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Die WTO in gefährlichem Fahrwasser

Artikel-Nr.: DE20211209-Art.14.12-2021

Die WTO in gefährlichem Fahrwasser

Von einer regelgestützten zu einer machtbasierten Organisation?

Obwohl die 12. Ministerkonferenz (MC12) der Welthandelsorganisation wegen Corona-bedingter Reiserestriktionen erneut verschoben wurde, gehen die Bemühungen weiter, das multilaterale Handelssystem im Interesse der Mächtigsten, darunter der Konzernlobbies, umzubauen. Während die Aussetzung der handelsbezogenen Patentrechte (TRIPS) in Sachen Covid-19 seit einem Jahr durch verschiedene Strategien und Taktiken blockiert wird, ist zunehmend klar, dass die Interessen der Industrieländer in der WTO auf die Etablierung von zwei Prozessen orientiert sind. Ein TWN-Briefing.

Ein Prozess, der ‚WTO-Reaktion auf die Covid-19-Pandemie’ genannt wird, zielt auf mehr Liberalisierung und Beschränkungen von Regulierungsmöglichkeiten, statt auf die Aussetzung des TRIPS-Abkommens zu setzen. Ein anderer Prozess dreht sich um den Begriff ‚WTO-Reformen‘, den mehrere Industrieländer, einschließlich die USA, die EU, Japan und andere nutzen, um ihre Ideen für einen Umbau der WTO und ihrer Entscheidungsstrukturen voranzutreiben.

Covid-19-Reaktion als Vorwand

Zugleich werden Besorgnisse der Entwicklungs- und am wenigsten entwickelten Länder sowie der Zivilgesellschaft weiter marginalisiert. Dazu gehören die Aussetzung des TRIPS-Abkommens und Vorschläge zur Korrektur der Regelungen des WTO-Abkommens über Landwirtschaft, die zum Niedergang des Agrarsektors in vielen armen Ländern geführt haben und die Lebensmittelunsicherheit in der ganzen Welt verschärft haben. Andere wichtige Fragen sind die Stärkung und Operationalisierung der besonderen und differenzierten Behandlung für Entwicklungs- und die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs), die integral und entscheidend für das Funktionieren des multilateralen Systems sind.

Im Juni 2021 bestimmte der Vorsitzende des WTO-Generalrats einseitig den Botschafter Walker von Neuseeland, um eine Reihe von Verhandlungen zu organisieren, die die Antwort der WTO auf die Covid-19-Pandemie ausarbeiten sollen. In der Folge wurde dieser Prozess als ‚Walker-Prozess‘ bekannt. Botschafter Walkers Arbeit, wie sie sich in seinen Berichten an den WTO-Generalrat niederschlug, beruhten auf der Prämisse, dass mehr Liberalisierung gebraucht würde, Interventionen, die den regulativen Spielraum und die politischen Instrumente der WTO-Mitglieder weiter einengen und mehr Vertrauen in den privaten Sektor setzen würde.

Unter den Stimmen und Vorschlägen, die Botschafter Walker anhörte, wählte er folgende Schwerpunkte aus:

* Vorantreiben der Handelserleichterung und regulatorischen Kohärenz auf eine Weise, die die Flexibilitäten der Entwicklungsländer unter den existierenden Regeln unterminiert und ihren regulatorischen Spielraum weiter begrenzt;

* Förderung der Liberalisierung von Dienstleistungen als eine der Antworten auf die Pandemie;

* Begrenzung der Möglichkeiten zur Nutzung von Exportrestriktionen, was gegenwärtig durch die WTO-Regeln erlaubt ist. Die Pandemie hat gezeigt, die die Entwicklungsländer/LDCs von den Industrieländern, die sich viel höhere Preise leisten können, überboten werden, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. In einem solchen Kontext haben es Entwicklungs- und am wenigsten entwickelte Länder besonders nötig, diese Instrumente zu nutzen, angesichts der begrenzten politischen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen.

* Vorantreiben eines expansiven Notifikations- und Monitoringregimes, das den Druck auf die Entwicklungsländer bei der Umsetzung ihrer Handelspolitiken erhöht;

* weitere Öffnung der Türen für den Einfluss des privaten Sektors auf die WTO-Prozesse unter dem Vorwand der Ausweitung der Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen und anderen Interessengruppen unter spezieller Erwähnung des privaten Sektors.

Fragen von Interesse für die Entwicklungsländer wie Nahrungsmittelsicherheit und geistiges Eigentum wurden in den Walker-Berichten ebenfalls an den Rand gedrängt, der es auch mehrfach abgelehnt hat, Fragen wie die Aussetzung des TRIPS-Abkommens zu behandeln.

