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Eine zweite Chance für die globale Entwicklung

Artikel-Nr.: DE20211024-Art.28.10-2021

Eine zweite Chance für die globale Entwicklung

Neue Dynamik zwischen Staat und Markt


Zweite Chancen sind in dieser Welt nicht alltäglich, aber eine gibt es jetzt. Der Umfang und das Ausmaß der staatlichen Unterstützung für Unternehmen und Arbeitnehmer während der Corona-Krise in den letzten 18 Monaten haben festgefahrene politische Dogmen beiseite geräumt. Dies hat in allen fortgeschrittenen und sich entwickelnden Volkswirtschaften eine politische Dynamik ausgelöst, die das Kräfteverhältnis zwischen Staat und Markt verändert, was wiederum einen neuen Konsens für ein gerechteres und nachhaltigeres Wachstum fördert. Wenn wir auf diesen Impulsen aufbauen, können wir eine Wiederholung der politischen Fehler der letzten Jahrzehnte vermeiden, schreibt Rebeca Grynspan.

Die Corona-Pandemie hat die Reaktionsfähigkeit der Regierungen und die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaftssysteme überall auf die Probe gestellt und das soziale Verhalten und die persönlichen Gewohnheiten in einer zuvor nicht vorstellbaren Weise verändert. Inmitten des Leids gab es auch Anlass zu echter Hoffnung. Das Engagement der Helfer war inspirierend, und die weltweite wissenschaftliche Gemeinschaft hat die Kraft der gemeinsamen Forschung und öffentlicher Gelder genutzt, um in rasantem Tempo sichere und wirksame Impfstoffe gegen Corona zu entwickeln.

● Neue Risiken nach 2021

In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 setzte eine weltweite wirtschaftliche Erholung ein, da die Länder weniger drakonische Wege fanden, um mit den Gesundheitsrisiken der Pandemie umzugehen, und Impfprogramme auflegten. Es wird erwartet, dass das globale Wachstum in diesem Jahr 5,3 % erreichen wird, die höchste Wachstumsrate seit fast einem halben Jahrhundert. Die Aussichten für die Zeit nach 2021 sind jedoch ungewiss, da die Länder über unterschiedliche finanzielle Ressourcen verfügen, neue Varianten des Coronavirus zu erwarten sind und die Impfraten sehr unterschiedlich sind.

Wenn wir nicht aufpassen, könnten diese Herausforderungen - ähnlich wie die Fehlentscheidungen der Regierungen, nach der globalen Finanzkrise 2008 fiskalische Sparprogramme aufzulegen, Dynamik für sinnvolle Veränderungen verlangsamen. Darüber hinaus hat die Pandemie gezeigt, wie unvorbereitet selbst die reichsten Länder auf unerwartete Schocks sind - eine Tatsache, die durch die extremen Wetterereignisse in diesem Jahr unterstrichen wurde - und wie tief die Weltwirtschaft gespalten ist. Eine Rückkehr zum politischen Paradigma von vor der Pandemie, das das schwächste Jahrzehnt des globalen Wachstums seit 1945 zur Folge hatte, wäre eine Katastrophe. Dies gilt vor allem für die Entwicklungsländer, in denen der durch die Pandemie verursachte wirtschaftliche Schaden den durch die globale Finanzkrise vor einem Jahrzehnt verursachten Schaden übertrifft - in einigen Fällen sogar erheblich.

● Auf Binsenweisheiten der freien Marktwirtschaft verzichten

Die weitreichenden wirtschaftlichen Initiativen der neuen US-Regierung könnten, wenn sie durch ähnliche Maßnahmen in anderen Industrieländern ergänzt werden, die Weltwirtschaft wieder auf eine solidere Grundlage stellen. Darüber hinaus deutet die Zusage der USA, die jüngste Zuteilung von Sonderziehungsrechten (SZR) des Internationalen Währungsfonds in Höhe von 650 Mrd. Dollar, einen globalen Mindeststeuersatz für Unternehmen und einen Verzicht auf die Rechte an geistigem Eigentum im Zusammenhang mit COVID-19-Impfstoffen zu unterstützen, auf eine mögliche Erneuerung des Multilateralismus hin. Die bestehenden Asymmetrien in der Weltwirtschaft und die damit verbundenen Wirtschafts- und Umweltkrisen sollten ganz oben auf der multilateralen Agenda stehen.

