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Die neue Frontlinie in der Handelspolitik

Artikel-Nr.: DE20180221-Art.04-2018

Die neue Frontlinie in der Handelspolitik

E-Commerce und Entwicklungsländer (I)

Vorab im Web - Unter dem Vorwand, lediglich Standards für elektronisch gehandelte Waren und Dienstleistungen einzuführen, dienen Handelsabkommen führender Industrienationen in zunehmendem Maße dem Ausbau ihrer Machtposition in der digitalen Wirtschaft. Die Europäische Union, Japan und allen voran die USA wollen in neuen Handelsabkommen nicht nur den Online-Handel regulieren, sondern Rahmenbedingungen für den Verkehr mit digitalen Daten im Sinne ihrer führenden IT-Konzerne neu gestalten und rechtlich absichern, analysiert Sven Hilbig.

Vordergründig geht es darum, den Geschäftsverkehr für alle Beteiligten, besonders für kleine und mittelständische Unternehmen in Entwicklungsländern, zu erleichtern. Vorrangige Ziele sind jedoch (1) der freie grenzüberschreitende Datenverkehr, (2) die Verwertung digitaler Daten auf Servern und Rechenzentren im Silicon Valley und anderen Hightech-Zentren sowie (3) deren Monetarisierung mittels (profilbasierter) Online-Werbung, global angebotener Serviceleistungen etc.. Es besteht die Gefahr, dass die Welthandelsregeln auch im Bereich der Digitalisierung zum Nachteil zahlreicher Länder des globalen Südens ausgestaltet werden und der sog. Ressourcenfluch (also die ökonomisch, ökologisch und sozial einseitige, nicht-nachhaltige Abhängigkeit der Mehrzahl der Entwicklungsländer vom Export landwirtschaftlicher, fossiler und mineralischer Rohstoffe) um einen zusätzlichen neuen Rohstoff erweitert wird: die digitalen Daten – den wichtigsten Rohstoff des 21. Jahrhunderts.

● Revolutionen – nicht nur technischer Art

Vor gerade einmal zehn Jahren wurde die US-amerikanische Börsenliga noch von Exxon Mobil, General Electric, Microsoft, AT&T und Procter & Gamble angeführt. Gegenwärtig befindet sich nur noch eines dieser Unternehmen auf den vorderen Plätzen: Microsoft. Zusammen mit Apple, der Google-Mutter Alphabet, Amazon und Facebook repräsentiert der Konzern von Bill Gates die Big Five des Silicon Valley. Ein solcher – neudeutsch 'disruptiver' – Wechsel der weltmarktführenden Konzerne ist beispiellos in der jüngeren Geschichte der industriellen Revolution, also der Phase ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Mittels transatlantischer Seekabel wurden die ersten Versuche gestartet, die Alte mit der der Neuen Welt zu verbinden. Die systematische Erschließung von Rohöl sollte zunächst die Elektrifizierung, anschließend das Transportwesen und schließlich die industrielle Produktion und Konsumtion, einschließlich der Landwirtschaft, revolutionieren.

Amazon, Google und Co. werden aber nicht nur an der Börse exorbitant hoch gehandelt, sie revolutionieren auch die Art des Wirtschaftens und des Konsums. Mit ihren Plattform-'Ökonomien' werden u. a. massenhaft 'On-Demand-Produkte' hergestellt, die auf Wunsch der Verbraucher individualisiert werden können. Außerdem ermöglichen 3D-Drucker und andere Schlüsseltechnologien der vierten industriellen Revolution nicht nur theoretisch die Rückverlagerung von Teilen der industriellen Fertigstellung von der Peripherie in die Metropolen und damit an die Orte, wo die erste industrielle Revolution ihren Ausgang nahm. ‚Re-shoring‘ wird vielmehr zur Realität in der Globalisierung 4.0: Nach 25 Jahren Outsourcing eröffnete Adidas 2016 wieder eine Fabrik in Deutschland. Jogger können sich in Ansbach mittels 3D-Druckern hergestellte Sneakers kaufen, auf denen, so denn gewünscht, ihr Name steht.

● Regularien sind nur bedingt erwünscht

Die neuen Digitalunternehmen kommen aber nicht nur technisch innovativ und wirtschaftspolitisch geradezu revolutionäre daher, sie versuchen auch, sich den gängigen Regularien zu entziehen. Das kalifornische Unternehmen Uber, das über eine Online-Plattform Personenbeförderung verkauft, hat von Beginn an nicht nur versucht, die bestehenden rechtlichen Vorgaben bis an die gesetzliche Schmerzgrenze auszunutzen, sondern diese auch bewusst zu überschreiten, und das nicht nur in den USA, sondern weltweit.

