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Unser gemeinsames Recht auf Gesundheit

Artikel-Nr.: DE20200407-Art.08-2020

Unser gemeinsames Recht auf Gesundheit

Akute und chronische Todesfälle

Die Covid-19-Pandemie ist beängstigend. Die erschütternde Zahl der Todesfälle innerhalb weniger Monate belastet Geist und Psyche. Gesundheitskatastrophen wie die derzeitige Covid-19-Pandemie oder Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, Tsunamis, Überschwemmungen, Dürreperioden, Erdbeben oder menschengemachte Katastrophen wie Kernkraftwerksunfälle treffen jeweils viele Menschen auf einmal. Sie sind akut. Sie sind erschreckend. Sie sollten nicht geschehen, schreibt Gabriele Köhler.

Dabei sind trotz der enormen Erkrankungs- und Sterberaten durch das Covid-19-Virus jedes Jahr weitaus mehr Menschen auf diesem Planeten von chronischen Gesundheitskatastrophen betroffen. Doch diese stille Tragödie kommt in den Medien kaum vor – obwohl die Statistiken dank nationaler Gesundheitsbehörden und jährlicher Berichte von UN-Behörden wie der WHO öffentlich verfügbar sind. Als Gründe vermute ich, dass es schwieriger ist, die Auswirkungen dieser Katastrophen darzustellen, und dass ihre Opfer keinen Einfluss haben.

● Einige globale Zahlen zur Kenntnisnahme

Von den vermeidbaren frühzeitigen Todesfällen im Jahr 2015 starben rund 303.000 Frauen im Zusammenhang mit einer Entbindung (WHO 2018: 4). Jedes Jahr sterben 5,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren an Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt, Atemwegsinfektionen, Durchfall oder Malaria. Oft ist die zugrundeliegende Ursache eine schwere Unterernährung. Schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen starben 2016 an Tuberkulose (WHO 2018: 5). Unsauberes Trinkwasser sowie unsichere sanitäre und hygienische Verhältnisse führten 2016 zu schätzungsweise 870.000 Todesfällen (WHO 2018: 10).

Auch politische Entscheidungen fordern viele Todesopfer. Der Missbrauch unseres Planeten verursacht vermeidbare Todesfälle: Die WHO schätzt, dass die Verschmutzung der Außenluft in Städten und ländlichen Umgebungen 2016 weltweit zum Tod von 4,2 Millionen Menschen führte (WHO 2018: 7). Verkehrsunfälle aufgrund schlechter Straßenverhältnisse und fehlender Schutzausrüstung wie z.B. Helmen forderten 1,25 Millionen Menschenleben im Jahr 2013 (WHO 2018: 7).

Kriege sind ebenfalls tödlich. Natürlich wären sie vermeidbar. Ungefähr 180.000 Menschen wurden 2016 in Kriegen und Konflikten getötet, eine Zahl, die in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist (WHO 2018: 8). Durch Konflikte und – wie immer häufiger anerkannt wird – infolge des Klimawandels sind aktuell 70 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR 2020) und leben in Notunterkünften ohne die derzeit so lautstark empfohlenen Maßnahmen wie Händewaschen, Abstandhalten und Fernunterricht umsetzen zu können.

● Todesfälle und Gesundheitssysteme

Fast alle dieser Todesfälle durch chronische Ursachen und strukturelle Defizite des Gesundheitssystems sind frühzeitig und vermeidbar. Und sie sind ungleich verteilt. Sie konzentrieren sich auf Staaten und Haushalte mit geringem Einkommen. Vor allem benachteiligte Gemeinschaften sind betroffen – Menschen, die aufgrund von Geschlecht, Ethnie, Kaste, Sprache, Kultur, Glauben, sexueller Identität oder Status als Migranten oder Flüchtlinge von Gesundheitsleistungen ausgeschlossen werden (UNDP 2019). Oder weil sie als Kinder – in vielen patriarchalen Gesellschaften: Mädchen – oder ältere Menschen als überflüssig gelten.

Mein erstes Argument ist daher, dass frühzeitige vermeidbare Todesfälle sowohl das überraschende und furchteinflößende Gesicht der Covid-19-Pandemie besitzen als auch das der stillen, kontinuierlichen, chronischen Gewalt dieser riesigen jährlichen Opferzahlen. Betrachtet man allein die Zahlen, ist Covid-19 also nicht ohne Beispiel.

