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Politische Transformation jenseits von Rettungspaketen

Artikel-Nr.: DE20211007-Art.26.09-2021

Politische Transformation jenseits von Rettungspaketen

UNCTAD XV in Barbados

Im Zusammenhang mit ihrer XV. Vollversammlung, die alle vier Jahre stattfindet und diesmal vom 3.-7. Oktober in Barbados unter dem Motto „From Inequality and Vulnerability to Prosperity for All” tagte, demonstrierte die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), nicht zuletzt durch eine Anzahl politischer Berichte, wie die kommende Dekade trotz Corona zur Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) genutzt werden könnte. Rainer Falk hat sich die Materialien angesehen.

Den Auftakt machte der Trade and Developement Report (TDR 2021) mit dem Thema „From Recovery to Resilience: The Development Dimension“ (s. Hinweis). In seinem 40. Jahr, so der Bericht, muss die Welt definitiv von dem irrigen Vertrauen in unregulierte Märkte abrücken, denn um der multilateralen Zusammenarbeit neues Leben einzuhauchen, werden politische Transformationen notwendig sein, die über die durch die Covid-19-Pandemie angestoßenen Rettungspakete hinausgehen. Zwar haben die Regierungen der Industrieländer auf den Covid-19-Schock kraftvoll reagiert. Doch die Krise hat zugleich enthüllt, wie fragil und fragmentiert die globale Ökonomie heute ist und wie weit die Politik gehen muss, wenn die Erholung nach der Pandemie der so oft wiederholten Phrase vom „besseren Wiederaufbau“ („built back better“) gerecht werden will.

● Anstieg der Armut im Süden um 12 Billionen Dollar

Ohne politische Unabhängigkeit und Impfstoffe, die für die Industrieländer selbstverständlich sind, sehen sich viele Entwicklungsländer einem Zyklus von Deflation und Verzweiflung sowie einer drohenden verlorenen Dekade gegenüber. Nach UNCTAD werden die Entwicklungsländer wegen der Pandemie bis 2025 rund 12 Billionen Dollar ärmer sein. Allein das Unvermögen, Impfstoffe bereitzustellen, könnte 1,5 Billionen an Einkommen im Süden zunichtemachen.

„Nur ein konzertiertes Überdenken unserer Prioritäten könnte die Hoffnung bringen, um die Ungleichheit und die Klimakrise anzugehen, die unsere Ära inzwischen definieren“, meint die neue Generalsekretärin der UNCTAD, Rebeca Grynspan. Im Januar 1981 hatte der damals neu gewählte US-Präsident seinen Mitbürgern einen „Neubeginn“ versprochen. Befreit von Einmischungen der Regierungen und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Missstände, sollte eine kraftvollere, fairere und produktivere Ökonomie entstehen. Seine Botschaft, dass „Regierung nicht die Lösung für unsere Probleme, sondern das Problem ist“, machte die Runde um die Welt.

UNCTADs erster TDR erschien in diesem Jahr und analysierte seither die Konsequenzen dieser neoliberalen Politik. Viel hat sich geändert, doch die grundlegenden Warnungen dieses ersten Berichts – dass eine unkoordinierte globale Ökonomie zu Schocks und Krisen neigt – gilt heute noch: Gläubiger werden gegenüber Schuldnern bevorzugt; Großproduzenten dominieren die Kleinen; Profite werden auf Kosten der Löhne angehäuft; und die Interessen der Industrieländer haben gegenüber den Entwicklungsländern Vorrang. „In den letzten 40 Jahre waren wir Zeuge des Entstehens einer umfassenden Rentiersökonomie von globaler Reichweite und einer Abhängigkeit von Schulden – öffentlich wie privat“, sagt Richard Kozul-Wright, der Direktor der UNCTAD-Abteilung für Globalisierung und Entwicklung. „Ungleichheit ist zum Merkmal unserer globalisierten Ökonomie geworden; während private konzentrierte Wirtschaftsmacht die öffentliche Autorität untergräbt.“

● Perverser Mix aus mäßigem Wachstum und Finanzmarkt-Boom

Selbst ohne einen weiteren Finanzkrach wird sich die Weltwirtschaft in der verbleibenden Dekade unterdurchschnittlich entwickeln, während die Entwicklungsländer, vor allem in Afrika und Südasien, am stärksten getroffen sein werden. Die Zahlen belegen das sehr deutlich. Das durchschnittliche jährliche Wachstum in der Periode 2023-30 wird in allen Weltregionen unter dem der Periode 2010-19 liegen.

Seit der globalen Finanzkrise haben die Zentralbanken 25 Billionen Dollar in die fortgeschrittenen Ökonomien gepumpt, wodurch letztere de facto zu deren Schutzbefohlenen wurden. Das Ergebnis war im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie eine perverse Mischung aus langsamerem Wachstum und boomenden Finanzmärkten. Obwohl die Regierungen große Fiskalpakete mobilisierten, als die Pandemie zuschlug, werden die boomenden Finanzmärkte die Erholung bedrohen, wenn die Inflationsphobie stärker wird als der Druck zur Unterstützung von Aktivitäten der Realökonomie.

