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UN75: Globale Megatrends politisch gestalten

Artikel-Nr.: DE20200921-Art.14-2020

UN75: Globale Megatrends politisch gestalten

UN-Ökonomen und NGOs zu 75 Jahre Vereinte Nationen

Fünf menschengemachte Megatrends werden die globalen Anstrengungen, die Welt auf einen nachhaltigeren Pfad des Wohlstands zu bringen, belasten und konterkarieren, wenn es nicht umgehend zu politischen Interventionen kommt, warnt das Netzwerk der UN-Ökonomen in einem neuen Bericht, „Shaping the trends of our time“, zur 75. UN-Generalversammlung, die am 21. September 2020 mit einem (digitalen) Sondergipfel beginnt. Diese Interventionen müssen zu einem systemischen Wandel führen, ergänzen NGOs in ihrem jährlichen Spotlight-Report (s. Hinweise), berichtet Rainer Falk.

Als Megatrends, die unsere Welt im Laufe dieses Jahrhunderts prägen werden, haben die Chefökonomen des UN-Systems identifiziert: den Klimawandel und die Degradation der Natur, die Ungleichheit, die Urbanisierung, der schnelle Bevölkerungswandel und die technologische Revolution. Ob ihre Konsequenzen insgesamt positiv oder negativ zu Buche schlagen, wird davon abhängen, welche Politik heute umgesetzt wird, so die Autoren.

● SDGs heute schon entgleist

Der Bericht stellt fest, dass die Agenda der Nachhaltigen Entwicklung bereits fünf Jahre nach ihrer Verabschiedung aus der Fahrbahn geworfen und in vielen Fällen durch die Covid-19-Krise sogar umgekehrt wurde. Politische Verpflichtungen wurden nicht in politisches Handeln übersetzt. Nachhaltigkeitsfinanzierung steigt zwar, aber weder schnell genug noch im notwendigen Umfang. „Der Wandel unseres Denken und Handelns hält nicht Schritt mit unseren Ambitionen für nachhaltige Entwicklung“, heißt es.

Herausgegeben am Vorabend des 75. Jahrestags der Vereinten Nationen, ruft der UN-Bericht zu einer neuen ganzheitlichen Art der Politikentwicklung in den nächsten 75 Jahren auf. Er argumentiert für mehr Kooperation zwischen scheinbar getrennten Bereichen, wie Digitalisierung, Stadtplanung und Energieproduktion, die zu oft isoliert voneinander behandelt werden. Die derzeitigen politischen Defizite – oder komplettes politisches Versagen – werden unvermeidlich zu negativen Konsequenzen der Megatrends führen.

„Dies ist der Moment für die Welt zusammenzukommen, um den in diesem Report hervorgehobenen Megatrends durch nach vorne gerichtete Politiken zu begegnen, die den Problemen angemessen sind. Eine bessere und fairere Gesellschaft kann aus der Covid-19-Pandemie hervorgehen, wenn durch global koordiniertes Handeln die Fragilität innerhalb und zwischen den Nationen angegangen wird, um Wohlstand für alle zu sichern,“ sagte Mukhisa Kituyi, der Generalsekretär der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), die neben 20 weiteren UN-Organisationen an der Erstellung des Berichts beteiligt war.

Überwindung der Politikzersplitterung

Ohne eine Überwindung der derzeitigen Politikzersplitterung ist die Erreichung der 17 Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs), die binnen 15 Jahren das Leben aller Menschen verbessern sollen, höchst unwahrscheinlich, stellt der Bericht fest. „Nach Jahrzehnten können diese Megatrends nicht einfach ungeschehen gemacht oder kurzfristig unmittelbar verändert werden. Doch sind sie das Ergebnis menschlichen Handelns und können deshalb über die Zeit durch konsistente Politiken gestaltet werden“, sagt Liu Zhenmin, der Chef des UN-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (UN-DESA), die die Vorbereitung des Berichts leitete.

Beispielsweise hat eine jahrzehntelange anhaltende und zielgerichtete Politik zu einem der größten Wechsel eines Megatrends zu unseren Lebzeiten beigetragen: der drastische Wandel der Weltbevölkerung. Von einem Spitzenwert von 2% in den 1960er Jahren hat sich das durchschnittliche jährliche Wachstum der Weltbevölkerung auf 1% verlangsamt und dürfte bis zum Ende des Jahrhunderts vollständig zum Stillstand kommen.

Die damit einher gehende Abnahme der Fruchtbarkeitsraten kann zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen, da Frauen weniger Lebenszeit für das Kinderkriegen und die Erziehung aufwenden. Auf der anderen Seite führt die schnelle Alterung zu Sorgen hinsichtlich von Innovation, Produktivität und makroökonomischer Dynamik.

Solche Querverbindungen, argumentiert der neue Bericht, müssen bei der Politikentwicklung sorgfältig beachtet werden, nicht nur innerhalb eines Megatrends, sondern quer durch alle Trends. „Weil jeden Megatrend auch die anderen Megatrends beeinflusst, können politische Interventionen auf einem Gebiet positive und sich gegenseitig verstärkende Konsequenzen auf anderen hervorbringen“, so Liu Zhenmin.

Beispielsweise bringt die Urbanisierung alle notwendigen Faktoren für technologische Innovation und Produktivitätsgewinne zusammen. Und obwohl die urbanen Zentren global die meisten Treibhausgas-Emissionen und die Hälfte aller Abfälle produzieren, kann angemessene Planung und Kontrolle die Schädigung der Umwelt überwinden und zu Gleichheit und Nachhaltigkeit beitragen. Das Management dieser trade-offs ist genauso wichtig wie die Förderung gemeinsamer Vorteile, argumentiert der Bericht.