Auch auf der Ebene der Global Governance wollen die Hightech-Konzerne den bestehenden intergouvernementalen Gremien keine weiteren Befugnisse einräumen, wenn sie deren Gestaltungsspielräume bedrohen könnten (Beispiel: Internationale Fernmeldeunion - ITU). Anders sieht es hingegen aus, wenn multilaterale Institutionen ihre Handlungs- und Machtbereiche erweitern, wie die Welthandelsorganisation (WTO).

Beide Vorgehensweisen finden die Unterstützung ihrer jeweiligen Regierungen: Der Versuch 2012, das Mandat der ITU (Sonderorganisation der Vereinten Nationen, der 193 Staaten angehören) zu erweitern, scheiterte am Widerstand von USA, EU, Kanada, Japan und Südkorea mit der Begründung, dass Staaten sich grundsätzlich aus dem freien, sich selbst regulierenden Markt heraushalten sollen. Darüber hinaus sei insbesondere der überwiegend technische und innovative Bereich der Digitalisierung ungeeignet für staatliche Regulierung. Anstatt also das multilaterale System zur Regulierung des Internets auszubauen, bevorzugen diese Staaten dementsprechend ein Multistakeholder-Modell, in dem die IT-Konzerne ‚selbstregulierende‘ Standards setzen.

Ganz anders die Position im Handelsrecht. Spätestens seit 2002, als die US-Regierung eine eigene digitale Agenda entwickelte, enthalten nahezu alle bilateralen Handelsabkommen der USA, der EU und einiger anderer sog. ‚Befürworter des E-Commerce‘ Regelungen zum elektronischen Geschäftsverkehr. Und im Rahmen der ergebnislos zu Ende gegangenen 11. WTO-Ministerkonferenz von Buenos Aires (s. W&E 11-12/2017) hätten sich zahlreiche führende Industrienationen sowie ihre IT-Konzerne ein neues Mandat zur Aushandlung eines rechtlich verbindlichen Abkommens zum E-Commerce gewünscht.

● Vom analogen zum digitalen Handel

Abweichend von den beiden vorangegangenen Ministerkonferenzen konnten sich die 164 Mitgliedstaaten jedoch auf keine gemeinsamen Beschlüsse, geschweige denn auf ein neues Abkommen (wie das sog. Bali-Paket 2013) einigen. Einer der Hauptgründe für dieses Scheitern ist der immer tiefere Graben zwischen jenen Entwicklungsländern, die weiter eine Umsetzung der Doha-Entwicklungsrunde (Doha Development Agenda, kurz: DDA) einfordern, und führenden Industriestaaten, die kein Interesse an einem Abschluss der DDA von 2001 haben. Die USA, Japan und die EU wollen vielmehr eine neue Verhandlungsrunde mit ‚zeitgemäßen‘ Themen ansetzen, in der die Forderung nach einem Mandat über die Verhandlung eines rechtlich verbindlichen Abkommens zum sog. E-Commerce Priorität hat.

Die im Rahmen der 11. Ministerkonferenz hitzig und kontrovers geführten Debatten über die Frage, ob das Mandat der seit 1998 bestehenden Arbeitsgruppe zum Thema Informationstechnologie umfassend erweitert wird, werden nach Buenos Aires nicht abklingen - im Gegenteil. Eine Erleichterung sowie Ausweitung des E-Commerce anhand von Handelsabkommen sowie die inhaltliche Ausgestaltung dessen, was unter elektronischem Geschäftsverkehr zu verstehen ist, wird zukünftig einen größeren Raum in den handelspolitischen Debatten einnehmen, und zwar nicht nur in Genf am Sitz der WTO, sondern auch in Brüssel, Tokio und Washington; außerdem in den Ländern des globalen Südens, zum Beispiel Nigeria, das ebenfalls zur ‚Gruppe der Befürworter des E- Commerce‘ gehört.

Nachdem in den letzten 70 Jahren bilaterale und multilaterale Handelsabkommen geschlossen und der Welthandel durch drastische Zollsenkungen sowie die Abschaffung sog. nicht-tarifärer Handelshemmnisse liberalisiert und dereguliert wurde, sind wir gegenwärtig Zeuge einer neuen Phase handelspolitischer (De-)Regulierung, in der die führenden westlichen Wirtschaftsblöcke den digitalen Handel im Interesse ihrer Hightech-Unternehmen regeln. Analysten versprechen sich von diesem Wirtschaftszweig die mit Abstand höchsten Wachstums- und Gewinnchancen.

Fortsetzung folgt in W&E 03-04/2018 und online ???042ae6a8980ab400d???.

Sven Hilbig
ist bei Brot für die Welt Referent für Welthandel.

Posted: 21.2.2018

Empfohlene Zitierweise:
Sven Hilbig, Die neue Frontlinie in der Handelspolitik. E-Commerce und Entwicklungsländer (I), in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 21. Februar 2018 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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