding-System gegen sexuelle Ausbeutung vorgenommen:

Neben der Veröffentlichung des ursprünglichen Berichts zu den Vorfällen in Haiti gehört dazu ein Aktionsplan zur Vermeidung künftigen sexuellen Missbrauchs, der folgende Punkte umfasst:

* Eine hochrangige Untersuchungskommission wird sexuelle Gewalt und sexuelle Ausbeutung, Organisationskultur und -prozesse bei Oxfam genau unter die Lupe nehmen. Gebildet wird die Kommission von führenden Frauenrechtsexpertinnen, die Zugang zu internen Unterlagen erhalten und weltweit mit MitarbeiterInnen, Partnern und von Oxfam unterstützten Gruppen sprechen. Die Kommission wird unabhängig von Oxfam und mit eigenen Richtlinien arbeiten. Oxfam wird alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen. Die Kommission wird einen umfassenden Bericht erstellen sowie klare und für Oxfam verbindliche Empfehlungen geben.
* Oxfam setzt eine globale Datenbank von autorisierten Referenzgebern auf, um zu verhindern, dass ehemalige oder aktuelle Mitarbeiter/innen falsche oder nicht überprüfbare Empfehlungen und Zeugnisse ausstellen.
* Es werden zusätzliches Geld und Kapazitäten für den sofortigen Ausbau von Oxfams Maßnahmen zum Schutz vor Belästigung, Ausbeutung und sexuellem Missbrauch bereitgestellt. Die Anzahl der MitarbeiterIinnen in diesem Bereich wird in den nächsten Wochen mehr als verdoppelt und das Jahresbudget verdreifacht, auf mehr als eine Million US-Dollar.
* Oxfam bekennt sich unmissverständlich dazu, seine Organisationskultur zu verbessern: Niemand darf bei Oxfam Sexismus, Diskriminierung oder Missbrauch ausgesetzt sein. Alle – insbesondere Frauen – müssen sich sicher fühlen, Fehlverhalten offen anzusprechen. Jedem muss bewusst sein, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht.

Inzwischen hat die schwedische Entwicklungsbehörde SIDA angekündigt, ein weiteres dreijähriges humanitäres Hilfsprogramm mit Oxfam aufzulegen. Das mit 10,2 Mio. € ausgestattete Parftnerschaftsabkommen wird humanitäre Hilfe für 280.000 Menschen in über fünf Ländern ermöglichen. Die Entscheidung ist eine unmittelbare Reaktion auf den Umgang von Oxfam mit dem Skandal in den eigenen Reihen.

In Großbritannien nehmen rechte Medien die Vorfälle jedoch weiterhin zum Anlass, um mit der Polemik gegen Oxfam den gesamten entwicklungspolitischen Sektor zu treffen und vor allem eine Rücknahme des Ziels der britischen Regierung, 0,7% des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen, zu erreichen.

Weitere Information: u.a. auf www.oxfam.de

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