Technologische Innovation und Digitalisierung beispielsweise haben die Einkommensungleichheit deutlich verschärft, vor allem in der Zeit des Online-Lernens und der Heimarbeit. Und der Klimawandel kann die Land-Stadt-Flucht verstärken, indem er hunderte von Millionen Menschen aus Küstenregionen und trockenem Land vertreibt.

● Internationale Kooperation und Systemwechsel

Der UN-Report unterstreicht, dass internationale Kooperation und die Vereinten Nationen selbst eine entscheidende Rolle bei der Rahmensetzung für die globalen Megatrends spielen, indem sie den heimischen Konsens für anhaltendes Handelns ermutigen. Auch können die UNO bei der Mobilisierung globalen Unterstützung für einzelne Länder helfen, vor allem für solche mit wenig Eigenressourcen.

Einen stärkeren Akzent auf den Systemwechsel setzt die 2020er Ausgabe des Spotlight-Reports über Nachhaltige Entwicklung, den zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen und Netzwerke zum Auftakt der Globalen Aktionswoche für die SDGs und des UN-Gipfels veröffentlicht haben. Nach der Covid-19-Krise seien Aufrufe zum besseren Wiederaufbau und eine bloße Betätigung des Reset-Buttons nicht ausreichend. Wir brauchen strukturellen Wandel in Gesellschaften und Ökonomien, damit die Priorität von Menschenrechten, Gendergerechtigkeit und Nachhaltigkeit sichergestellt wird, lautet die Schlüsselbotschaft des Reports.

Spotlight 2020 beleuchtet verschiedene Merkmale und Verstärker des Covid-19-Notstands und seine Querverknüpfungen mit anderen Krisen. Die Autoren heben hervor, dass selbst vor Covid-19 viele Länder, vor allem im globalen Süden, in einer ökonomischen Krise waren, die durch eine kontraktive Fiskalpolitik, wachsende Schulden und Austeritätsmaßnahmen charakterisiert war, welche diese Länder verwundbarer für künftigen Krisen machten. Sie werden als Ergebnisse eines dysfunktionalen Systems bezeichnet, das Konzernprofite über die Rechte und das Wohlergehen von Menschen und des Planeten stellt.

Der Report räumt ein, dass Regierungen und internationale Organisationen auf die Covid-19-Krise massiv reagiert haben. Die angekündigten Liquiditätshilfen, Rettungspakete und Erholungsprogramme summieren sich auf insgesamt 11 Billionen US-Dollar. Doch alles in allem waren die meisten Maßnahmen nicht ausreichend genug, um den realen Finanzbedarf der Menschen zu befriedigen und zogen auch nicht die Umweltgerechtigkeit in Betracht.

● Eine ‚8R‘-Agenda für transformative Erholung

Für die den Report tragenden NGOs ist es deshalb umso wichtiger, dass langfristige Reformen nicht nur die wirtschaftliche Erholung unterstützen, sondern auch den notwendigen strukturellen Wandel fördern. Nur dies verbessert die Lebensverhältnisse der Menschen entscheidend, etwa ein stärkeres System des öffentlichen sozialen Schutzes, bessere Bezahlung und Rechte von ArbeiterInnen in der Sorgeökonomie und der Übergang zur Kreislaufwirtschaft, die das Wachstum und den Konsum von endlichen planetarischen Ressourcen entkoppelt.

Als Alternative zum ‚Großen Reset‘ des Weltwirtschaftsforums, das offensichtlich den Kapitalismus retten soll, bietet der Spotlight-Report eine ‚8R‘-Agenda für transformative Erholung an. Diese identifiziert acht politische und soziale Schlüsselbereiche, in denen ein Neudenken und eine Restrukturierung unverzichtbar sind. Dazu gehören die Notwendigkeit, wirkliche öffentliche Dienste wiederherzustellen und die zentrale Bedeutung der Sorgeleistungen in unseren Gesellschaften neu zu bewerten; das Gleichgewicht zwischen lokalen und globalen Wertschöpfungsketten herzustellen; die Verfolgung von Klimagerechtigkeit; eine radikale Umverteilung von wirtschaftlicher Macht und Ressourcen und eine solide Regulierung der globalen Finanzen im Interesse der Gemeinschaftsgüter; sowie – um all dies zu untermauern – ein Schub an multilateraler Solidarität und Multilateralismus durch eine deutliche Stärkung der UN und ihrer Organisationen. Die Schlussfolgerung des Berichts: „Multiple Krisen können nur überwunden werden, wenn die massiven Macht-Asymmetrien in und zwischen Gesellschaften überwunden werden.“

Hinweise:
* Report of the UN Economist Network for the UN 75th Anniversary: Shaping the trends of our time, 206 pp, United Nations: New York 2020. Bezug: über un.org/desa
* Spotlight on Sustainable Development 2020: Shifting policies for systemic change. Lessons from the global COVID-19 crisis, Global Civil Society Report on the 2030 Agenda and the SDGs, 91 pp, Bonn, New York et al, September 2020. Bezug: über globalpolicy.org

Gepostet: 21.9.2020

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Falk, UN75: Globale Megatrends politisch gestalten, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 21. September 2020 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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