Intransparent für die meisten WTO-Mitglieder

Ohne ordentliche Konsultation produzierte Walker einen Entwurf für eine Ministerdeklaration zur WTO-Reaktion auf die Pandemie mit fast keinen Klammern und schlug ihn als Basis für Beratungen in einer sehr kleinen Gruppe ausgewählter Länder vor. Solche Prozesse sollen den Druck auf den Rest der WTO-Mitgliedsländer erhöhen, denen dann das Ergebnis im letzten Moment präsentiert wird. Ihnen wird keine Zeit oder Chance gegeben, sich wirklich an den Verhandlungen zu beteiligen. Die ansprechende Bezeichnung ‚WTO-Reaktion auf die Covid-19-Pandemie’ ist eine weitere Manipulation, um den Druck auf die Delegierten zu erhöhen und sie zu veranlassen, das Ergebnis trotz der Tatsache zu akzeptieren, dass ihnen keine nennenswerte Beteiligung an den Verhandlungen gewährt wurde und der Inhalt weder ihre Sicht widerspiegelt und für ihre Interessen potentiell sehr gefährlich ist.

Der gefährliche Druck für einen Post-MC12-Arbeitsplan und ein Implementierungsgremium

Die Industrieländer einschließlich der USA und der EU drängen auf die Aufstellung eines Arbeitsplans und eines entsprechenden Implementierungsgremiums, das die Arbeit nach MC12 zur Antwort der WTO auf die Covid-19-Pandemie und potentieller weiterer Pandemien und Krisen führen wird. Ein Vorschlag für den Vorsitz dieses Gremiums wäre ein Delegationsleiter, der vom Vorsitzenden des Generalrats ernannt wird. Befürworter dieses Vorschlags drängen auf ein Abkommen über eine Ministerdeklaration, noch bevor die WTO-Mitgliedschaft die Chance zur Verhandlung und zur Einigung darauf erhält, worin die WTO-Reaktion auf die Pandemie bestehen sollte.

Im Endeffekt könnte die Zustimmung zu einem solchen Arbeitsplan und Gremium ohne vorherige Übereinstimmung als Blankoscheck für den manipulativen Druck zugunsten der Liberalisierungs- und Deregulierungsinteressen dienen, die in der ersten Textversion von Botschafter Walker enthüllt wurden. Die Beziehung zu den existierenden Verhandlungsmandaten ist nicht klar. Dies schließt das Doha-Mandat von 2001 ein, zu dem vielfältige Fragen von Interesse für die Entwicklungsländer gehören, die niemals eingelöst wurden. Das bedeutet, dass seine Operationalisierung auf die weitere Marginalisierung der Arbeit an existierenden Mandaten hinauslaufen könnte. Der Vorschlag, die Auswahl des Vorsitzenden für diese Arbeit an den Vorsitzenden des Generalrats zu delegieren, könnte darauf hinauslaufen, einen Prozess ähnlich dem von Walker geführten zu replizieren, wobei die meisten Entwicklungsländer aus dem Verhandlungsraum ausgeschlossen oder uninformiert über die Verhandlungen blieben, bis auf das, was man sie von Zeit zu Zeit im WTO-Generalrat wissen ließe.

‚WTO-Reform’: Ersetzung des Staaten-geleiteten Multilateralismus durch einen Konzern-getriebenen Plurilateralismus?

Das Narrativ von der ‚WTO-Reform’ war in den WTO-Verhandlungen eine Zeit lang recht populär. Doch es gibt einen großen Unterschied, was die Entwicklungsländer unter Reform verstehen und den Ideen, die einige Industrieländer unter dem Deckmantel der ‚Reform‘ befördern. Dieser Unterschied wurde zu einem trennenden Thema unter den WTO-Mitgliedern. Im Vorfeld der MC12 hat die WTO-Generaldirektorin dafür gesorgt, dass das Thema WTO-Reform zu einem zentralen Thema wurde.

Die Entwicklungsländer haben lange zu einer Reform des multilateralen Handelssystems in ihrem Sinne und im Interesse großer vulnerable Gruppen wie Kleinbauern, Produzenten, Arbeiter*innen, Kranker und Indigener Volksgruppen aufgerufen. Im Dezember 2020 unterstrich eine gemeinsame Mission von afrikanischen Staaten in der WTO, von Indien und Kuba (WT/GC/W/778/Rev.3), dass im Zentrum dieser Reformagenda eine Neuausrichtung der WTO-Regeln stehen müsse, um die Herausforderungen angehen zu können, mit denen Entwicklungsländer und LDCs konfrontiert sind, und die Anwendung ihre besonderen und differenzierten Behandlung zu verbessern.