Mein zweites Argument ist, dass viele der zu erwartenden Todesfälle durch Covid-19 Mängeln im Gesundheitswesen zuzuschreiben sind – die Kurve muss abgeflacht werden, weil die benötigte Kapazitätsgrenze für medizinische Eingriffe in jedem Land viel zu niedrig ist. Wie einige Kommentatoren angemerkt haben, geht es nicht nur darum, die Fallzahlen zeitlich zu strecken, sondern auch diese Grenze anzuheben: Die Kapazitäten der öffentlichen Gesundheitssysteme und Vorkehrungen für Katastrophen wie Pandemien müssen verbessert werden.

Die akute Gesundheitskatastrophe durch Covid-19 ähnelt in einigen Punkten den Auswirkungen eines Erdbebens – Erdstöße und Nachbeben pulverisieren Gebäude und Infrastruktur, die nicht den Sicherheitsbestimmungen entsprachen, und erschlagen und ersticken Menschen, die sich darin befinden. Aber nicht nur das akute Erdbeben dieser Pandemie, sondern auch die stille, chronische Gewalt der „alltäglichen“ Todesfälle erfordert Handlungsbedarf: Gesundheitssysteme müssen auf allen Ebenen dramatisch verbessert werden, für jedes Gesundheitsproblem und für jede Person.

Austerität und Neoliberalismus

Wie Isabel Ortiz und Thomas Stubbs (2020) in einem radikalen Beitrag aufgezeigt haben, basiert die Schwäche aller unserer Gesundheitssysteme letzten Endes auf der Ideologie von Austerität und Neoliberalismus, die in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse gewonnen hat. Für Großbritannien haben dies Watkins et al (2017; UCL 2017) in einer bereits vor drei Jahren veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeit auf gleichermaßen drastische Weise nachgewiesen.

Ein direktes Ergebnis dieser Ideologie ist der kontinuierliche Abbau der Kapazitäten im Gesundheitswesen. Wenn man allein das wohlhabende Europa mit seinen Sozialstaaten und deren Fähigkeiten betrachtet, eine Pandemie mit exponentiell wachsenden Ansteckungszahlen zu bekämpfen, ist hier beispielsweise in allen Ländern die Anzahl der Krankenhausbetten reduziert worden. Die gegenwärtige Pandemie wird also bald die Kapazitäten übersteigen – und natürlich ist die Zahl der Betten nur ein oberflächlicher Indikator für Gesundheitsleistungen, die von Ärzten, Pflegepersonal, Verwaltung, Reinigungskräften, Transportmitarbeitern und vielen anderen erbracht werden. Dies geschieht, obwohl die United Nations System Influenza Coordination (UNSIC) der UNO seit 2005 (!) dazu mahnt, die Kapazitäten für Pandemieprävention und -bekämpfung global zu erhöhen.

Krankenhausbetten pro 100.000 Personen


Natürlich spiegelt die Anzahl der Krankenhausbetten nicht die Qualität eines Gesundheitssystems wider. Öffentliche Einrichtungen sind für mehr Menschen zugänglich und können gerechter sein, wenn sie gut ausgestattet und verwaltet werden – und Prozesse der sozialen Ausgrenzung überwunden werden können. Sie sind grundsätzlich effizienter darin, Mütter- und Kindersterblichkeit zu verhindern und Infektionskrankheiten zu behandeln. Außerhalb des formalen Gesundheitssystems liegt die Verantwortung für Pflege überwiegend bei Frauen und Mädchen, auf die alle Gesellschaften für Pflegeleistungen angewiesen sind (UN Women 2018). Auch hier braucht es einen Strukturwandel, wie eine weltumspannende Koalition von Feministinnen aus mehr als 200 Organisationen in einem inspirierenden Manifest skizziert hat (UN Women‘s Rights Caucus. 2020).