Fortschritte werden von einer besseren politischen Koordinierung zwischen den großen Volkswirtschaften abhängen, die sich bemühen, die Dynamik des Aufschwungs aufrechtzuerhalten, die Widerstandsfähigkeit gegen künftige Schocks zu stärken und die immer dringlichere Klimakrise zu bewältigen. Eine bessere Koordinierung wird jedoch nicht ausreichen, um den Aufschwung wiederherzustellen. Vor allem die Entwicklungsländer brauchen neue internationale Unterstützung. Viele von ihnen stehen aufgrund der Pandemie vor einer sich zuspitzenden Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit, während sie gleichzeitig mit einer steigenden Schuldenlast zu kämpfen haben und ein verlorenes Jahrzehnt des Wirtschaftswachstums befürchten müssen. Bislang drohen die internationalen Bemühungen zur Linderung der gesundheitlichen und finanziellen Belastungen im globalen Süden zu kurz zu kommen. Aber wir können auf dem aufbauen, was bereits erreicht wurde. Die jüngsten G20-Initiativen zur Verschuldung von Entwicklungsländern können weitreichendere Bemühungen in Gang bringen, um dieses wachsende Problem durch robuste multilaterale Institutionen anzugehen.

Auch die Spende oder Weitergabe ungenutzter SZR durch Länder mit hohem Einkommen, einschließlich eines größeren Teils der jüngsten Zuweisung von 650 Mrd. USD, könnte dazu beitragen, die Bemühungen der Entwicklungsländer hinsichtlich der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele finanziell zu unterstützen. Trotz der jüngsten Rückschläge betonte UN-Generalsekretär António Guterres kürzlich, dass „wir das Wissen, die Wissenschaft, die Technologie und die Ressourcen haben”, um die SDGs wieder auf Kurs zu bringen. „Was wir brauchen, ist Einigkeit in der Zielsetzung, wirksame Führung in allen Bereichen und dringende, ambitionierte Aktionen.” Der US-amerikanische Marshallplan, der Europa nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau ermöglichte, wird zu Recht als Vorbild für derartige Bemühungen angeführt. Was heute jedoch fehlt, ist ein mutiges Leitbild, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht und auf Binsenweisheiten der freien Marktwirtschaft verzichtet wird. Stattdessen müssen gemeinsame globale politische Herausforderungen mit Verbesserungen im Alltagsleben der Menschen verbunden werden, egal ob sie in Bogotá, Berlin, Bamako, Busan oder Boston leben.

● Eine weitere verpasste Gelegenheit?

Das bedeutet, dass mehr Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, die eine sichere Zukunft für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und ihre Familien garantieren. Es bedeutet nicht nur, den fiskalischen Spielraum zu erweitern, sondern auch sicherzustellen, dass die Steuern, die die Menschen zahlen, zu angemessenen öffentlichen Dienstleistungen und sozialem Schutz führen. Neben einer verantwortungsvollen staatlichen Kreditaufnahme sollten die politischen Entscheidungsträger dafür sorgen, dass die Schulden, die die Menschen aufnehmen, um ein Dach über dem Kopf zu haben oder ihre Kinder zur Schule zu schicken, nicht zu einer lebenslangen Belastung werden. Und schließlich müssen die Regierungen nicht nur einen angemessenen Preis für Kohlenstoff festlegen, sondern auch die natürliche Umwelt für künftige Generationen erhalten.

Vor vierzig Jahren forderte der erste Handels- und Entwicklungsbericht der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung ein neues Paradigma, „um der Tatsache ausdrücklich Rechnung zu tragen, dass Fragen des Managements der Weltwirtschaft einerseits und langfristige Entwicklungsziele andererseits miteinander verwoben sind.” Stattdessen haben die politischen Entscheidungsträger seitdem viel zu sehr auf die Marktkräfte vertraut, um diese Verbindung herzustellen. Dieser Ansatz ist gescheitert. Schlimmer noch, in den vergangenen vierzig Jahren haben die Korrosion der öffentlichen Dienstleistungen, die Vereinnahmung des Staates durch Sonderinteressen und die Deregulierung der Arbeitsmärkte das Vertrauen der Bürger in ihre politischen Vertreter erschüttert.

Heute hängt der Aufbau eines besseren Systems von der Entstehung eines neuen politischen Paradigmas ab - dieses Mal, um einen gerechten Übergang zu einer kohlenstofffreien Welt zu ermöglichen. Die entscheidende Frage ist, ob die Regierungen die notwendigen Maßnahmen gemeinsam ergreifen werden. Wenn sie getrennt voneinander handeln, wird sich diese Krise lediglich als eine weitere verpasste Gelegenheit erweisen.

Rebeca Grynspan war Vizepräsidentin von Costa Rica und ist seit kurzem Generalsekretärin der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD). © und dt. Übersetzung: Project Syndicate. Der Artikel erscheint zusätzlich auf weltwirtschaft-und-entwicklung.org