Im Gegensatz dazu drängen die Vorschläge und Narrative der von den USA und der EU geführten Industrieländer auf

* Vereinbarungen zu neuen Themen (wie Regeln für industrielle Subventionn);

* neue Ansätze zur besonderen und differenzierten Behandlung, die letztlich diese Flexibilitäten für die Entwicklungs- und die am wenigsten entwickelten Länder begrenzen werden;

* Einführung von Fragen in die WTO-Agenda, die die politischen Instrumente der Entwicklungsländer weiter einschränken und die Inklusivität und Partizipation der WTO-Verhandlungen durch den Versuch der Etablierung geänderter Verfahren unterminieren werden;

* die Normalisierung plurilateraler Ansätze zur Gestaltung der WTO-Verhandlungen und zur Annahme neuer Regeln, die den multilateralen Charakter der Organisation und ihre Fähigkeit unterminieren werden, irgendetwas Nützliches für Entwicklungsländer und LDCs zu tun;

* Ausweitung der WTO-Monitoring-Mechanismen auf eine Weise, die den Druck auf die Entwicklungsländer bei der Umsetzung ihrer Handelspolitik erhöhen würde.

* die Öffnung neuer Bewegungsspielräume für das Big Business in der WTO unter dem Schirm des ‘Multi-Stakeholderisms’.

Vorfahrt für das Big Business?

Im Kontext der Verhandlungen zum MC12-Ergebnisdokument (d.h. der Ministerdeklaration) drängt eine Anzahl von hauptsächlich Industrieländern auf die Etablierung einer neuen Arbeitsgruppe mit der Aufgabe ‘Verbesserungen der Funktionsweise der WTO‘. Einen entsprechenden Vorschlag haben die EU und Brasilien lanciert. Dieser soll die Monitoring- und Verhandlungsfunktion der WTO einbeziehen sowie das Streitschlichtungssystem.

Die Errichtung eines solchen Gremiums würde den USA, der EU und anderen Industrieländern – ungeachtet der offen bleibenden Differenzen, was ‘WTO-Reform’ bedeutet und welche Richtung dessen Arbeit nimmt – gestatten, diese Plattform zur weiteren Operationalisierug ihrer Ideen zur ‚WTO-Reform‘ zu nutzen. Solche Ansätze unterminieren und begrenzen die Fähigkeit der Entwicklungsländer und der LDCs zur Beeinflussung des Agenda-Settings und zur Verfolgung ihrer Interessen in den Verhandlungen erheblich. Sie werden auch die gestärkte Rolle des privaten Sektors, vor allem des Big Buisiness, bei der Beeinflussung der Agenda und Verhandlungen in der WTO legitimieren und so eine unausgewogenere Institution, die sich vor allem nach den kommerziellen Interessen des Big Business richtet, schaffen.

Zusammenfassung: Neuerfindung der WTO?

Während einige Industrieländer weiterhin jeden Fortschritt in Richtung Aussetzung der TRIPS-Regeln blockieren und die WTO-Generaldirektorin und das Sekretariat solche obstruktiven Positionen begünstigen, könnte das oben beschriebene Drängen an den beiden Fronten in grundlegende Veränderungen der institutionellen Struktur und Funktionsweise der WTO münden. Es wäre ein weiterer Schritt in dem Versuch, die grundlegenden Regeln der Entscheidungsfindung zu umgehen, um die herum die WTO aufgebaut wurde, um die wichtigsten Unzulänglichkeiten zu beheben, die ihren Vorgänger, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), charakterisierten.

Diese jüngsten Versuche sollten im Licht und zusammen mit den Entwicklungen seit den letzten beiden Ministerkonferenzen in Nairobi 2015 und Buenos Aires 2017 gesehen werden. Damals drängten die Industrieländer erfolgreich die Verhandlungsmandate zurück, die für die Entwicklungsländer von Interesse waren, obwohl ihnen die vollständige Beerdigung der Doha-Runde nicht gelang. Darüber hinaus entwickelten sie einen intensiven Druck zur illegalen Ausweitung plurilateraler Ansätze auf entscheidende Verhandlungsfragen und die Veränderung der Regeln des WTO-Abkommens. Auf der MC12 könnten diese Versuche weiter verstärkt werden.

Im Endeffekt würden diese Prozesse die Tür zur Neuerfindung der WTO als einer machtbasierten (statt einer regelbasierten) Organisation öffnen. Das wird zur Folge haben, dass den Entwicklungsländern und ihren Entwicklungsfragen Spielraum genommen wird, um einen stärkeren Griff der Konzerne auf die WTO zu erleichtern. Das wird auch viele gemeinsame Zielen der zivilgesellschaftlichen Kampagnen unterlaufen, wenn nicht vereiteln, die bislang zur Korrektur der Handelsregeln aufriefen, um diese weniger schädlich und hinderlich für Entwicklungsprozesse zu machen. Die notwendigen Transformationen zur Überwindung der globalen Klimakrise und in jüngster Zeit der globalen Pandemie könnten damit in weite Ferne rücken.

Das Third World Network (TWN) ist eine unabhängige Non-Profit-Organisation für internationale Forschung und Anwaltschaft zugunsten des Südens und zur Förderung gerechter, gleicher und ökologischer Entwicklung mit Sitz in Penang/Malaysia.