● Gesundheitssysteme und das Recht auf Gesundheit

Vor einigen Jahren verpflichtete sich die Weltgemeinschaft – also die 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen – zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung und entschied sich für die notwendige Vorgehensweise, um dieses Ziel zu erreichen. Es gibt sogar ein Akronym, das viele politische Entscheidungsträger – zumindest in der Theorie – angenommen haben: UHC: Universal Health Care. Es handelt sich um Ziel 3 der vielzitierten Nachhaltigen Entwicklungsziele (Vereinte Nationen 2015). Die Vision ist zugegebenermaßen bescheiden: Das Recht auf Gesundheit soll erst heute in zehn Jahren, also bis 2030, erreicht werden. Das ist zaghaft – immerhin verspricht dies die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte seit 1948 – und es ist zaghaft angesichts des globalen Reichtums an Kapital und Wissen, der UHC und SDG 3 sofort ermöglichen könnte, wenn die Politik sich dafür entschiede.

Während wir jeden Tag zitternd die Nachrichten oder in den Posteingang schauen, um die steigenden Zahlen der Covid-19-Opfer zu verfolgen, müssen wir diese Pandemie für das SDG-Engagement „instrumentalisieren“: Wir müssen alle vermeidbaren frühzeitigen Todesfälle stoppen, egal ob durch akute Pandemien oder chronische Zustände, und überall gerechte Gesundheitssysteme für alle errichten. Wir können die Agenda 2030 nutzen, um die nötigen Maßnahmen zu gestalten.

● PS – zur Erinnerung

Die SDGs fordern: Eine allgemeine Gesundheitsversorgung (UHC) mit gleichberechtigtem Zugang zu Gesundheitsleistungen; soziale Sicherungssysteme, um ein Anwachsen von Armut in Krisenzeiten zu verhindern und um einen angemessenen Lebensstandard zu garantieren; angemessene Arbeit – sichere Jobs unter sicheren Bedingungen, anständig bezahlt und versichert; Geschlechtergleichstellung und die Anerkennung der unbezahlten Arbeit von Frauen in der Pflege; und vor allem das Versprechen, dass alle gleichberechtigt sind.

Quellen:
* Isabel Ortiz and Thomas Stubbs. 2020. Fighting Coronavirus: It’s Time to Invest in Universal Public Health. Inter Press Service.
http://www.ipsnews.net/2020/03/fighting-coronavirus-time-invest-universal-public-health/
* UCL 2017. Austerity linked to 120,000 extra deaths in England Effects of health and social care spending constraints on mortality in England: a time trend analysis.
https://www.ucl.ac.uk/news/2017/nov/austerity-linked-120000-extra-deaths-england
* UNDP 2019. Human Development Report 2019. Beyond income, beyond averages, beyond today: Inequalities in Human Development in the 21st Century. New York: United Nations.
http://hdr.undp.org/sites/default/files/hdr2019.pdf
* UNHCR 2020. Figures at a glance.
https://www.unhcr.org/figures-at-a-glance.html
* United Nations 2015. Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development. Resolution adopted by the General Assembly on 25 September 2015. A/RES/70/1. New York: United Nations.
* UN Women 2018. Turning Promises into Action: gender equality in the 2030 Agenda for Sustainable Development. New York: United Nations.
http://www.unwomen.org/en/digital-library/publications/2018/2/gender-equality-in-the-2030-agenda-for-sustainable-development-2018#view.
* Watkins J, Wulaningsih W, Da Zhou C, et al. Effects of health and social care spending constraints on mortality in England: a time trend analysis. BMJ Open 2017;7:e017722. doi: 10.1136/bmjopen-2017-017722.
https://bmjopen.bmj.com/content/7/11/e017722
* WHO 2018. World Health Statistics. Monitoring health for the SDGs.
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/272596/9789241565585-eng.pdf?ua=1
* WHO Gateway Europe. Acute care hospital beds per 100 000.
https://gateway.euro.who.int/en/indicators/hfa_478-5060-acute-care-hospital-beds-per-100-000/visualizations/
* Women’s Rights Caucus. 2020. Feminist declaration on the occasion of the twenty-fifth anniversary of the Fourth World Conference on Women.
https://iwhc.org/wp-content/uploads/2020/03/Beijing-25-Feminist-declaration.pdf

Gabriele Köhler ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN). Sie ist zudem Senior Research Associate beim UN-Forschungsinstitut für Soziale Entwicklung (UNRISD) in Genf, Mitglied des UNICEF-Komitees Deutschland und Vorständin bei Women in Europe for a Common Future (WECF).

Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Köhler, Unser gemeinsames Recht auf Gesundheit. Akute und chronische Todesfälle, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 7. April 2020 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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