Wenn die fortgeschrittenen Ökonomien wieder anspringen nach den Lockdowns, wird die Krise schnell ihre globale Ausrichtung verlieren, doch dieses Wachstum wird nur den Mangel an Zusammenhalt des multilateralen Systems bloßstellen. Der TDR begrüßt das Abkommen über die Allokation von 650 Mrd. Dollar an Sonderziehungsrechten, das etwas Erleichterung bringen, doch nicht umfangreich genug sein wird, um die Abwärtsspirale in den meisten Entwicklungsländern zu stoppen.

● LDCs am härtesten getroffen

Vor allem die Aussichten für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) sind düster, wie der diesjährige LDC-Report von UNCTAD enthüllt (s. Hinweis). Gefangen in der durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialkrise wiesen die LDCs 2020 ihre schlechteste Wachstumsleistung in drei Jahrzehnten auf. Die Covid-19-Krise hat die institutionellen, wirtschaftlichen und sozialen Versäumnisse in dem von den meisten LDCs verfolgten Entwicklungsweg dramatisch offengelegt, so der Bericht. Die begrenzte Widerstandsfähigkeit der LDCs schlägt sich u.a. in niedrigen Impfraten von nur 2% der Bevölkerung nieder.

Nach UNCTAD ist der Finanzierungsbedarf der LDCs zur Erreichung der SDGs überwältigend, vor allem bei den für die strukturelle Transformation relevanten Zielen. Beispielsweise schätzt der Bericht den durchschnittlichen jährlichen Investitionsbedarf, um das SDG 8.1 zu erreichen, auf 462 Mrd. Dollar, während der jährliche Investitionsbedarf zur Beendigung der extremen Armut in LDCs (SDG 1.1) auf 485 Mrd. Dollar geschätzt wird.

UNCTAD ruft zu mehr Investitionen in staatliche und produktive Kapazitäten in LDCs auf. Die meisten LDCs werden auch dann mehrere Jahre brauchen, um zum dem Niveau des Pro-Kopf-Einkommens von 2019 zurückzukehren. Ein mittelstarkes LDC dürfte dazu rund drei Jahre brauchen, während ein Drittel der 46 LDC fünf Jahre oder mehr brauchen dürfte, um zum Vorkrisenniveau zurückzukehren.

● Neue digitale Abhängigkeiten

In einem dritten Bericht, dem Digital Economy Report 2021 (s. Hinweis), fordert UNCTAD einen neuen Global Governance-Ansatz für die internationale digitale Wirtschaft, um den grenzüberschreitenden Fluss digitaler Daten so frei wie nötig und möglich zu machen. Der neue Ansatz, so der Bericht, solle dazu beitragen, Entwicklungsgewinne zu maximieren, gleich zu verteilen und Risiken und Schäden zu minimieren.

Als besonderes Problem in diesem Zusammenhang verweist UNCTAD auf die großen Datenplattformen, wie Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet (Google), Facebook, Tencent und Alibaba, die in wachsendem Maße in alle Teile der globalen Datenwertschöpfungskette investieren. Dazu gehört die Sammlung von Daten durch Nutzerdienste, die Datenübertragung durch Tiefseekabel und Satelliten, die Datenarchivierung, Datenanalyse, Weiterverarbeitung und Nutzung, z.B. durch künstliche Intelligenz (AI). Die Abhängigkeit der Entwicklungsländer verstärkt sich dadurch immer mehr.

Während der Pandemie wurden Größe, Profite, Marktwert und Dominanzposition der Plattformen weiter gestärkt, da sich die Digitalisierung beschleunigt hat. Dank des privilegierten Zugangs zu Daten, Netzwerk- und Skaleneffekten wurden diese Plattformen zu globalen digitalen Konzernen mit planetarischer Reichweite, enormer finanzieller, Markt- und technologischer Macht sowie Kontrolle über große Datenmengen ihrer Nutzer.

Hinweise:

* UNCTAD: Trade and Development Report 2021: From Recovery to Resilience: The Development Dimension, 40th Anniversary Edition, Report by the secretariat of the United Nations Conference on Trade and Development, 89 pp, Geneva-New York 2021. Bezug: über unctag.org

* UNCTAD: The Least Developed Countries Report 2021: The least developed countries in the post-COVID world: Learning from 50 years of experience, 180 pp, New York 2021. Bezug: über unctad.org

* UNCTAD: Digital Economy Report 2021: Cross-border data flows and development: For whom the data flow, 238 pp, Geneva-New York 2021. Bezug: über unctad.org